Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 3 / V / 1997

PUER LUDENS -
Über antike Spiele und deren pädagogische Relevanz im Unterricht



Über das Spiel[1] im Altertum geben die bei Grabungen zutage getretenen Reste antiker Spiele, Darstellungen spielender Menschen auf Vasenbildern, Denkmälern der Wandmalerei, Sarkophag- und Mosaikenkunst sowie literarische Nachrichten Auskunft[2]. Mehrfach wird bei Platon und Aristoteles darauf hingewiesen, daß im Spiel neben dem reinen Vergnügungs- und Unterhaltungswert auch lerntheoretische Dimensionen und soziale Komponenten zum Tragen kommen. Auch der Gedanke, daß im Spiel Prozesse der inneren Katharsis ablaufen, wurde bereits im Altertum von Cicero formuliert, mit Quinitilian erfolgte ein erstes Umdenken in der Auseinandersetzung und Bewertung kindlichen Lebens, das durch das ambivalente Verhältnis von Spielen und Lernen bestimmt wird[3]. Eine Klärung bezüglich Wesen und Ablauf antiker Spiele und Spielformen gestaltet sich meist schwierig, da Regeln oder ähnliche Verzeichnisse so gut wie nicht vorhanden sind. Vielfach ist man daher bei der Festsetzung des möglichen Spielablaufes auf analoge Regelauslegungen moderner oder verwandter Spiele angewiesen. Viele Kinder- und Gesellschaftsspiele des Altertums weisen eine beinahe kontinuierliche Tradition bis zur Gegenwart auf, womit dem Spiel als zeitlosem menschlichen Phänomen Rechnung getragen wird[4].


Abb. 1: Rom, Vatik. Museum, Sarkophag. Knaben beim Nüssespiel
(aus J. Väterlein, Roma Ludens (1976) 121 Abb. 11)

Einfache Kinderspiele, wie das Hantieren mit Nüssen oder Astragalen, waren oft sehr spontan angelegt und bedurften nur weniger technischer Hilfsmittel, mit denen die notwendige Spielumwelt geschaffen werden konnte. Darstellungen spielender Kinder und die Vielzahl an in Gräbern gefundenen Astragale unterstreichen die Bedeutung jener Spielgeräte. Beim Spielen mit Nüssen oder Wurfknöcheln waren mehrere Varianten und Formen des Wettkampfes verbreitet, ebenso differierte die Zahl der Spielrunden und Spielteilnehmer. Von den Geschicklichkeitsspielen zählten das „Nuces castellatae" (Abb. 1) , das „Delta-Spiel" und das „Pentelitha" zu den beliebtesten, beim Erraten der vom Partner versteckten Astragal- oder Nüsseanzahl oder dem „Pleistobolinda", dem Meistwurfspiel mit Astragalen, flossen auch kognitive Momente in den Spielablauf ein. Die Aufbereitung mit anschließender praktischer Erprobung dieser heute weitgehend vergessenen Spielformen kann über Bildquellen (Freiplastik, Sarkophagkunst, Vasenmalerei) und didaktisch aufbereitete literarische Nachrichten erfolgen[5].


Abb. 2: Spieltisch mit Würfelturm und Würfeln (aus A. Rieche, Röm. Gesellschaftsspiele (1984) 46 Abb.18)
Würfel- und Brettspiele wurden vornehmlich von Erwachsenen gepflegt, literarische oder bildliche Zeugnisse spielender Kinder fehlen hier fast zur Gänze. Für das Würfelspiel scheint dies insofern einsichtig, da das Glücksspiel speziell für die römische Antike, wie zahlreiche Autoren betonen, als charakterschädigend, verwerflich und unschicklich galt. Lediglich an den Saturnalien war es gestattet, dem leidenschaftlichen Spiel mit den Würfeln nachzugehen. Trotz gesetzlicher Verbote und Strafandrohungen hatte das Würfelspiel, welches unter Zuhilfenahme von Spielbrettern, Bechern und Würfeltürmen (Abb. 2) absolviert wurde, quer durch die sozialen Schichten seinen festen Platz in der Gesellschaft[6].
Die ältesten erhaltenen Reste zuweisbarer Brettspiele reichen bis an die Wende vom 4. zum 3. Jahrtausend zurück. Für die Themenbegegnung griechischer und römischer Brettspiele gestaltet sich eine Analyse der vorderorientalischen und ägyptischen Beispiele des 3. und 2. Jahrtausends als sinnvoll, da jene vom Aufbau und der Spielintention her für die Konzeptionierung nachfolgender Spielformen der mediterranen Welt richtungsweisend waren[7].


