Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 41 / XII / 2006

VELIA 2006 - DIE GRABUNGEN AUF DER TERRASSE I

Wie in den letzten Jahren so konzentrierten sich die Arbeiten des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien auch im Jahr 2006 auf die Erforschung der Heiligtümer auf dem zentralen Höhenrücken von Velia [1]. Die Grabungen wurden in enger Absprache mit der Soprintendenza per i Beni Archeologici delle Province di Salerno, Benevento e Avellino und als Teil des von dieser durchgeführten großen Restaurierungsprogrammes in zwei Kampagnen organisiert, wobei die Herbstkampagne gleichzeitig Lehrgrabung des Instituts war [2]. Das Arbeitsgebiet des Jahres 2006 umfaßte die sgn. Terrasse I, den Bereich des Hügelrückens zwischen der Akropolis und der Porta Rosa, dessen mittlerer, sanft nach Westen abfallender Teil vom Heiligtum des Poseidon Asphaleios (Kultplatz 2) eingenommen wurde, während sich am Fuß seines westlichen Abhangs ein weiterer, wesentlich kleinerer Kultplatz befand (Kultplatz 1), dessen bekanntestes Monument ein kleiner Naiskos aus Sandstein ist (Abb. 1).


Dieser Naiskos war bereits 1964 von Mario Napoli aufgefunden worden [3] und stellte zweifelsohne das zentrale Element des Heiligtums dar (Abb. 2). Es handelt sich bei ihm um einen kleinen Schrein mit fast quadratischem Grundriß (0,80 × 0,84 m) und einer Höhe von 0,84 m, der auf einem fast ebenso hohen Sockel steht [4]. Während die Wände des Schreins aus kleinen, rechteckigen Sandsteinblöcken gebildet waren [5], bestand der massive Sockel aus drei Lagen von größeren, bossierten Sandsteinblöcken. Der unterschiedlichen Bauweise des oberen und des unteren Teils entspricht eine horizontale Baufuge und eine leichte Verschiebung des Schreins gegen den Sockel, sodaß nicht auszuschließen ist, daß das Monument in zwei Phasen errichtet wurde und zunächst nur aus dem massiven Sockel bestand.


