Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 43 / VI / 2007

EIN STREIFZUG DURCH DIE BELEBTE ANTIKE PFLANZENWELT
Buchbesprechung: H. Lundt, Im Garten der Nymphen. Kleine Mythologie der Pflanzen

Wer kennt es nicht, das Liebesorakel "Gänseblümchen", bei dem die bedauernswerte, zuvor attraktive Blume sukzessive aller ihrer Blütenblätter beraubt wird, oder fühlt sich nicht von wunderbaren Orchideen angezogen, oder betrachtete nicht schon in romantischer oder auch explorativer Stimmung den Großen und Kleinen Bären am nächtlichen Sternenhimmel? Aber wussten Sie, dass das Spiel um das gerupfte Gänseblümchen auf den römischen Mythos rund um die Verwandlung der Belides zurückgeht (S. 64f.), die Benennung von Orchideen nach den Hoden (griech. orchis) des Orchis, einen von Mänaden in Stücke gerissenen Knaben, erfolgte (S. 98), oder die beiden Sternbilder zwei von Zeus entrückten Nymphen, die Schwestern Helike und Amalthea, darstellen (S. 108)? Alleine diese herausgegriffenen Einzelbeispiele machen deutlich, wie informativ der "Garten der Nymphen" von Holger Lundt ist. Der Autor, von Beruf Physiker, verbindet in 35 Kapiteln Kurzdarstellungen einzelner Mythen rund um die Nymphen mit botanischen Angaben und entwirft so ein beinahe greifbares und allgegenwärtiges Ambiente, auch wenn es einer lang vergangenen Zeit entsprungen ist.