Abb. 3: Männer beim Brettspiel, ägyptische Wandmalerei. Gräber von Benihassan
(aus H. Murray, A History of Boardgames other than Chess (1952) 14 Abb. 2)

Trotz der Fülle an archäologischen Resten und Darstellungen spielender Menschen (Abb. 3) bleiben viele Fragen betreffend Reglement und Spielablauf im Dunkeln, da die schriftlichen Quellen, sofern überhaupt vorhanden, in den seltensten Fällen zur Klärung beitragen. Aufgrund empirischer Vorgangsweisen und der Orientierung an Regelwerken bekannter Brettspielarten konnten einige Beispiele des Altertums soweit rekonstruiert und erschlossen werden, daß eine anregende und sinnvolle spielerische Auseinandersetzung heute möglich ist. Zu ihnen gehören u. a. das sogenannte „Königliche Spiel von Ur", das ägyptischen „Mehen", Varianten des „Mühlespiels", das „Ludus duodecim scriptorum" und das „Ludus latrunculum"[8]. Die Behandlung antiker Brettspiele im Pflichtschulbereich läßt sich insofern rechtfertigen, da auf diese Weise sozial-integrative Lernziele abgedeckt werden können, zudem regen vom entwicklungspsychologischen Standpunkt her gesehen jene Brettspielarten das operatorische Denken bei den Schülern an.

Lernspiele oder didaktisch aufbereitete Materialien, wie sie heute im modernen Unterricht nach den Erkenntnissen und Richtlinien zeitgemäßer Pädagogik zur Anwendung kommen, lassen sich bereits, wenn auch rar, für die Antike belegen. So schlug beispielsweise Quintilian vor, daß man für ein leichteres Lesenlernen elfenbeinerne Buchstaben verwenden solle. Das „Ostomachion" oder „Loculus Archimedius", ein dem chinesischen Tangram verwandtes Puzzle-Spiel, wurde im Altertum hoch gepriesen, da es das Gedächtnis gut trainiere[9].

Bei Platon und Aristoteles wird an mehreren Stellen die Bedeutung des Spiels als Teil der Erziehung betont. So lautet eine der Forderungen, daß im Kinderspiel möglichst die Welt der Erwachsenen imitiert werden solle, um Rückschlüsse auf das künftige Berufsleben der Zöglinge zu gewinnen[10]. Rollen- oder Imitationsspiele lassen sich in Realien, literarisch und vereinzelt auch in der Bildkunst nachweisen. Zu ihnen zählen das Puppenspiel, das Steckenpferdreiten, Soldatenspiele oder das Imitieren von Richtern und Lehrern. Dem darstellerischen Spiel wird auch heute im Schulbereich größte Aufmerksamkeit geschenkt, bieten sich hier doch Möglichkeiten, Schaffenskraft und Kreativität zu fördern, Sachverhalte, Problemsituationen und Zusammenhänge spielerisch zu erarbeiten und einsichtig zu machen.


Abb. 4: Mädchen beim Spiel mit dem Kreisel - Kreisel aus Ton (aus A. Rieche a.O. 123 Abb.14)
Für das Altertum lassen sich mehrere auf motorischen Komponenten basierende Spiele nachweisen. Lauf-, Fang- und Versteckspiele, die aus dem natürlichen Bewegungsdrang des Kindes resultieren, sind in Wort und Bild überliefert. Die Feinmotorik anregende Übungen wie der Umgang mit Kreisel (Abb. 4) oder Jojos gehörten ebenfalls zum Repertoire antiker Kinderspiele. Dem fachgerechten Umgang mit Reifen und Stock wurden sogar gesundheitsfördernde Aspekte zugeschrieben[11]. Verschiedene Varianten von Huckepackspielen, welche häufig mit dem zusätzlichen Hantieren eines Balles verbunden waren, bereicherten das kindliche Freizeitangebot. Neben zahlreichen Formen des Kunstballspiels, welche an Übungen der rhythmischen Sportgymnastik erinnern, gab es auch Ballspiele härterer Gangart wie das rugbyähnliche „Phaininda oder Harpastum" bzw. das „Keretizon", ein unserem Hockey verwandtes Spiel[12].
Der körperlichen Ertüchtigung wurde in den Erziehungsprogrammen des Altertums erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, wie aus den zahlreichen theoretischen Schriften, erhaltenen Sportstätten und Vasenbildern ersichtlich ist. Die engen Banden zwischen Spiel, Sport und Erziehung haben auch für gegenwärtige pädagogische Fragestellungen und Unterrichtspraktiken Bedeutung, die Aufnahme antiker Spiel- und Sportaktivitäten in den Unterricht wird zudem den vom Lehrplan geforderten Richtlinien und Normen gerecht.


