Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 37 / XII / 2005

VELIA 2005 - DAS HEILIGTUM DER NAISKOI

Die archäologischen Untersuchungen des Mauerzugs A auf dem Höhenrücken von Velia, die in den letzten Jahren vom Institut für Klassische Archäologie der Universität Wien als Vorbereitung eines umfassenden Restaurierungsprojektes der Soprintendenza per i Beni Archeologici delle Province di Salerno, Benevento e Avellino durchgeführt wurden, haben nicht nur Aufschluß über die Entwicklung und Baugeschichte der Befestigungsanlagen der Stadt gebracht, sondern auch unsere Kenntnisse der an diesem Mauerzug positionierten Heiligtümer entscheidend erweitert [1] (Abb. 1). Die Heiligtümer von Velia zählen bis heute überraschenderweise zu den großen Unbekannten der Stadt. Neben dem Hauptheiligtum auf der Akropolis fanden vor allem die an verschiedenen Stellen des Höhenrückens gefundenen Cippen mit Inschriften Beachtung [2]. Sie nennen verschiedene Gottheiten, wie Poseidon Asphaleios oder Zeus Ourios, und machen deutlich, daß der Mauerzug A von einer Reihe von Heiligtümern begleitet wurde, bei denen es sich in der Regel um offene Kultbezirke handelte, in welchen Altäre und Stelen aufgestellt waren; Kultbauten in Form von Tempeln finden sich hingegen nur in Ausnahmefällen.


Im Jahr 2005 wurden unmittelbar östlich des Turmes A 7 die Reste eines weiteren, bis dahin unbekannten Heiligtums gefunden. Die untersuchte Grabungsfläche umfaßte etwa 22 × 6 m und wurde im Westen durch eine Temenosmauer begrenzt; die präzise Ausdehnung nach Süden und Osten ist unklar. Nach dem Entfernen der Grasnarbe und einer Reihe von Steinen und Steinsetzungen, die zur späteren Organisation des Platzes gehörten, zeigten sich die Reste von insgesamt zehn kleinen Naiskoi in unterschiedlichem Erhaltungszustand (Abb. 2). Sie gehören zwei vermutlich rasch aufeinanderfolgenden Phasen an.


In der ersten Phase wurden direkt auf dem anstehenden Felsen beziehungsweise einer unmittelbar darüberliegenden graugrünen Lehmschicht mehrere Naiskoi mit einer durchschnittlichen Größe von rund 0,90 × 0,60/0,80 m errichtet. Sie wurden aus kleinteiligen, teilweise zweireihig verlegten Sandsteinen unter Einbeziehung von vereinzelten Fragmenten von gebrannten Ziegeln gebaut und öffnen sich alle mit einer schmalen, dezentral plazierten Öffnung nach Osten. In ihrem Inneren fanden sich Reste von Terrakotten sowie zahlreiche Miniaturgefäße (Abb. 3) [3]. Ebenfalls dieser Phase zuzuweisen, aufgrund seiner Bauweise aber von den anderen zu unterscheiden ist der in der Nordwest-Ecke gelegene Naiskos US 103/05, der aus kleinen Quadern aus gelblichem Sandstein errichtet wurde, die sich im Norden und Westen zweilagig, im Süden einlagig erhalten haben (Abb. 4). Die nach Osten orientierte Öffnung wurde nach der Aufgabe des Kultplatzes gleichsam rituell durch einen Dachziegel und zwei große Sandsteine verschlossen. In seinem Inneren fanden sich neben einem Opfer aus fünf kleinen Bronzemünzen die Reste einer nur mehr im Abdruck erkennbaren Statuette, die vermutlich eine thronende Göttin darstellte, sowie einige Miniaturgefäßen. Dieser Naiskos dürfte als einziger auch in der folgenden Phase weiterbestanden haben, während die anderen aufgegeben und zum Teil durch spätere überbaut wurden. In der zweiten Phase neu errichtet wurde ein Schrein aus Flyschsteinen (Abb. 2, links im Vordergrund) sowie ein aus gebrannten Ziegeln erbauter Naiskos (Abb. 2). Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Bauweise entsprechen sie den früheren Beispielen in Größe, Ausrichtung und in der Kultpraxis, denn auch in ihnen fand sich das gleiche Repertoire an Terrakottastatuetten und Miniaturgefäßen.