Die Zweiphasigkeit der Anlage findet Entsprechung im stratigraphischen Befund. Der ersten Phase gehörte neben dem Naiskos oder Sockel noch eine weitere, nordwestlich von ihm gelegene rechteckige Steinsetzung mit den Maßen von 1,76 × 1,88 m an, die zu einem späteren Zeitpunkt von der Verbreiterung der Stadtmauer zerstört wurde. Ihre Interpretation ist daher schwierig; am wahrscheinlichsten scheint eine Deutung als Sockel eines kleinen Sacellums oder als Basis eines Weihgeschenks. Dieser Kultplatz wird durch zwei kleine quadratische Basen [6] sowie eine rechteckige Steinsetzung aus kleinen Kieseln [7] vervollständigt, die im Inneren Holzkohelreste, einen Tierknochen sowie wenige Keramikfragmente enthielt. Sie wurde von fünf schräg gestellten Dachziegeln bedeckt. Nach Osten schließt eine annähernd dreieckige, zwischen 0,30 und 0,50 m höher liegende Terrasse an, die von einer Lage unregelmäßiger kleiner Steine bedeckt war [8]. Unter den Steinen fand sich ein fundreiches lehmiges Stratum mit zahlreichen Dachziegelfragmenten [9].
Das Bauniveau für die Errichtung des Heiligtums war der anstehende Fels, auf den jedoch aufgrund seiner unregelmäßigen Oberfläche eine Ausgleichsschicht aus sandigem Lehm aufgebracht wurde. Sie enthielt zahlreiche Funde, welche die Erbauung des Schreins in die ersten Jahrzehnte des 3. Jhs. v. Chr. und damit in die gleiche Zeit wie die Errichtung der Stadtmauer datieren [10]. Diese Ergebnis war insofern überraschend, als der Schrein bisher in der Regel mit einem in Velia gefundenen spätarchaischen Reliefnaiskos mit einer thronenden Göttin gleichgesetzt und in der Folge mit dem Kult der Göttin Kybele in Verbindung gebracht wurden [11]. Diese Schlußfolgerungen sind angesichts des geänderten Datierungsansatzes und auch in Hinblick auf die neu entdeckten Kultschreine von Kultplatz 4 sicherlich neu zu überdenken [12].
Die Arbeiten im sgn. Heiligtum des Poseidon Asphaleios (Kultplatz 2) hatten das vorrangige Ziel, die genauen Ausmaße des Heiligtums in seiner monumentalen Phase zu klären, einen korrekten steingerechten Grundrißplan zu erstellen und Vorschläge für seine Rekonstruktion zu machen, was durch den schlechten Erhaltungszustand der Anlage nicht einfach war. Wohl aufgrund der großen Nähe zur Akropolis war der Kultplatz 2 offensichtlich ein bevorzugtes Ziel für die Steingewinnung, sodaß von den meisten Hallenmauern keine Steinblöcke, sondern nur die in den Fels eingetieften Rinnen für das Fundament erhalten sind. Da das Heiligtum bereits 1949 und 1971 weitgehend freigelegt worden war und somit kaum ungestörte Kontexte zu erwarten waren, konzentrierten sich die Arbeiten im Herbst 2006 auf eine neuerliche, bis auf den anstehenden Fels reichende Reinigung der Anlage, wobei der Schwerpunkt in der Osthälfte lag, wo in der SO- bzw. der NO-Ecke noch einige wenige nicht von den älteren Grabungen berührte Flächen untersucht werden konnten [13].
Bei Kultplatz 2 handelt es sich um ein Heiligtum, das aus einem großen offenen Platz mit den Maßen von 24 × 13,40 m bestand, der an drei Seiten von Hallen mit vorgelagerten Portiken umgeben wurde. Die Nordhalle war dabei parallel zum Mauerzug A ausgerichtet, während die Orientierung der Südhalle um einige Grad nach Süden abwich, sodaß die Gesamtform des Platzes einem Trapez entsprach [14]. Für seine Anlage wurde der ursprünglich leicht bombierte, von Norden nach Süden bzw. von Osten nach Westen abfallende Hang durch Abarbeiten des Felsen so terrassiert, daß der Hofbereich eben war. In der Ost- und in Teilen der Südhalle wurde der Fels hingegen stehengelassen, sodaß er als Teil der Unterkonstruktion für ein erhöhtes Bodenniveau diente. Nach Westen hin war der Hof offen und bot damit einen freien Blick zum Heiligtum auf der Akropolis, was durchaus als Teil des architektonischen, vielleicht sogar kultischen Konzepts verstanden werden kann. Die Hallen, deren exakte Breite im Süden und Norden aufgrund des Verlusts jeweils einer Längsseite durch Abrutschungen nicht einfach festzustellen ist [15], wurden durch eine Reihe von annähernd quadratischen Steinblöcken in zwei nicht ganz gleiche Teile geteilt, wobei diese Steinblöcke in einer Fundamentgrube standen und daher vermutlich als Basis oder Fundament für Pfeiler oder Säulen anzusehen sind.
An der Ostseite des offenen Hofes fanden sich mehrere, symmetrisch angeordnete Basen mit Einlassungen für Stelen oder Cippen (Abb. 3), unter ihnen auch der bekannte Cippus mit der Weihinschrift für Poseidon Asphaleios [16]. In einem Abstand von etwa 1,50 m westlich von ihnen liegt eine langgestreckte Konstruktion aus abwechselnd Konglomerat- und Sandsteinblöcken, zwischen denen sich jeweils regelmäßige Lücken von rund 0,80 m befinden, die ursprünglich wohl mit kleinerem Steinmaterial sowie Ziegeln in Art der tecnica a scacchiera gefüllt waren. In seinem Inneren findet sich im Süden eine Art Rollierung aus kleineren Sandsteinen und Ziegeln, während im nördlichen Bereich größere Blöcke zu beobachten sind. Dieses Monument wurde von P. Sestieri als Altar angesprochen [17], doch sprechen einige Gründe gegen diese Deutung, sodaß Alternativen überlegt werden müssen.


