Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 27 / VI / 2003

ZUM PHÄNOMEN DES DIATEICHISMA IM GRIECHISCHEN STÄDTEBAU [1]

Themenwahl und Definition des Begriffs

Wie nur wenige andere öffentliche Siedlungsbauten treten Stadtmauern mit der Ereignisgeschichte in unmittelbare Wechselwirkung. Die komplexen Zusammenhänge zwischen Angriffswaffen und Verteidigungsbauten wurden schon früh erkannt [2] und betreffen nicht nur einzelne Ereignisse von militärhistorischer Bedeutung [3]; vielmehr nimmt Wehrarchitektur auf die Organisation des Lebensraumes innerhalb der Stadtmauern sowie auch auf die Lebensweise der Einwohner Einfluß, indem durch den Bau von Stadtmauern Siedlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt werden [4]. Aufgrund des logistischen und materiellen Aufwandes bedeutete der Bau von Stadtmauern eine große Anstrengung für den Demos [5], der in Folge auch durch die laufenden Kosten bei der Bemannung und Instandhaltung belastet wurde [6]; sie tragen aber auch zur Entwicklung des Selbstbildes einer Stadt und seiner Bewohner bei [7]. ‚Stadtmauern' beschränken ihre Funktion nicht auf die manifeste und wehrhafte Grenzziehung des städtischen Siedlungsraumes zur Außenwelt, sondern auch der Siedlungsraum selbst kann einer Gliederung durch Verteidigungsmauern unterliegen. Solche trennenden Mauern werden seit Thukydides [8] Diateichismata genannt.
Diateichisma bedeutet im wörtlichen Sinn "Zwischenmauer" oder "Quermauer" [9]; in der Tat ist aber die Bedeutungsvielfalt des Wortes größer. In den antiken Schriftquellen ist der Begriff nicht sehr häufig belegt [10] und findet sich hauptsächlich im Kontext kriegerischer Handlungen [11], aus denen ersichtlich wird, dass mit "Diateichisma" sowohl Mauern bezeichnet werden, die das Areal einer Stadt teilen, als auch Mauern, die Landschaften gliedern [12].
Eine Übertragung des Begriffs Diateichisma ins Deutsche, der sämtliche Bedeutungsebenen beinhalten soll, ist in der Tat schwierig. Die wörtlichen Übersetzungsvarianten "Quermauer" oder "Zwischenmauer" treffen zwar auf das äußere Erscheinungsbild zu, nicht jedoch auf die Vielfalt der Funktionen, die Diateichismata übernehmen können. Der Begriff erlaubt es, unter Diateichisma a) eine Zwischenmauer innerhalb einer ummauerten Stadt, b) das durch eine Mauer abgegrenzte Gebiet innerhalb einer Stadt oder c) eine Mauer außerhalb einer Stadt zwischen zwei Gebieten oder Plätzen zu verstehen [13].
Beide Varianten von Zwischenmauern innerhalb und außerhalb von Siedlungsgemeinschaften sind nicht nur aus der schriftlichen Überlieferung bekannt, sondern auch archäologisch gut nachzuweisen [14].

Ziel

Mit dieser Arbeit sollte zum einen die Definition des antiken Begriffs bestimmt werden, zum anderen eine Sammlung jener Städte vorgelegt werden [15], aus deren archäologischer und / oder literarischer Evidenz die Existenz eines Diateichisma hervorgeht. Diese Zeugnisse sollen der eigentliche Ausgangspunkt dafür sein, die vielfältigen Dimensionen der Diateichismata in Bezug auf den Städtebau und die Verteidigungspraxis zu formulieren und die möglichen Motive zu diskutieren, die zur Entstehung ‚geteilter Städte' führten.
Nicht bei allen Siedlungen ist der Kenntnisstand ihrer Geschichte sowie der materiellen Hinterlassenschaft ausreichend, um die historischen Motive analysieren zu können, die man als Anlass für die Errichtung eines Diateichisma interpretieren könnte. Deshalb wurden nur Siedlungen detaillierter diskutiert, über die ein ausreichender Einblick in ihre Geschichte sowie ihrer archäologisch nachweisbaren Evidenz vorhanden ist. Aus der griechischen Welt und ihrer direkten Einflußssphären sollten möglichst viele geeignete Beispiele herangezogen werden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Es ging hier auch nicht vordergründig um die Definition und Illustration eines antiken terminus technicus, sondern - von der Evidenz geteilter Städte und den in der Antike angestellten Reflexionen ausgehend [16] - einen Teilbereich der Raumplanung zu erörtern: das Thema der Arbeit betrifft also v.a. die Ursachen, die zum Bau eines Diateichisma führten und die Frage, in welchen Bereichen sich die geteilten Siedlungsflächen unterscheiden. In diesem Sinne war auch die Problematik einer ‚hierarchischen' Siedlungsraumgliederung zu diskutieren, da ja jene Bezirke hinter dem Diateichisma am besten geschützt, und damit offenbar am ‚wertvollsten' waren.

