Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 18 / III / 2001

NEMESIS IN VIRUNUM.
Zwei neue Nemesis-Votivreliefs aus dem Amphitheater von Virunum

Die archäologischen Ausgrabungen im römischen Amphitheater von Virunum sind die ersten größeren, systematischen Untersuchungen in einem städtischen Großbau der norischen Provinzhauptstadt. Die 108 x 46,5 m große Anlage liegt am östlichen Stadtrand des claudischen Munizipiums, auf halber Höhe hineingebaut in einen Hang, der das Stadtzentrum nach Osten hin begrenzte (Abb. 1). Andere bekannte öffentliche Gebäudekomplexe, wie Forum/Kapitol und das einzige in Noricum bekannte Bühnentheater, wurden schon vor Ausbruch des 2. Weltkrieges in ihren Grundzügen erforscht, doch standen dabei die Lokalisierung und die Grundrißaufnahme dieser komplexen Bauten im Vordergrund, während ihre chronologische Einordnung weitgehend von allgemeinen historischen Vorstellungen geprägt war. Die Struktur, baugeschichtliche Entwicklung und Funktion der zentralen städtischen Insulae und eines als "Prokuratorenpalast" gedeuteten ausgedehnten Bauwerks südöstlich des Amphitheaters ist aus denselben Gründen weitgehend unerforscht [1].


Abb. 1: Virunum, Amphitheater:
Luftbildaufnahme während der Kampagne 2000
(Photo: S. Tichy)

Von den 1998 begonnenen Untersuchungen im Amphitheater von Virunum [2] ist zu erwarten, daß sie einen grundlegenden Beitrag zur Virunenser Stadtgeschichte leisten werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Amphitheater als ein öffentlicher Großbau für populäre Massenveranstaltungen einen besonderen Stellenwert im Kulturleben Virunums, aber auch auf religiösen Sektor besessen hat.
Eine der Höhepunkte der Grabungskampagne 1999 war sicherlich die Entdeckung zweier marmorner Votivreliefs an die Göttin Nemesis, die in der Arena schräg vor dem Nemeseum entdeckt wurden (Abb. 6,9a-10).

1. Nemesis-Victoria


Abb. 2: Virunum, Amphitheater: Nemesis-Victoria-Relief (Marmor) (Photo: U.P. Schwarz)

Das Nemesis-Victoria-Relief (Höhe: 0,42m - Breite: 0,54m - Dicke: 0,09m) ist gefertigt aus regional anstehendem Kraigener Marmor, dessen schichtig eingelagerte Schieferflächen sich besonders an der Rückseite plattig ablösen (Abb. 2). Die obere Reliefhälfte ist lagerungsbedingt stärker abgewittert. Ein anpassendes Fragment der glatt belassenen Randleiste fand sich im Inneren des Nemeseums, deutlich besser erhalten als das Relief, wieder. Die in Frontalansicht dargestellte, geflügelte Göttin mit Diadem auf ihrem Haupt trägt eine kurze, unter der Brust gegürtete Tunica mit halblangen Ärmeln und Überfall, einen um den Körper geschlungenen Mantel (palla) sowie Stiefeln. In der Rechten hält Nemesis-Victoria eine Peitsche, in der Linken einen rechteckigen oder quadratischen Schild. Rechts neben dem Kopf der Gottheit kann man noch eine Fackel erkennen.