Die Datierung des Heiligtums gestaltet sich angesichts der Tatsache, daß das Fundmaterial noch nicht bearbeitet ist, schwierig. Die Kurtine, die als nördliche Begrenzung der Anlage diente, gibt mit dem Umbau der Periode 2 um 400 v.Chr. einen terminus post quem; die erste Durchsicht der Funde läßt eine Lebenszeit des Heiligtums während des 4. Jhs. v.Chr., möglicherweise in seiner zweiten Hälfte, als wahrscheinlich erscheinen. Da eindeutig hellenistische Funde fehlen, ist mit einem Ende des Kultbetriebs zu Beginn des 3. Jhs. v.Chr. zu rechnen. Diese Beobachtung findet Parallelen in der Entwicklung vieler anderer Heiligtümer im Hinterland von Velia und wird häufig mit dem Vordringen Roms nach Großgriechenland in Verbindung gebracht [4]. Ob dies auch für Velia Gültigkeit hat, wird erst zu überprüfen sein.
Bis jetzt kennen wir vom Kultplatz der Naiskoi keine epigraphischen Weihungen, sodaß die Zuweisung an eine bestimmte Gottheit nicht einfach ist. Der Typus des Naiskos ist in Velia allerdings bereits durch zwei Beispiele belegt. Bei dem einen handelt es sich um einen spätarchaischen Reliefnaiskos mit der Darstellung einer thronenden Göttin, dessen genauer Fundort im Stadtgebiet unbekannt ist [5]. Dieser ikonographische Typus wird mit der Göttin Kybele in Verbindung gebracht, wobei die unkritische Zuweisung aller Stelen an diese Gottheit in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen in Zweifel gezogen wurde [6]. Ein weiterer Naiskos am westlichen Ende des Mauerzugs A (Abschnitt A0, Abb. 5) entspricht in der Art der Steintechnik weitgehend dem Sandsteinnaiskos US 103/05, weist aber anders als dieser eine in Art von Anten geöffnete Frontseite auf. Es erscheint daher fraglich, ob die beschriebenen Kultbauten - der möglicherweise der Kybele geweihte Reliefnaiskos und die Schreine des Kultplatzes 4 - als idente Phänomene angesehen werden können, da beim einen die Präsentation und Behausung des Kultbilds, bei den anderen ihre Funktion als Behältnis für Weihgeschenke im Vordergrund stand.
In den konstruktiven Details sowie in der Funktion als Behälter von Opfergaben, aber auch in der Auswahl derselben und in der Art ihrer Deponierung entsprechen die Schreine des Kultplatzes 4 überraschend gut ähnlichen Bauten in Heiligtümern des lukanischen Hinterlandes. An erster Stelle ist hier der kleine Naiskos aus Roccagloriosa anzuführen, der im Hof eines herrschaftlichen Wohngebäudes, des sogenannten Komplexes A, stand und den die Ausgräber mit einem gentilizischen Kult in Verbindung bringen [7]. Ähnlichkeiten finden sich aber auch mit dem berühmten Marmormodell des Naiskos von Garaguso, das gemeinsam mit einer Marmorstatuette einer thronenden Göttin im Kontext eines Heiligtums gefunden wurde, oder mit Schreinen größerer Dimension wie etwa jenem des kantonalen Heiligtums von Armento-Serra Lustrante im Agri-Tal [8]. Die Bedeutung dieser Ähnlichkeiten für Religion und Kult in Velia, aber auch darüber hinaus für die kulturelle Identität der Stadt im 4. und 3. Jh. v.Chr. im Allgemeinen wird noch zu diskutieren sein.