Archäologische Evidenz

Ausgehend von den Voruntersuchungen zur Verwendung des antiken Begriffs gilt es, dieses Phänomen an den archäologischen Evidenzen zu überprüfen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bei schlechtem Erhaltungszustand zwischen einfachen Terrassenmauern und Diateichismata kaum unterschieden werden kann [17] und diese unklaren Fälle nicht herangezogen wurden, konnten insgesamt 61 Siedlungen erfasst werden, deren Stadtgebiet durch ein oder mehrere Diateichismata geteilt wurde [18].
Aus dieser Sammlung geht aber trotz der in Kauf genommenen Unvollständigkeit klar hervor, dass Diateichismata in den meisten Fällen die gleiche Mächtigkeit und Wehrhaftigkeit besitzen wie der äußere Befestigungsring und sowohl durch bebautes als auch unbebautes Stadtgebiet verlaufen können [19]. Türme, die mit der Mauer verbunden sind, bilden oft ebenso einen wesentlichen Bestandteil eines Diateichisma wie befestigte und verschließbare Tore. Einige wenige Siedlungen weisen sogar mehrere Diateichismata auf, sodass das Siedlungsgebiet in bis zu vier ummauerte Bezirke unterteilt wird [20].
Die Detailuntersuchungen an Siedlungen zeigten, dass auch die zeitliche Relation zwischen der Errichtung der Umfassungsmauer und des Diateichisma nicht immer gleich ist. Hierbei sind drei Relationen relevant: 1) Das Diateichisma ist gleichzeitig mit der Umfassungsmauer errichtet worden; 2) das Diateichisma wurde erst nachträglich eingebaut; 3) durch Stadterweiterung wurde neues Territorium ummauert und in das Stadtgebiet integriert, wobei der alte Mauerring zwischen Alt- und Neustadt bestehen blieb [21].
Aufgrund dieser relativchronologischen Unterscheidung der Diateichismata kann die Gesamtzahl der Siedlungen in drei Gruppen unterteilt werden, die für die Interpretation dieses Phänomens den wesentlichen Ausgangspunkt bilden.
In einem weiteren Schritt wird innerhalb der einzelnen Gruppen nach den möglichen Motiven gesucht, wobei folgende, grundsätzliche Überlegungen formuliert werden können: Siedlungen, deren Diateichisma zu einem der beiden letzten Relationen zuzurechnen ist, können auf Perioden des Wachstums (Gruppe 3) oder der Verkleinerung (Gruppe 2) hinweisen, wobei aber zu bedenken ist, dass nachträglich eingezogene Diateichismata nicht a priori Maßnahmen der Siedlungsraumverkleinerung sein müssen [22], sondern dass in manchen Fällen auch nach der Trennung beide Siedlungsteile genutzt wurden [23]. Die Ursachen bzw. Gründe, ein Stadtgebiet gleichzeitig mit der Umfassungsmauer durch ein Diateichisma zu unterteilen, können natürlich nicht mit Vergrößerungen oder Verkleinerungen in Zusammenhang gebracht werden, sondern sind in den Einzelfällen sehr unterschiedlich motiviert [24]. Auffallend ist bei den Siedlungen dieser Gruppe, dass etliche in (kultur-) geographischen Grenzgebieten liegen wie etwa die boiotischen Siedlungen Siphai und Chorsiai an der Grenze zu Attika oder Velia und Kaulonia im großgriechischen Kolonialbereich.
Unabhängig von der zeitlichen Relation zwischen Diateichisma und Umfassungsmauer sowie dem ursprünglichen Anlass der Errichtung (Siedlungsraumvergrößerung oder -verkleinerung; Sicherung besonders wichtiger Bezirke) ist ein Diateichisma prinzipiell eine Verstärkung der Verteidigungsanlagen. Für die Stadt selbst aber bedeutet der Bau eines Diateichisma einen massiven Eingriff in ihre Raumordnung. Eine Mauer, die durch besiedeltes Stadtgebiet verläuft, behindert unabhängig von der Motivation ihres Baus zumindest den täglichen Verkehr in der Stadt, da ja nur an wenigen bestimmten Punkten der Durchgang von einem in das andere Stadtviertel erfolgen kann. Die einzigen Kommunikationspunkte zwischen den durch die Diateichismata geteilten Stadtviertel bestehen aus den Toren und Pforten in der Mauer [25]. In einigen Fällen trennt ein Diateichisma auch unbewohnte Stadtteile von den bewohnten. Die Einziehung eines Diateichisma mit Ausschluss der unbesiedelten Fläche vom besiedelten Areal bedeutet im Prinzip die Verkürzung des Verteidigungsgürtels. Diese Maßnahmen wurden öfters dann getroffen, wenn der Mauerring der Stadt im Verhältnis zur Stadtbevölkerung zu groß dimensioniert war und man deshalb die Stadtmauern nicht mehr mit einer ausreichenden Anzahl von Soldaten besetzen konnte [26]. Gerade bei diesen Städten ist die Klärung der zeitlichen Relation zwischen Mauerring und Diateichisma von elementarem Interesse, sodass auch der Zeitpunkt eines eventuellen Bevölkerungsrückganges über dieses äußere Zeichen beurteilt werden könnte.