In der rechten Bildhälfte opfert ein venator, der mit einer Tunica, hosenartigen Beinkleidern und Stiefeln bekleidet ist, auf einem Altar eine Weihrauchkugel. Auch er schwingt in der linken Hand eine Peitsche und verschafft sich damit Respekt vor eiem Bären, der sich auf seine Hinterpfoten aufrichtet, drohend seine rechte Vorderpranke hebt und seine Zähne fletscht.
Die an diesem Virunenser Votivrelief vollzogene, ikonographische Angleichung der Nemesis an Victoria, ist gerade vor dem Hintergrund der im Amphitheater veranstalteten Agone (munera gladiatoria, venationes) verständlich. Bei den Wettkämpfen in der Arena obliegt es Nemesis-Victoria über Sieg oder Niederlage zu entscheiden, sodaß sie damit letztlich auch eine Entscheidung über Leben oder Tod der Kämpfer zu fällen hat.
Zwei Attribute der Nemesis-Victoria weisen ganz eindeutig in das Umfeld der im Amphitheater abgehaltenen Spiele. Die Peitsche, die sie in der Rechten schwingt, kam bei Tierhetzen als Ausrüstung der venatores zum Einsatz. Der kleine rechteckige Schild in der Linken gilt ebenfalls als Ausrüstungsgegenstand von Gladiatoren. Angesichts der geringen Größe denkt man weniger an ein großes scutum, wie es der murmillo oder der secutor im Kampf führten, sondern eher an die Schutzbewaffnung eines thraex, der ergänzend zum kleinen Rechteckschild zwei teils reich verzierte, über die Knie hinaufreichende Beinschienen (ocreae) trug [3].

Die Fackel rechts des Kopfes der Nemesis ist schwieriger zu interpretieren. Auch bei einem Weiherelief des Veteranen Iulius Victorinus an Nemesis aus Andautonia (Abb. 3) sind über dem in der linken Hand gehaltenen Rechteckschild ein Dreizack, ein Palmzweig und eine Fackel unter anderem als Attribute der Göttin angegeben [4]. Bei einem Votivrelief an die Dea Nemesis aus Flavia Solva hält ein bärtiger Mann, der die Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe versinnbildlichen soll, einen Rechteckschild in der linken und neben einer Peitsche ebenfalls eine Fackel in der rechten Hand [5]. Obwohl offenbar entsprechende bildliche Darstellungen nicht bekannt sind, wäre es durchaus denkbar, daß Fackeln auch bei Tierhetzen zum Einsatz kamen, beschreibt doch Martial in seinen Epigrammen einen Stier, der im Amphitheater mittels Feuer in Wut und Raserei versetzt wird [6].


Abb. 3: Andautonia (Kroatien): Votivrelief des Veteranen Iulius Victorinus an Nemesis (Marmor) (Publikation mit freundlicher Genehmigung von A. Rendic-Miocevic [Arh. Muzej Zagreb, Inv.Nr. 125])


2. Nemesis-Luna

Das zweite im Virunenser Amphitheater entdeckte Relief (Höhe: 0,46m - Breite: 0,58m - Dicke: 0,09m) aus Tentschacher Marmor weist einen vergleichbaren Bildaufbau auf (Abb. 4). Links Nemesis mit einem Diadem und eine Mondsichel hinter ihrem Haupt, bekleidet mit Tunica, palla und Stiefeln. Als Attribute der Gottheit treten wiederum eine Peitsche in der Linken und ein Schild, diesmal aber von rechteckiger oder quadratischer Form, in der rechten Hand gehalten, in Erscheinung.


Abb. 4: Virunum, Amphitheater: Nemesis-Luna-Relief (Marmor) (Photo: U.P. Schwarz)