Lundt beschreibt in unprätentiöser Art die Verwandlungen der Nymphen. Die einzelnen Kapitel widmen sich zumeist einer einzelnen Nymphe, einige auch einer Schwesterngruppe; jeder Abschnitt wird von einer Kurzvorstellung der anderen in der Episode agierenden Personen eingeleitet. Da dieselben Personen mehrmals in unterschiedlichen Geschichten agieren, werden Dubletten vermieden, indem an diesen Stellen Querverweise auf das erste Auftreten im Buch eingefügt sind. Dadurch gelingt dem Autor eine zusätzliche Verdichtung, es wird deutlich, dass keiner der Mythen isoliert besteht.
Auf die Vieldeutigkeit des griechischen Wortes nymphe geht Lundt kurz in der Einführung ein, er konzentriert sich gemäß des Buchtitels aber auf die pflanzlichen Aspekte. Die Nymphen (Abb. 1), an und für sich sterbliche Naturwesen, leben in einer Sphäre zwischen Göttern und Menschen. Mitglieder beider Welten fühlen sich von ihnen angezogen bzw. sie fühlen sich sowohl zu Menschen als auch zu Göttern hingezogen. Diese Beziehungen haben oft tragische, meistens für einen der Beteiligten letale Folgen. Die Mythen sind voll von unerfüllter Liebe, täuschungs-, trick- und oft auch gewaltreichen Annäherungsversuchen. Ob es tröstlich ist, dass die zur Transformation führenden unglücklichen Ereignisse die herrliche Pflanzenwelt hervorbringen, sei dahingestellt.
Eine Aufzählung aller im Buch Lundts vorkommenden Nymphen und Mischwesen ist hier nicht zielführend. Es soll der "Entdeckungsreise" des Lesers überlassen bleiben, wenn er bei seinem nächsten Spaziergang oder Mittelmeerurlaub, angezogen von einer Pflanze, sich an die Verwandlung der entsprechenden Nymphe bzw. an den erklärenden Mythos erinnert. Um das zu ermöglichen, gibt Lundt ausführliche Beschreibungen der in den Geschichten angesprochenen Pflanzen. Diese botanischen Erklärungen, insbesondere die Angaben zum Aussehen weniger bekannter Gewächse, waren für mich sehr interessant und informativ. Ein Laie auf diesem Gebiet kann jedoch im Prinzip wenig mit Angaben wie "Familie der Amaryllisgewächse" oder "Lippenblütler" anfangen. Es ist aber verständlich, dass sie für die biologische Bestimmung unerlässlich sind. Dies gilt auch für die Abkürzung "ssp." (subspecies). Leider fehlen Angaben zu der von den einzelnen Pflanzen bevorzugten natürlichen Umgebung zumeist, obwohl sie m.E. manche Mythen besonders anschaulich verdeutlichen.
Amüsant und informativ sind zweifelsohne die etymologischen Einsprengsel alltäglicher Wörter, sie wirken weder gezwungen noch belehrend, sondern beiläufig und selbstverständlich: z.B. die Ableitung des Wortes "diktieren" vom Dikte-Gebirge auf Kreta (S. 25), die Erklärung von "Oregano" durch den griechischen Begriff oros ganos - "Bergwonne" (S. 25) bzw. die Ableitung von Parfum vom lateinischen per fumum (S. 119) u.v.m.
Lundt setzt sich in den kurzgefassten Nacherzählungen der Mythen über zeitliche, geographische und kulturhistorische Schranken hinweg. Wenn das auch von der heutigen wissenschaftlichen Vorgangsweise her nicht sauber erscheint, so erwächst dem Büchlein dadurch kein Nachteil, sondern es bekommt dadurch eine anschauliche Dichte. Vielmehr folgt Lundt hier einer antiken Tradition, wenn er, wie z.B. schon Apollodor, in den kurzen Fassungen der einzelnen Mythen verschiedene Erzählstränge, die einander oft ergänzen, kompiliert; die komplizierten Handlungsstränge stellen sich so dem Leser als solide Geschichten dar. Wenn sich die Varianten stark voneinander unterscheiden, stellt Lundt sie einander unkommentiert gegenüber (z.B. Nr. 1 und Nr. 16; Nr. 28 S. 94f.).
Schade hingegen ist, dass uns Lundt keine exakten Quellenangaben zu den von ihm wiedererzählten Geschichten gibt; denn ein simpler Verweis, dass ein bestimmter Mythos in den Metamorphosen des Ovid belegt ist (was - wie anzunehmen - bei der Wahl des Themas mehrheitlich der Fall ist), kann dem interessierten Leser wohl kaum genügen. Keine genaue Quellenangaben gibt Lundt auch bei anderen Verweisen auf antike Autoren (z.B. S. 26: Catull; S. 31: Plinius; S. 39: Strabo u.a.). Dies ist umso erstaunlicher, da Lundts Buch in einem Verlagshaus erschien, dessen Editionen antiker Autoren hoch angesehen sind. Warum jedoch die einzige exakt zitierte Quelle das AT ist, kann ich nicht ganz nachvollziehen (S. 49).
Dasselbe Problem ergibt sich auch bei den - zweifelsohne illustrativen - Zeichnungen der angesprochenen Pflanzen, zu deren Quellen keine genauen Angaben gemacht werden. Die Formulierung "Die schwarz-weiß abgedruckten Pflanzendarstellungen stammen aus botanischen Fachbüchern des 16.-18. Jahrhunderts" (S. 128) erscheint mir doch etwas dürftig.
Die zwei abschließenden Seiten "Literaturhinweise/Quellen" (S. 126f.) sind m.E. etwas unglücklich aufgeführt; es sollte korrekterweise eine Trennung von Quellen und Sekundärliteratur vorgenommen werden. Von den antiken Autoren ist in dieser Liste nur Ovid aufgeführt, obwohl im Text vielfach indirekte tlw. auch wörtliche Zitate anderer Autoren vorkommen, z.B. Plinius S. 31, Catull S. 25f.
Wenngleich konzentriert auf das eigentliche Thema "Nymphen", so sollten sich doch keine Ungenauigkeiten in die Nacherzählung der begleitenden Hintergrundgeschichten einschleichen: Telephos wird nicht "auf dem trojanischen Schlachtfeld" verwundet, sondern in Mysien, lange bevor die Griechen Troja erreichen, wofür erst Telephos' Versprechen notwendig ist, den Griechen im Gegenzug für seine Heilung Troja zu zeigen (C. Preiser, Achilleus' Heilmittel für Telephos in den Kyprien, in Euripides' Telephos, bei Plinius und bei Apollodor, RhM 144, 2001, 277-286).
Der überschaubare Umfang des Buches, der ihm gerade seine Attraktivität gibt, lässt natürlich keinen Platz für alternative Erklärungen von Begriffen. Ich bringe hier nur ein Beispiel: Weiter verbreitet als die Ableitung des Begriffes Karyatiden von der Verwandlung der Nymphe Karya ist die bei Vitruv berichtete "rationale" Erklärung - auch wenn diese historisch nicht ganz stimmig ist: die Karyatiden, die Gebälk tragenden weiblichen Stützfiguren, zeigen die Frauen der Stadt Karya, die sich mit den Persern verbündet hatte; sie wurden auf der Akropolis von Athen als ewige Erinnerung an ein und als Warnung vor einem Bündnis mit der "falschen Seite" aufgestellt (Vitruv 1,1,5).
Einige ungewollt komische Formulierungen möchte ich an dieser Stelle noch anführen: "Dieser [Flussgott Orchamos] tötet Leukothea im Zorn, indem er sie lebendig begräbt." (S. 52) Daß man jemanden durch Einmauern im Zorn töten kann, ist wohl nicht ganz wörtlich zu nehmen. Zwei Verschreibungen seien in diesem Zusammenhang ebenfalls anzuführen: auf S. 42 sollte wohl "Freud und Schmerz" stehen, statt der "Totemfeier" sollte es S. 120 wohl "Totenfeier" heißen.