[1] Zum Parco Archeologico vgl. G. Tocco Sciarelli, La realizzazione del Parco Archologico: strategia di ricerca e valorizzazione, in: G. Greco (Hrsg.), Elea-Velia. Le nuove ricerche. Atti del Convegno di Studi Napoli 14 dicembre 2001. Quaderni del Centro Studi Magna Grecia 1 (2003) 15-19; zu den Arbeiten am Mauerzug A vgl. V. Gassner - A. Sokolicek - M. Trapichler, Velia 2002. Forschungen im Bereich des Castelluccio. Forum Archaeologiae 25/XII/2002; V. Gassner - A. Sokolicek - M. Trapichler, Die hellenistischen Stadtmauern von Elea: Die Ergebnisse der österreichischen Forschungen der Jahre 2000-2002, ÖJh 72, 2003, 67-95; V. Gassner, Velia 2004: Kurzbericht zu den Grabungen am Mauerzug A, Forum Archaeologiae 34/III/2005.
[2] Zum Tempel auf der Akropolis vgl. zuletzt G. Tocco Sciarelli, Il culto di Hera ad Elea, in: J. de la Genière (Hrsg.), Héra. Images, espaces, cultes. Actes du Colloque International du Centre de Recherche Archéologiques de l'Université de Lille III et de l'Association P.R.A.C. Lille, 29-30 novembre 1993 (1997) 231-234; G. Tocco Sciarelli, Aspetti del culto in età arcaica ad Elea, in: F. Krinzinger (Hrsg.), Die Ägäis und das westliche Mittelmeer. Beziehungen und Wechselwirkungen 8. bis 5. Jh. v. Chr., Akten des Symposions, Wien 1999, Archäologische Forschungen 4 (2000) 185-191; zum Problem der Datierung vgl. besonders D. Mertens, Per l'urbanistica e l'architettura della Magna Grecia, Atti XXI CSMG,Taranto 1981 (1982) 117-126, Taf. X o; B. A. Barletta, The Campanian tradition in archaic architecture, MAAR 41, 1996, 64-67; F. Krinzinger, Die Monumentalisierung der Akropolis und die urbanistische Entwicklung von Velia, in: F. Krinzinger - G. Tocco (Hrsg.), Neue Forschungen in Velia. Velia-Studien I. Archäologische Forschungen 2 (1999) 23-34, besonders 31. Zu den Kultplätzen zusammenfassend G. Tocco Sciarelli, I culti di Velia. Scoperte recenti, in: A. Hermary - H. Tréziny (Hrsg.), Les Cultes des cités phocéennes. Actes du colloque international organisé par le Centre Camille-Jullien, Aix-en-Provence / Marseille 4-5 juin 1999, Études Massaliètes 6 (2000) 51-58; J. P. Morel, Observations sur les cultes de Velia, ebenda 33-49.
[3] Alle Funde konnten noch nicht gereinigt und dokumentiert werden; Aussagen zu ihnen haben daher nur vorläufigen Charakter.
[4] Z. B. M. Barra Bagnasco - A. Russo Tagliente, I culti, in: S. Bianco et al. (Hrsg.), Greci, Enotri e Lucani nella Basilicata meridionale (1996) 184.
[5] Vgl. zuletzt A. Potrandolfo, Velia, in: S. De Caro - M. Borriello (Hrsg.), La Magna Grecia nelle collezioni del Museo Archeologico di Napoli (1996) 40-41¸ J. de La Genière, La Megale Meter a Velia? in: G. Greco (Hrsg.), Elea - Velia. Le nuove ricerche. Atti del Convegno di Studi, Napoli 14 dicembre 2001, Quaderni del Centro Studi Magna Grecia 1, (2003) 63-68.
[6] Vgl. allgemein F. Naumann, Die Ikonographie der Kybele in der phrygischen und der griechischen Kunst. AM Beiheft 28 (1983). Ergänzungen mit Neufunden sowie einer umfassenden Bibliographie der jüngeren Literatur bietet L. E. Roller, In search of God the Mother. The cult of Anatolian Cybele (1999) besonders 125 ff. und E. Vikela , Bemerkungen zu Ikonographie und Bildtypologie der Meter-Kybelereliefs: Vom phrygischen Vorbild zur griechischen Eigenständigkeit, AM 116, 2001, 67-123.
Kritisch dazu A. Hermary, De la Mère des Dieux à Cybèle et Artémis: les ambiguïtés de l'iconographie grecque archaïque, in: Agaqoj daimwn. Mythes et Cultes. ètudes d'Iconographie en l'honneur de Lilly Kahil, Suppl. BCH 38 (2000) 193-203 und A. Hermary, Les naiskoi votifs de Marseille, in: A. Hermary - H. Tréziny (Hrsg.), Les Cultes des cités phocéennes. Actes du colloque international organisé par le Centre Camille-Jullien, Aix-en-Provence / Marseille 4-5 juin 1999, Études Massaliètes 6 (2000) 119-133.
[7] M. Gualtieri - H. Fracchia, Roccagloriosa I. L'abitato. Scavo e ricognizione topografica (1990) 63ff.
[8] Garaguso: M. Sestieri Bertarelli, Il tempietto e la stipe votiva di Garaguso, AttiMemSoc Magna Grecia N. S. 2, 1958, 67-78. Serra Lustrante: A. Russo Tagliente, Armento. Archeologia di un centro indigeno, BA 35-36, 1995 (2000).

© Verena Gassner
e-mail: verena.gassner@univie.ac.at

This article should be cited like this: V. Gassner, Velia 2005-das Heiligtum der Naiskoi, Forum Archaeologiae 37/XII/2005 (http://farch.net).



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