Die opfernde, männliche Figur rechts des Altars ist wie Nemesis in Frontalansicht dargestellt, den Kopf wendet er jedoch zur Göttin. Er ist unbärtig mit kurzem Haar und trägt Stiefeln, eine Tunica mit halblangen Ärmeln und darüber einen Mantel (sagum), der auf der rechten Schulter von einer Scheibenfibel verschlossen wird. Über seine linke Schulter hat er eine lange Opferserviette (mappa) geworfen, die er mit seiner abgewinkelten Linken umfaßt.
Die Darstellung der Nemesis als Luna mit einer Mondsichel auf oder hinter ihrem Haupt ist eher seltener zu finden. Eine 1,48m große Sandsteinstatue aus dem Nemeseum des Militäramphitheaters von Carnuntum zeigt Nemesis in der Tracht der Diana, ferner Peitsche in der Rechten und Schwert mit Scheide in der Linken. Auf ihrem Haupt sitzt eine Mondsichel mit einem Stern [7]. Auf einem 12cm großen Tonmodel im Nationalmuseum Belgrad ist eine geflügelte Nemesis, wiederum mit kurzer, gegürteter Tunica bekleidet, in der Rechten eine Peitsche (?), in der Linken einen Schild (?) und einen Dreizack haltend, mit einem durch einen Federbusch geschmückten Helm zu sehen, auf dem vorne eine Lunula angebracht ist [8].
Die Verbindung der Nemesis mit der Mondgöttin scheint ursächlich mit den vielschichtigen synkretistischen Vorstellungen im Umfeld des Nemesis-Diana-Kults verbunden zu sein. Wenn auch eine direkte Verschmelzung von Diana und Luna im Kult nicht nachweisbar ist, so brachten antike Autoren doch die beiden Gottheiten nicht bloß immer wieder in engen Zusammenhang, sondern setzten sie sogar gleich [9]. Diana als "Göttin des nächtlichen Gestirns" tritt deshalb auf bildlichen Denkmälern öfters mit einer Mondsichel als zusätzlichem Attribut auf [10]. Die Nähe der Diana zur Mondgöttin scheint auch die Vorstellungen vom göttlichen Wesen der Nemesis beeinflußt zu haben. So glaubt Ammianus Marcellinus im 4. Jahrhundert n. Chr. vom numen der Nemesis, daß es in einer Sphäre über dem Mond wohnt [11].
Schild und Peitsche weisen bei Nemesis-Luna unzweifelhaft wieder darauf hin, daß hier die Göttin als Herrin der in der Arena abgehaltenen Spiele gemeint ist. Der in Seitenansicht wiedergegebene runde Schild (parma, parmula) diente entweder einem hoplomachus oder einem eques, also einem berittenen Gladiator, als Waffe [12].
Die Gestalt der Nemesis ist ein griffiges Beispiel für das in der römischen Religion charakteristische Phänomen des Synkretismus [13]. Bildliche Anspielungen auf die schon der griechischen Nemesis nachgesagten bedrohlicheren Eigenschaften der Göttin - als Rächerin der menschlichen Hybris und Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, die jedem das zuteilt (nemein), welches ihm zusteht - sind auf den beiden Virunenser Votivplatten nicht zu finden. Doch kennt man Belege dafür vor allem aus dem griechischen Osten des Imperium Romanum, die Nemesis mit oder ohne Flügeln zeigen, wie sie entweder eine Waage, eine Maßleiste oder beides in den Händen hält [14]. In eine ähnliche Richtung weisen Darstellungen der Nemesis mit einem Rad - manchmal in Kombination mit einem Greif oder sogar einem Füllhorn -, das sie an die Ikonographie der Tyche/Fortuna annähert, indem sie auch als eine Macht, die das Schicksal beeinflussen kann, verstanden wird [15]. Vergleichbar dem Votivrelief aus Andautonia nehmen jedoch die beiden Virunenser Nemesis-Figuren rein Bezug auf das gefährliche, des öfteren sogar tödliche Treiben im Amphitheater, indem gestalterisch ikonographische Elemente der Nemesis, Diana, Luna und Victoria mit in der Arena tatsächlich benutzten Waffen verschmolzen werden.


Abb. 5: Spittal/Drau (Schloß Porcia): Nemesis-Weiherelief aus Teurnia (Marmor) (Photo: U.P. Schwarz)

Sowohl geographisch als auch inhaltlich die nächste Parallele zu den Reliefplatten aus Virunum stellt ein an Nemesis gerichtetes Weiherelief aus Teurnia dar (Abb. 5), das mit Ausmaßen von 0,53 x 0,90m etwas größer als die beiden Votive aus dem Amphitheater ist [16]. Beim Teurnienser Relief steht die mit Bogen und Köcher bewaffnete Göttin rechts des Altars auf einer Plinthe, als ob eine Statue vorliegen würde, und opfert auf einem Altar, der laut Inschrift der Nemesis Augusta geweiht ist. Die Darstellung der Göttin ist die der Diana, ein für Nemesis spezifisches Attribut ist nicht vorhanden. In diesem Fall scheint ikonographisch offenbar eine Angleichung der Nemesis an Diana vorzuliegen. Der Wirkungsbereich der Diana, der Herrin der wilden Tiere, erstreckt sich folglich auch auf das Amphitheater, wo ihr gemeinsam mit Nemesis Weihungen dargebracht wurden [17].