Wenn ein Physiker sich mit Mythen der Natur beschäftigt, zeigt das wiederum aufs Neue die Gegenwärtigkeit der Antike. Der Text führt anschaulich vor Augen, dass wir alltäglich in Sprache, Bildern und Bräuchen von Mythen verschiedenster Kulturen umgeben sind. Bei der Erforschung dieser Mythen in den altertumskundlichen Fächern handelt es sich daher keinesfalls um sog. "Orchideenfächer". Diese Benennung birgt bereits einen gewissen Widerspruch in sich: bei Orchideen handelt es sich - um im pflanzlichen Umfeld zu bleiben - um eine der wenigen Pflanzenarten, die mit Ausnahme der Antarktis auf der gesamten Welt verbreitet sind (Abb. 2). So fehlt - wie bereits oben erwähnt - natürlich auch die Orchidee in Lundts Buch nicht (S. 98f.).

Ebenso attraktiv wie die "Kleine Mythologie der Pflanzen", wie der Untertitel sagt, wäre für einen an der Altertumskunde interessierten Leser beispielsweise ein kompaktes Büchlein zu tierischen oder stellaren Verwandlungen, die es ebenso zahlreich in den antiken Mythen gibt. Auf jeden Fall ist Lundts empfehlenswertes Buch "Im Garten der Nymphen" eine anschauliche Reise durch die im doppelten Sinne belebte Pflanzenwelt.

Holger Lundt
Im Garten der Nymphen - Kleine Mythologie der Pflanzen
erschienen bei Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich, 2006
128 Seiten, 18 SW-Abbildungen, 8 Farbabbildungen, 12 x 19 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 3-538-07225-6
Preis: 18.00 € (D), 18.50 € (A), 32.40 SFr (CH)
Patmos Verlagshaus: http://www.patmos.de/


© Elisabeth Trinkl
e-mail: elisabeth.trinkl@univie.ac.at

This article should be cited like this: E. Trinkl, Ein Streifzug durch die belebte antike Pflanzenwelt. Buchbesprechung, Forum Archaeologiae 43/VI/2007 (http://farch.net).



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