Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 3 / V / 1997 |
Abb. 1: Boston, Museum of Fine Arts Inv. 1988.153 |
Ein besonders interessantes Objekt, das durch Körperzeichen "markiert" wurde, zeigt Emily Vermeule in einer Arbeit, die sich mit Fragen der Kontinuität zwischen der ägäischen Bronzezeit und dem "homerischen Zeitalter" befaßt[5]. Es handelt sich um einen männlichen Kopf aus Terrakotta (Boston, Museum of Fine Arts 1988.153), der von der Autorin in die späte Bronzezeit datiert wird und vermutlich mykenischer oder kyprischer Herkunft ist (Abb. 1)[6].
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Der Kopf weist an verschiedenen Stellen Öffnungen auf: die Ohren haben eingestochene "Gehörgänge" und am Kinn ist ein Loch inmitten einer etwa kreisförmigen Bruchstelle zu sehen - hier war wohl ein Ausguß oder eine Art Trichter appliziert. Die Kalotte, schon im Altertum gebrochen und durch einen eigens hergestellten Flicken aufwendig repariert, zeigt ein großes zentrales Loch mit sechs darum gruppierten, kleineren Löchern. Die Öffnungen lassen auf eine Funktion des Kopfes als Rhyton schließen.
Die Strichmarken auf den Wangen
Der Kopf ist in den Nacken gelegt, das Kinn ist leicht nach oben gerichtet - ein Merkmal, das vielen spätbronzezeitlichen und eisenzeitlichen Terrakotten gemein ist[7]. Die geschlossenen Augen erinnern im Ausdruck an einen Toten. Emily Vermeule verweist in diesem Zusammenhang auf die bekannte Totenmaske aus Mykene und auf eine Reihe weiterer Beispiele[8]. Sie interpretiert den Ausdruck als "simultaneously dead and mourning"[9], die Strichmarken auf den Wangen bringt sie mit einer "gesture of scratching the cheeks in mourning"[10] in Zusammenhang[11]. Ersteres ist eine unverbindliche, nicht ganz widerspruchsfreie Vermutung, letzteres ist zumindest ungewiß. Gerade jene kykladischen Idole, die Vermeule neben einigen anderen wenig eindeutigen oder chronologisch irrelevanten Stücken als Vergleichsbeispiel zitiert[12], zeigen neben Strichmarken auch Punktreihen und Punktrosetten[13] - Strukturen also, wie sie durch Kratzen mit den Fingernägeln nicht zu erzielen sind (Abb. 2). Eher mag man auf das Zeichnen der Toten und der Idole mit Farbe schließen. In frühkykladischen Gräbern fanden sich Beigaben von Farbstoffen und Mörsern[14].
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Abb. 2: Karlsruhe, Badisches Landesmuseum Inv. 70/550 |
Die Rosette auf der Kalotte
Abb.3: Boston, Museum of Fine Arts Inv. 1988.153 |
Abb.4: Wien, Arch. Sammlung d. Univ. Wien Inv. 1031 |
Abb.5: München, Staatl. Antikens. Inv. 2088 |
Auf der Flickstelle befindet sich, wie oben schon erwähnt, ein zentrales Loch mit sechs darum gruppierten, kleineren Öffnungen (Abb. 3)[16]. Funktional ist diese Gestaltung in Form einer Punktrosette schwer zu begründen. So kann man sie also entweder als bloßen Zierat, als Ausdruck einer "primitiven Ornamentierungslust[17]", oder aber als ein (mehr oder minder) bewußt eingesetztes semiotisches Merkmal mit einem bestimmten Bedeutungsumfang betrachten. Geht man von letzterem aus, so könnte die Rosettenform in gewisser Weise synonym, also "in einem bestimmten Zusammenhang austauschbar[18]" mit einem der am besten dokumentierten Körperzeichen, der Punktrosette, eingesetzt worden sein. Im Bereich des Gesichtes finden wir Punktrosetten sowohl auf den oben erwähnten frühkykladischen Idolen als auch bei mykenischen Stücken, die wohl etwa zeitgleich mit dem Kopf in Boston sind[19]. Eine kypro-archaische Votivterrakotte im Besitz der Archäologischen Sammlung der Universität Wien zeigt eine ebenfalls aus 7 Punkten bestehende Rosette auf derselben Körperstelle wie der Kopf in Boston: auf dem Schädeldach (Abb. 4)[20]. Als Stirnzeichen finden wir Rosetten auch auf archaischen Dionysosmasken, Satyrdarstellungen und Gorgoneia (Abb. 5)[21].