Auf dem Teurnienser Relief kämpfen drei venatores gegen einen Bären - eine Szene, wie sie sich im Amphitheater tatsächlich zugetragen haben könnte. Die Individualität der Tierkämpfer in Teurnia wird zudem durch markante physiognomische Details und Namensbeischriften der venatores auf der oberen Randleiste verdeutlicht. Dagegen denkt man beim Victoria-Nemesis-Relief aus Virunum an eine ganz allgemein gehaltene allegorische Bezugnahme auf Tierhetzen in der Arena. Ein vergleichbarer gedanklicher Hintergrund dürfte auch bei einem Wandgemälde aus dem Nemeseum des Amphitheaters von Tarraco vorliegen, bei dem ebenfalls eine Opferszene mit einer Bärendarstellung kombiniert wird [18].

Auf beiden Weihereliefs sind Rauchopfer dargestellt. Sowohl der venator als auch der mit einer Tunica und einem sagum bekleidete Opfernde halten eine kleine Opferkugel zwischen den Fingern der rechten Hand. Entsprechende Rezepte und Nachrichten von in Honig gekneteten "Weihrauchkugeln", die, kunstvoll zubereitet, besonders der "ätherischen Natur der uranischen Götter" entsprachen, sind auf griechischen Papyri und bei Pausanias überliefert [19]. Doch am Altar der Nemesis fanden anderenorts nachweislich auch blutige Opfer statt. So opferte in Halikarnassos ein retiarius der Nemesis seinen Mantel, Ohrringe und ein junges Schwein [20]. Diese Opferhandlung wurde zwar von einem der Hauptakteure des Amphitheaters anläßlich eines Gelübdes wahrgenommen, dürfte aber doch wohl nicht im direkten Zusammenhang mit dem Spielablauf erfolgt sein. Über kultische Vorgänge während der Spiele, besonders vor dem Spielbeginn, ist leider sehr wenig bekannt. Auf Grabreliefs und Mosaiken mit Darstellungen des Einzugs der Gladiatoren (pompa), der Präsentation der Waffen und der Abhaltung der Kämpfe sind zwar manchmal Tragevorrichtungen (fercula pomparum) mit bei den Umzügen mitgeführten Götterstatuen abgebildet, jedoch keine, ansonsten bei Veranstaltungen recht gängigen Opferszenen an einem Altar [21].

3. Zur Figur des Stifters und zur Datierung der Votivreliefs

Die beiden Votivreliefs an Nemesis bieten kaum Möglichkeiten einer engeren zeitlichen Einordnung. Freilich kann man stilistische Unterschiede zwischen beiden Reliefplatten festhalten. Auffällig ist die etwas gröbere, holzschnittartige Darstellungsweise des Nemesis-Luna-Reliefs mit einer scharfkantigen Wiedergabe der Konturen und Gewandfalten. Den Eindruck, daß dies beim Nemesis-Victoria-Relief nicht der Fall ist, kann man wohl auf den weitaus schlechteren Erhaltungszustand dieser Platte zurückführen. Zweifelsohne wirken hier jedoch die Körperproportionen gelungener. Indem beispielsweise Nemesis-Victoria mit ihrer Peitsche über den Reliefrahmen hinausgreift, erscheint auch die Anordnung der Figuren lockerer und ungebundener. Unter Umständen ist dies ein Indiz dafür, daß ein geübter Meister am Werk war.
Diese rein stilistische Beobachtungen geben aber keine konkreten Anhaltspunkte für die Datierung der beiden Reliefplatten. Bei dem mit Stiefeln, einer Tunica und einem kurzen Mantel bekleideten Opfernden auf dem Nemesis-Luna-Relief, der sehr wahrscheinlich mit dem Stifter dieses Votivreliefs gleichzusetzen ist, könnte man sich am ehesten einen editor muneris vorstellen, also den eigentlichen Veranstalter eines Wettkampfes, in der sozialen Stellung eines höheren städtischen Beamten oder eines angesehenen Privatmanns, aber wohl weniger einen lanista, den Eigentümer einer Gladiatorenschule. Grabreliefs mit Männern, die eine Tunica und einen auf der rechten Schulter meist mit einer Scheibenfibel zusammengehaltenen Mantel tragen, sind selbst im Stadtterritorium von Virunum keine Seltenheit, geben aber von wenigen Ausnahmen abgesehen keine Hinweise auf den sozialen Status des Grabinhabers [22]. Auch die ansonsten den Modeströmungen stärker unterworfene Haartracht des Stifters gibt für die Datierung kaum weitere Aufschlüsse. Eine ähnliche Frisur mit dichten, kurzen, buckelförmigen Locken findet man sowohl bei einem librarius auf dem Terentia-Grabstein aus Teurnia, den F. Glaser in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts n.Chr. datiert [23], als auch bei einem Librarius-Relief aus Karnburg, das G. Piccottini ebenfalls in das beginnende 2. Jahrhundert n.Chr. setzt. Letzteres läßt sich wegen seiner Dimensionen und seiner wahrscheinlichen Herkunft aus Virunum (Zollfeld?) besonders gut mit dem Opfernden auf dem Nemesisvotiv vergleichen [24]. Bärtige, aber auch bartlose Männerfiguren mit kurzer, in Stirn und Nacken gekämmter Lockenfrisur finden sich jedoch auch noch auf späteren, bereits in das 3. Jahrhundert n.Chr. zu setzenden Darstellungen [25]. Weil auch die Befundsituation keine näheren Anhaltspunkte bietet, ist somit eine präzisere Datierung der beiden Reliefplatten - abgesehen von den baugeschichtlichen Eckdaten des Amphitheaters (etwa hadrianisch bis konstantinisch) - vorerst nicht zu gewinnen.

