Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 47 / VI / 2008

"ALTE GRIECHEN ZUM ANFASSEN"
Kulturvermittlung für Blinde und Sehbehinderte in der archäologischen Gipsabgusssammlung der Universität Wien

Im Rahmen einer Lehrveranstaltung wurde in der Gipsabgusssammlung des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien ein Führungskonzept für Blinde und Sehbehinderte entwickelt [1]. Für die Grundidee spielte die Überlegung eine Rolle, dass sich die Archäologie stärker ihrer gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung bewusst werden sollte.

Eine Tastführung macht materielle Kultur und Kulturgeschichte der Antike für einen Personenkreis erfahrbar, der sonst weitgehend von der Beschäftigung mit antiker Kunst ausgeschlossen ist, da diese meist visuell vermittelt wird.
Im Zentrum der Führung steht das eigene, tastende Erfahren der Gipsabgüsse. Das Rahmenprogramm spricht auf vielseitige Weise eine Reihe weiterer Sinne an. Ausgehend vom Bestand der Sammlung bieten sich thematisch verschiedene Konzepte an:
Die Wahl des Themas "Dichtung und Musik im täglichen Leben und in der Mythologie" fiel letztlich aufgrund eines stärkeren Bezugs zu den Interessen und der Lebenswelt unserer Zielgruppe als dies etwa beim Thema "Antiker Sport" der Fall gewesen wäre, das sich vom Sammlungsbestand her ebenfalls angeboten hätte. Die Blindenschule Wien wurde bei der Erstellung des Konzepts frühzeitig konsultiert und in die Planung mit einbezogen. Rektorin und Lehrer der Schule unterstützten das Projekt durch freundliche Beratung.

Das Symposion dient als Rahmen der Führung, die auf etwa 12 Personen ausgelegt ist. Die Teilnehmer werden als "Symposiasten" begrüßt und jedem wird als Einstieg für die "Zeitreise" ein antiker griechischer Name verliehen.
Verbrannter Weihrauch und altgriechische Musik sprechen den Besucher emotional an und erzeugen Spannung. Die Gäste nehmen auf Teppichen und Kissen Platz, die so ausgelegt sind, dass sie von ihrer räumlichen Aufteilung an ein Triklinium erinnern. Sitten und Abläufe des Symposiums und seine kulturgeschichtliche Bedeutung werden erklärt.

Als Objekte der eigenen Erfahrungen dienen Reproduktionen von Schalen und Bechern (Abb. 1), aus denen auch getrunken werden kann, sowie eine Amphore (Abb. 2). Einem antiken Rezept folgend, wird selbst hergestelltes Gebäck aus Sesam, Honig und Mohn gereicht (Abb. 3).
Als weitere Geruchsstoffe finden Duftöle Verwendung, die vom archäologischen Park Pompeji in Zusammenarbeit mit der Soprintendenz anhand von archäologischen Befunden rekonstruiert wurden und käuflich zu erwerben sind.
Im Rahmen des Symposions wird den Besuchern Homer vorgestellt, und sie werden mit dem Inhalt seiner beiden Werke Ilias und Odyssee vertraut gemacht. Aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit eignet sich die Gussmarmorkopie eines Homerporträts gut dazu, ertastet zu werden (Abb. 4).

Lenkende Fragen einer Führungsperson regen zum genauen Erfühlen von Details an.
Homer tritt, verkörpert von einem der Führenden, auf und rezitiert die ersten Zeilen der Odyssee, um einen Eindruck des griechisch gesprochenen Hexameters zu vermitteln.
Nach diesem gemeinsamen Teil wird die Gruppe getrennt. In drei Kleingruppen werden drei weitere Objekte betastet. Eine Gruppengröße von maximal vier Personen pro Führer ist wünschenswert, da dieser das Tasten organisieren und teilweise begleiten und lenken muss. Darüber hinaus gibt er den tastenden Personen Detailinformationen zum besseren Verständnis des jeweiligen Objekts und dessen Bedeutung im Kontext und vermittelt weiterführende historische und kunsthistorische Informationen zum Werk.

Als Objekte wurden das sog. Dreifiguren- bzw. Orpheusrelief, die Athena-Marsyas-Gruppe des Myron (Abb. 5) und ein Querflöte blasender Satyr (Abb. 6) gewählt. Alternativ kann das Betasten der Athena-Marsyas-Gruppe durch das Relief mit dem Freiermord vom Heroon von Trysa ersetzt werden.
Um Kindern einen leichteren Zugang zu den gesockelten Figuren zu ermöglichen, können kleine Podeste aufgestellt werden. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung des dargestellten Mythos. Darüber hinaus bietet sich die Erläuterung antiker griechischer Kleidung und Entwicklungen der Bildhauerei anhand der Objekte an.
Verschiedene Kunstepochen von der Archaik bis in den Hellenismus können exemplarisch vorgestellt werden.
Die Gruppen haben etwa 15 Minuten, um sich mit jedem Objekt auseinander zu setzen. Diese Zeitspanne reicht aus, um allen Teilnehmern ein eingehendes Befühlen zu ermöglichen und wichtige Zusatzinformationen zu vermitteln.
Abschließend werden die drei Gruppen im Raum des Symposions wieder zusammengeführt und altgriechische Musik erklingt. Es gibt eine kurze Ruhephase und die Möglichkeit, abschließende Fragen zu stellen, bevor die Verabschiedung der Gruppe das Programm beendet. Die Gesamtdauer der Führung beträgt anderthalb Stunden. Publikumsreaktionen sind bisher durchwegs positiv.

Die Führung fand in den vergangenen Jahren mehrfach statt und wurde auch für Erwachsene als Zielpublikum erfolgreich adaptiert. Personelle Wechsel und Veränderungen in der Aufstellung der Sammlung können Modifikationen des hier aus persönlicher Sicht geschilderten Konzeptes in seiner Ursprungsform nach sich ziehen, das meine persönliche Sicht des ursprünglichen Konzepts wiedergibt. Tastführungen sind auch vereinzelt in Abgusssammlungen anderer Institute wie etwa in Bonn zu finden [2]. In Wien wird das Programm weiterhin für Gruppen nach Voranmeldung durchgeführt [3]. Unter wirtschaftlichen Aspekten ist die Führung aufgrund des großen Zeitaufwandes, vor allem bei der Vor- und Nachbereitung und aufgrund der Materialkosten wenig rentabel.

[1] Die Grundidee stammt von M. Ladurner und wurde in Zusammenarbeit mit B. Gabriel und M. Teichmann realisiert. Für ihre Unterstützung sei den Kolleginnen und Kollegen vom IKA Wien und ganz besonders dem damaligen Sammlungsbeauftragten und Lehrveranstaltungsleiter Dr. Hubert Szemethy gedankt, ohne dessen Unterstützung das Projekt nicht zu realisieren gewesen wäre.
[2] http://www.uni-bonn.de/Die_Universitaet/Museen/Antikensammlung/Fuehrungen/Tastfuehrungen.html
[3] Kontakt: Univ. Prof. Dr. Marion Meyer Tel.: 01- 4277 40602 oder 01- 4277 40601
E-Mail:
Sammlung.Klass-Archaeologie@univie.ac.at

© Michael Teichmann
e-mail: mbwteichi@web.de


This article should be cited like this: M. Teichmann, "Alte Griechen zum Anfassen." Kulturvermittlung für Blinde und Sehbehinderte in der archäologischen Gipsabgusssammlung der Universität Wien, Forum Archaeologiae 47/VI/2008 (http://farch.net).



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