Unmittelbar östlich der Osthalle des Heiligtums fand sich im Abstand von nur 0,80 m eine weitere Fundamentrinne, die sich von jenen für die Hallenmauern durch ihre auffallende Breite von 2,20 m unterschied. Sie liegt in der Verlängerung einer nordöstlich von ihr liegenden, ebenfalls rund 2,20 m breiten Mauer, von der sich nur die unterste Lage des Fundaments erhalten hat. Diese Mauer setzt direkt an die Kurtine an und ist nach den stratigraphischen Befunden zeitgleich mit dem Heiligtum entstanden; die Bestimmung ihrer Funktion erwies sich als schwierig. Eine - naheliegende - Interpretation als mächtige Terrassierungsmauer wird weder durch die flache Neigung des anschließenden Hangs noch durch ihre Konstruktionsmerkmale gestützt. Auch bei einer Interpretation als Temenosmauer bleibt ihre große Breite schwer verständlich. Ihre Breite würde hingegen jener der Kurtine der Befestigung entsprechen, doch kann die Annahme einer weiteren Stadtmauer an dieser Stelle - etwa in Art eines Diateichismas - auch nicht wirklich überzeugen. Weitere Untersuchungen bleiben hier abzuwarten.
Aufgrund der Lage auf einem Höhenrücken und der fast vollständigen Freilegung des Kultplatzes im Jahr 1949 gestaltet sich die absolutchronologische Datierung der Anlage als schwierig. Da Konglomeratstein in Velia erst in hellenistischer Zeit verwendet wird, ist durch den Einsatz dieses Steinmaterials bereits ein erster Ansatzpunkt gegeben [18]. Die stratigraphische Situation in der Nordost-Ecke läßt vermuten, daß das Heiligtum in dieser monumentalen Form entweder gleichzeitig mit der Stadtmauer oder wenig später errichtet wurde. Wie der Fund einer älteren Mauer im Februar 2004, aber auch zahlreiche Fundamentrinnen in der Osthalle zeigen, die aufgrund ihrer Lage und ihrer Breite zu einer älteren Bebauung gehören müssen, ging diesem hellenistischen Heiligtum eine Vorgängerbebauung voraus, für die die Rekonstruktion von Grundrissen erst nach Abschluß des Gesamtplans möglich sein wird. Es läßt sich daher derzeit nicht sagen, ob diese Reste mit einem älteren Heiligtum, möglicherweise jenem, in welchem die Stelen des Poseidon Asphaleios und der Hera aufgestellt waren, in Verbindung zu bringen sind, oder ob es sich hier um Spuren von Gebäuden mit anderer Funktion handelt, die dann wohl am ehesten als Wohnbauten anzusprechen wären.