Zusammenfassend betrachtet ist der Kopf in Boston ein weiterer Beleg für das wiederholte Auftreten eines Phänomens vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis in die archaische Zeit. Die Strichmarken auf den Wangen und die Punktrosetten auf dem Kopf sind im archäologischen Material faßbar, ihre symbolhafte Aussagekraft - Bestandteil der immateriellen Aspekte ihrer jeweiligen Kulturzusammenhänge - ist aber nicht überliefert. Aus den Fundumständen bzw. dem vermutlichen Verwendungszweck der Objekte - die kykladischen Idole stammen großteils aus Gräbern, wurden aber auch in Häusern gefunden[22], der Kopf in Boston ist ein Gefäß, das wohl in kultischer Verwendung stand, die kyprische Votivterrakotte war wahrscheinlich zur Aufstellung in einem Heiligtum bestimmt, Masken, Satyrn und Gorgoneia verweisen auf den dämonischen Bereich - mag man schließen, daß die Körperzeichen eine bestimmte Funktion im Verkehr mit den übernatürlichen Mächten innehatten. Ob allerdings mit den Zeichen selbst auch ihre symbolische Bedeutung unverändert über einen derart langen Zeitraum tradiert wurde, ist eine Frage, die noch zu diskutieren ist.
[1] Berthold Fellmann, Zur Deutung frühgriechischer Körperornamente, JdI 93, 1978, 1-29.
Die Beschäftigung mit den Körperzeichen geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor im Rahmen der von E. Specht veranstalteten Ringvorlesung "Gender Studies: Schönheit im Altertum" im Wintersemester 1995 an der Universität Wien gehalten hat. Für Anregungen oder den Gedankenaustausch mit Kollegen, die sich ebenfalls mit Problemen im Zusammenhang mit Körperzeichnen befassen, wäre der Autor sehr dankbar.
[2] Neben einer Vielfalt von freien Formen oder geometrischen Motiven sind vor allem Strichmarken, Punktreihen, Rosetten und Rauten dokumentiert. Fellmann a.O. verwendet die Begriffe "Körperornamente" und "Körperzeichen" bedeutungsgleich; in dieser Arbeit wird der Begriff "Körperzeichen" wegen seines weiteren Begriffsumfanges vorgezogen.
[3] Verweise auf Überblicksdarstellungen siehe Fellmann a.O. 1 Anm. 1 und Kurt Schaller, Kyprische Terrakotten, in Friedrich Brein (Hrsg.), Kataloge der Archäologischen Sammlung der Universität Wien I. Kyprische Vasen und Terrakotten (1997) 42f.
[4] Die hier angesprochenen Quellen sind sowohl literarischer, epigraphischer als auch archäologischer Natur und stammen aus einem Gebiet, das von Ägypten über den Vorderen Orient, Anatolien, den Balkanraum und die Ägäis bis nach Zentraleuropa reicht.
[5] Emily Vermeule, Myth and Tradition from Mycenae to Homer, in Diana Buitron-Oliver (Hrsg.), New Perspectives in Early Greek Art (1991) 99-121.
[6] Hier bezieht sich Vermeule a. O. vor allem auf die unten erwähnten Ringe um den Hals, die oftmals bei spätkyprischen Terrakotten zu sehen sind.
[7] Vergleiche etwa so unterschiedliche Stücke wie die figürliche Vase aus Mykene bei Elizabeth French, Mycenean Figures and Figurines, Their Typology and Function, in Robin Hägg und Nanno Marinatos (Hrsg.), Sanctuaries and Cults in the Aegean Bronze Age (1981) 176 Abb. 7 oder die sog. "Lady von Phylakopi" bei Werner Ekschmitt, Die Kykladen (1993) 105 Abb. 104.
[8] Vermeule a.O. 112ff.
[9] Vermeule a.O. 111.
[10] Vermeule a.O. 104.
[11] Vermeule a.O. 111.
[12] Vermeule a.O. 104f. Abb. 13.
[13] Siehe dazu Fellmann a.O. 4 ff. Abb. 8,1-5.
[14] Ekschmitt a.O. 32 Taf. 2.
[15] Franz Josef Dölger, Antike und Christentum Bd. I. (2. Auflage 1974) 197.
[16] Zu den mit der Flickstelle verbundenen Problemen siehe ausführlich Vermeule a.O. 111f.
[17] Siehe dazu Fellmann a.O. 1978, 4.
[18] Duden. Deutsches Universalwörterbuch (1989) 1505 s.v. synonym.
[19] Fellmann a.O. 8 Abb. 9.2-3.
[20] Schaller a.O. 40 Abb. 33.1. Kat.Nr. 33.
[21] Fellmann a.O. 24-26 Abb. 17, 18.
[22] Ekschmitt a.O. 70.
© K. Schaller