[1] Der vorliegende Text ist eine Kurzfassung der Dissertation des Verf.: A. Sokolicek, Diateichisma: Zum Phänomen innerer Stadtmauern im griechischen Städtebau (unpubl. Diss. Wien 2003), im folgenden: Sokolicek 2003.
[2] Vgl. L. Karlsson, Building Techniques in the Hegemony of Syracuse 407 - 211 BC (1992) 1 mit älterer Literatur.
[3] Vgl. etwa Erfindungen wie die des Torsiongeschützes durch die Ingenieure Dionysios' I im Jahre 400 v. Chr. (Diod. 14,42,1); zum Zusammenhang v.a. zwischen Turmbauten und der Entwicklung von Angriffs- und Verteidigungswaffen s. J. Ober, Towards a typology of Greek artillery towers. The first and second generations, c. 375-275 B.C., in: A. De Maele (Hrsg.), Fortifications Antiquae (1992) 175 ff.
[4] Vgl. z.B. die Militärbauten in Demetrias: A.W. Lawrence, Greek Aims in Fortification (1979) 122. 169. 216 ff. 223 ff. 288. 466 f.; P. Marzolff, Demetrias I (1976); P. Marzolff, Das frühchristliche Demetrias, in: Actes Xe Congrès International d'Archéologie Chrétienne, Thessaloniki 1980 (1984) 293 ff.
[5] s. die Quellen bei F.G. Maier, Griechische Mauerbauinschriften I (1959) und II (1961). Als kostspielige und aufwändige Bauwerke dienen Stadtmauern aber nicht nur dem Schutz der Stadt, sie sind auch prunkvolle Gebärde ihres Reichtums und ihrer Macht (Aristot. pol. 1331b) und definieren die Grenzen zwischen Stadt und Land. s. F. Lang, Archaische Siedlungen in Griechenland (1996) 21 über die militärische und nichtmilitärische (v.a. repräsentative) Bedeutung von Stadtmauern und zuletzt F. Lang, Stadt und Umland. Ein komplementäres System, DiskAB 7 (1999) 1 ff. Stadtmauern bestimmen auch die Grenzen zwischen der Ordnung der Siedlungskultur und dem Chaos der Natur; vgl. dazu zuletzt v.a. T. Hölscher, Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten² (1998).
[6] Vgl. etwa den Beschluß zum Wiederaufbau der Stadtmauern Athens im Jahre 307/6 (IG II² 463), s. F.G. Maier, Griechische Mauerbauinschriften I (1959) 59 ff. oder das Epidosisdekret aus Troizen (IG IV 757; 146 v. Chr.) für den Bau eines Diateichisma, das zur Enteignung Privater führte, s. Maier a.O., 139 ff. S. auch F.G. Maier, Inschriften und Festungsbau, in: H. Tréziny - P. Leriche (Hrsgg.), La fortification dans l'histoire du monde grec, Colloque Valbonne 1982 (1986) 331 ff; A. McNicoll, Developments in techniques of siegecraft and fortification in the Greek world ca. 400-100 B.C., in: Tréziny - Leriche a. O. 305 ff.
[7] Vgl. F. Lang, Archaische Siedlungen in Griechenland (1996) 20 ff.; Hölscher a.O. 67 f. Zur Frage, wie weit Stadtmauern eine Rolle bei der Konstituierung einer polis spielen, s. I. Morris, The Early Polis as City and State, in: J. Rich - A. Wallace-Hadrill, City and Country in the Ancient World (1991) 39 f.; P. Ducrey, La muraille est-elle un élément constitutif d'une cité?, in: M.H. Hansen (Hrsg.), Acts of the Copenhagen Polis Centre 2, 1995, 253 ff.; Hölscher a.O. 67 ff.; F.A. Cooper, The Fortification of Epaminondas, in: J.D. Tracy (Hrsg.), City Walls. The Urban Enceinte in Global Perspective (2000) 156.
[8] Thuk. 7,60. Zur genaueren Eingrenzung der Wortbedeutung s. Sokolicek 2003 Kapitel 1.1: Definition; Kapitel 1.3: Quellen; Anhang: Testimonia.
[9] Vgl. H. Lauter, Hellenistische Architektur (1986) 72.