[1] Vgl. dazu V. Gassner - A. Sokolicek - M. Trapichler, Velia 2002. Forschungen im Bereich des Castelluccio, Forum Archaeologiae 25/XII/2002; V. Gassner - A. Sokolicek - M. Trapichler, Die hellenistischen Stadtmauern von Elea: Die Ergebnisse der österreichischen Forschungen der Jahre 2000-2002, ÖJh 72, 2003, 67-95; V. Gassner, Velia 2004: Kurzbericht zu den Grabungen am Mauerzug A, Forum Archaeologiae 34/III/2005; V. Gassner, Velia 2005 - das Heiligtum der Naiskoi, Forum Archaeologiae 37/XII/2005; V. Gassner, Elea/Velia, Terrasse I: Die spätarchaische Wohnbebauung und das sogenannte Heiligtum des Poseidon Asphaleios, ÖJh 74, 2005 (2006) 39-71; V. Gassner, Das Heiligtum der Naiskoi, in: P. Amann - M. Pedrazzi - H. Taeuber (Hrsg.), Italo - Tusco - Romana. Festschrift für Luciana Aigner-Foresti (2006) 233-244; V. Gassner, Doni votivi nei santuari di Elea: cippi, naiskoi e il loro contesto, in: G. Greco (Hrsg.), Doni agli dei. Il sistema dei doni votivi nei santuari. Seminario di studi Napoli 21 aprile 2006 (in Druck).
[2] Die Frühjahrskampagne dauerte vom 24.4.-12.6.2006, die Herbstkampagne vom 27.8.-30.9.2006. MitarbeiterInnen waren Mag. Dieta Svoboda im Bereich Grabung und Dokumentation, Mechthild Ladurner für die Fundaufnahme, Luigi De Turris (Lecce) für die Restaurierung, Dr. Gert und Christof Augustin (Innsbruck) für die Vermessung und die Luftphotos. Als studentische Hilfskräfte fungierten Johanna Eisterer, Nicole High, Johanna Köck, Agnes Nordmayer, Elke Profant, Stefanie Rabensteiner, Lena Ratschl, Andrea Sommer, Alexandra van Miller, Markus Waisenhorn sowie Andreas Gassner als Praktikant. Die Finanzierung erfolgte durch die Universität Wien, den FWF (Projekt Nr. 18682-G02) sowie die Soprintendenza per i Beni Archeologici delle Province di Salerno, Benevento e Avellino, welche die Arbeiterkosten übernahm. Für die wie immer freundschaftliche und hilfsbereite Zusammenarbeit ist der Soprintendentin Dr. Giuliana Tocco-Sciarelli sowie der Verantwortlichen vor Ort, Dr. Antonella Fiammenghi, und ihren MitarbeiterInnen ganz besonders zu danken.
[3] P. Ebner, Divinità e templi di Velia, Apollo. Bolletino dei Musei Provinciali del Salernitano III-IV, 1963-1964, 93-116= P. Ebner, Studi sul Cilento I (Acciaroli 1996) 136 e fig. 17; M. Napoli, La documentazione archeologica in Campania, Atti Taranto IV, Taranto - Reggio Calabria 11-16 ottobre 1964 (1965), 111-120.
[4] Gesamthöhe: 1,56 m.
[5] Maße der Blöcke: 0,18 x 0,46 x 0,16 m.
[6] Der Terminus "Basis" beschreibt mehr die Form als die Funktion dieser Objekte. Für eine Funktion als Basis könnte die Einlassung in der Oberfläche der Basis 208/06 sprechen, während die Spuren von Feuer eine Verwendung als Unterlage für die Verbrennung von Opfern nahelegen könnten.
[7] Maße 0,60 x 0,38 m.
[8] Maße etwa 7 x 7 x 5 m.
[9] Zu dieser Terrasse vgl. ausführlicher V. Gassner a.O. (in Druck) sowie zur Problematik allgemein M. Cipriani, S. Nicola di Albanella. Scavo di un santuario campestre nel territorio di Poseidonia-Paestum. Corpus delle stipi votive in Italia IV (1989), 22-24; P. R. Tuteri, Doni votivi e riti femminili tra i Peligni di Sulmo, in: A. Comella - S. Mele (edd.) Depositi votivi e culti dell'Italia antica dall'età arcaica a quella tardo-repubblicana. Atti del Convegno di Studi Perugia, 1-4 giugno 2000 (2005) 403.
[10] Glanztonware mit Schalen der Form Morel 2730 sowie graeco-italische Amphoren.
[11] G. Tocco Sciarelli, I culti di Velia. Scoperte recenti, in: A. Hermary - H. Tréziny, Les Cultes des cités phocéennes. Actes du colloque international organisé par le Centre Camille-Jullien, Aix-en-Provence / Marseille 4-5 juin 1999, Études Massaliètes 6, Aix-en-Provence, 2000, 51-58; J. de La Genière, La Megale Meter a Velia? in: G. Greco (Hrsg.) Elea - Velia. Le nuove ricerche. Atti del Convegno di Studi, Napoli 14 dicembre 2001, Quaderni del Centro Studi Magna Grecia 1 (Pozzuoli 2003) 63-68; G. Greco, Una Cibele attica a Velia, in: B. Brandt - V. Gassner - S. Ladstätter (Hrsg.), Synergia. Festschrift für Friedrich Krinzinger (Wien 2005) 56; G. Greco, Strutture e materiali del sacro ad Elea-Velia, Atti del XLV CSMG, Taranto 21-25 settembre 2005 (Taranto 2006) 323-324 ; zur Problematik dieser Zuschreibung vgl. zuletzt V. Gassner, Das Heiligtum der Naiskoi, in: P. Amann - M. Pedrazzi - H. Taeuber (Hrsg.), Italo - Tusco - Romana. Festschrift für Luciana Aigner-Foresti (2006) 233-244.
[12] Zu Kultplatz 4 vgl. V. Gassner, Velia 2005 - das Heiligtum der Naiskoi, Forum Archaeologiae 37/XII/2005 sowie Gassner a.O. (Anm. 11).
[13] Zur Forschungsgeschichte allgemein vgl. L. Vecchio, Le iscrizioni greche di Velia, Velia-Studien 3. Archäologische Forschungen 10 (2003) 50-53 sowie V. Gassner, Elea/Velia, Terrasse I: Die spätarchaische Wohnbebauung und das sogenannte Heiligtum des Poseidon Asphaleios, ÖJh 74, 2005 (2006) 39-71.
[14] Die Südhalle nimmt dabei interessanterweise die Richtung des westlichen Teils des Mauerzugs A im Bereich von Kultplatz 1 auf, ohne daß dieses Phänomen derzeit erklärt werden kann.
[15] Die ursprüngliche Annahme von 6,30 m lichter Weite (Gassner a.O, Anm. 13) scheint nach den Ergebnissen der heurigen Kampagne zu korregieren zu sein. Exakte Daten können erst nach der Auswertung des Plans, die derzeit noch in Gang ist, gegeben werden.
[16] Vecchio a.O. (Anm. 13).
[17] P. C. Sestieri, Velia, FA 4, 1949, 191-193, Nr. 1861.
[18] Zur Verwendung des Steinmaterials vgl. V. Gassner - A. Sokolicek - M. Trapichler, Die hellenistischen Stadtmauern von Elea: Die Ergebnisse der österreichischen Forschungen der Jahre 2000-2002, ÖJh 72, 2003, 67-95.

© Verena Gassner
e-mail: verena.gassner@univie.ac.at

This article should be cited like this: V. Gassner, Velia 2006 - die Grabungen auf der Terrasse I, Forum Archaeologiae 41/XII/2006 (http://farch.net).



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