[1] Die folgenden Ausführungen stellen eine knappe Zusammenfassung der vom Autor 1996 verfaßten Hausarbeit im Rahmen der Hauptschullehrerausbildung an der PädAk der Erzdiözese Wien dar. Ziel der Arbeit war es, antike (Kinder-)spiele auf ihre mögliche pädagogische Relevanz im Unterricht an Pflichtschulen zu untersuchen. Basierend auf die im Altertum vorliegenden Richtlinien, Werte und Normen in den Bereichen Erziehung und Unterricht wurde der Stellenwert des Spiels mit gegenwärtigen pädagogischen Vorstellungen verglichen und analysiert. Dabei zeigte sich, daß die im Altertum dominierenden Grundintentionen zum Faktor Spiel, welcher von griechischen und lateinischen Autoren als wichtiger Teilaspekt in der Entwicklung der Kinder gesehen wurde, in vielen Punkten mit den im aktuellen Rahmenlehrplan für Pflichtschulen formulierten Zielen korrelieren. In der Hausarbeit wurden ausgewählte Beispiele des Altertums, welche vornehmlich kognitive, affektive und sensumotorische Ebenen beim Menschen ansprechen, vorgestellt und auf deren entwicklungspsychologischen, sozialen, pädagogischen und lerntheoretischen Gehalt hin untersucht. Die vom Autor erarbeiteten Konzepte einer schülergerechten Themenbegegnung sind auch für museumspädagogische Fragestellungen von Relevanz.
[2] Allgemein dazu E. Schmidt, Spielzeug und Spiele der Kinder im klassischen Altertum (1971); R. Schmidt, Die Darstellung von Kinderspielzeug und Kinderspiel in der griechischen Kunst (1977); A. Rieche, Römische Kinder- und Gesellschaftsspiele (1984); E. Hudeczek et. al., Spiel mit, Penelope! Spiele und Spielzeug der Antike. Katalog zur Ausstellung vom 3.12.1993 - 9.1.1994 im Ecksaal des Joanneums Graz (1993).
[3] Ausführliche Quellensammlung u. a. bei J. Väterlein, Roma ludens. Kinder und Erwachsene beim Spiel im antiken Rom (1976); vgl. auch F. A. G. Beck, Album of Greek Education. The Greeks at School and at Play (1975) mit ausführlichem Bildmaterial.
[4] Allgemein J. Huizinga, Homo ludens (1938); H. Scheuerl, Theorien des Spiels (1975).
[5] Väterlein a. O. 34ff. mit ausführlichen Quellenangaben; Rieche a. O. 11ff.
[6] Väterlein a. O. 36ff.; Rieche a. O. 13f.; Hudeczek a. O. 8f.
[7] H. J. R. Murray, A History of Boardgames Other than Chess (1952); S. Swiny, Bronze Age Gaming Stones from Cyprus. RDAC 1980, 54ff.; P. Bielinski, P. Taracha, Board Games in the Eastern Mediterranean. Some Aspects of Cultural Interrelations, in: W. Chmielewski et al. (Hrsg.), Studia Aegea et Balcanica (1992) 41ff.
[8] Zu den beiden letztgenannten römischen Brettspielen siehe Murray a. O. 23ff., 33f.; A. Rieche, So spielten die Alten Römer. Römische Spiele im Archäologischen Park Xanten (1991) 16f., 20; Hudeczek a. O. Spielblätter zur Ausstellung, ohne Seitenangabe.
[9] Väterlein a. O. 16f.; Hudeczek a. O. Spielblätter zur Ausstellung, ohne Seitenangabe.
[10] H. Gundert, Zum Spiel bei Platon. Festschrift E. Fink (1965) 188ff.; E. Fink, Metaphysik und Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles (1970) 170.
[11] Hudeczek a. O. 13ff.
[12] L. Gründel, Griechische Ballspiele. AA 1925, 80ff.; E. Wagner, Kritische Bemerkungen zum Harpastum-Spiel. Gymnasium 70, 1963, 356ff.; F. Brommer, Huckepack. GettyMusJ 6-7, 1978-1979, 139ff.


© W.M.N. Reiter



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