[10] s. Sokolicek 2003, Anhang Testimonia.
[11] Liddell-Scott-Jones führen "place, walled off and fortified", "cross-wall" und "wall between two places" als Übersetzungen an: Liddell-Scott-Jones, Lexicon of Classical Greek (1966) s.v. diateichisma. Der in den antiken Quellen seltener verwendete Begriff des diateichismos bezeichnet den Vorgang des Mauerbaus, das "walling off": Liddell-Scott-Jones, Lexicon of Classical Greek Suppl. s.v. diateichismos (corrections); s. etwa Thukydides 3,34 und Diodor; IG II² 463. S. Sokolicek 2003, Kapitel 1.3 Quellen und Anhang Testimonia.
[12] Zu den einzelnen Belegen s. Sokolicek 2003 Kapitel 1.3.
[13] a: IG II² 463, Z. 53; b: Thuk. 3,34 ; c: IG IX² 1, 3 B Z. 4f. - Ausgeschlossen wird die Möglichkeit, dass eine bereits bestehende Mauer als Diateichisma in die Ummauerung einer Siedlung integriert wurde.
[14] Ein außerstädtisches Diateichisma, das auch inschriftlich erwähnt wird, ist zwischen Oiniadai und Metropolis in Akarnanien nachzuweisen, s. W.K. Pritchett, Studies in Ancient Greek Topography VII (1991) 14 ff.; K. Freitag, Oiniadai als Hafenstadt. Einige historisch-topographische Überlegungen, Klio 76, 1994, 212 ff.
[15] Kapitel 3: Katalog.
[16] s. Sokolicek 2003, Kapitel 1.3 zu den antiken Autoren, v.a. Thukydides, Polybios, Strabon.
[17] s. A.W. Lawrence, Greek Aims in Fortification (1979) 145 f.
[18] Zu den einzelnen Siedlungen s. Sokolicek 2003, Kapitel 3 Katalog.
[19] Etwa in Theangela und in Herakleia am Latmos, s. Sokolicek 2003, Kapitel 3 Katalog; wahrscheinlich war das auch in Stratos der Fall.
[20] So weisen Velia und Kaulonia je zwei Diateichismata auf; Antiochia am Orontes hatte vier eigens ummauerte Wohnbezirke, die durch Siedlungsraumvergrößerung entstanden (Lauter a. O. [Anm. 9] 72).
[21] Bei Siedlungsraumerweiterungen wurde in den meisten Fällen die ältere Stadtmauer zwischen Neu- und Altstadt geschleift, vgl. dazu auch Lawrence a.O. 144.
[22] Beispiele für Siedlungen mit Siedlungsraumverkleinerung sind Herakleia, Milet, Plataiai, Theangela. Literaturangaben und Einzelbesprechungen der Siedlungen s. Sokolicek 2003, Kapitel 3 s.v.
[23] Etwa Kaulonia, Notion, Samos, Velia; Literaturangaben und Einzelbesprechungen der Siedlungen s. Sokolicek 2003, Kapitel 3 s.v.
[24] Beispiele sind etwa Lissos, Siphai, Velia, Zgërdhesh. Literaturangaben und Einzelbesprechungen der Siedlungen s. Sokolicek 2003, Kapitel 3 s.v.
[25] Vgl. das Dipylon über den Toren im Diateichisma zwischen Nymphen- und Musenhügel in Athen (H. Thompson - R.L. Scranton, Hesperia 11, 1943, 334) oder die Situation des Mauerzuges B in Velia, s. V. Gassner - A. Sokolicek, Die Befestigungsanlagen von Velia. Vorbericht zu den Grabungen in der Unterstadt 1997-1999, ÖJh 69, 2000, bes. 96 ff.
[26] In diesem Sinne F.G. Maier, Griechische Mauerbauinschriften II (1961) 82; McNicoll a.O. (Anm. 6) 305 ff. Zu den möglichen Motiven für die Errichtung von Diateichismata s. Sokolicek 2003, Kapitel 3.2-3.4.

© Alexander Sokolicek
e-mail:
asokolicek@hotmail.com

This article will be quoted by A. Sokolicek, Zum Phänomen des Diateichisma im griechischen Städtebau, Forum Archaeologiae 27/VI/2003 (http://farch.net).



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