4. "Kultische Bestattung" der Votivreliefs?

Die beiden Nemesis-Reliefs wurden an der Westflucht der Arenainnenmauer, unmittelbar nördlich des Eingangs in das Nemeseum, entdeckt (Abb. 6,9a-10). Das Nemesis-Luna-Relief lag dabei rund einen Meter nördlich der zweiten Platte. Die beiden Platten waren mit der Schauseite nach oben schräg gegen die Mauer geneigt. Die anpassende linke obere Ecke des Nemesis-Victoria-Reliefs kam jedoch im Schuttmaterial im Inneren des Nemeseums zum Vorschein (Abb. 6,9b). Entscheidend für die Interpretation der Fundlage der beiden Reliefplatten ist die Befundsituation von drei, rund 2,5m südlich davon gefundenen Weihealtären (Abb. 6,1-3). Diese der Nemesis und den Campestren geweihten Altäre standen an der Westseite der Arenainnenmauer noch in situ, wobei der nördlichste zusätzlich noch mit einer Steinplatte abgedeckt war (Donatus-Altar). Die Altäre waren von mehreren Brand-, Mörtelschutt-, Lehm- und Erdschichten umgeben bzw. bedeckt. Darin fanden sich nicht nur Münzen, sondern auch reichlich Keramik- und Ziegelbruch sowie Tierreste.
Für die Chronologie und Befundinterpretation des gesamten Ensembles ist die Fundlage dreier Antoniniane von besonderer Bedeutung. Zunächst kamen nach dem Abheben der den Donatus-Altar abdeckenden Steinplatte zwei sehr gut erhaltene Antoniniane des Aurelianus (RIC 120F) und des Probus (RIC 170) zum Vorschein, die beide noch in situ direkt auf dem Altar lagen (Abb. 6,3). Nachdem der Altar entfernt wurde, lag unmittelbar darunter im anplanierten Mörtelschutt ein weiterer Antoninian des Probus (RIC 765).
Vor allem die beiden auf dem Donatus-Altar liegenden Münzen sprechen für eine Opferhandlung, bei der Münzgeld auf dem Altar oder auch zu seinen Füßen bewußt niedergelegt wurde. Bereits unmittelbar nach der Deponierung mußten die Altäre mit Steinen abgedeckt worden sein, ansonsten wären die beiden Opfermünzen auf dem Donatus-Altar sicher nicht in der geschilderten Fundlage angetroffen worden [26].


Abb. 6: Virunum, Amphitheater: Votivreliefs, Weihealtäre und Bauinschriften im Bereich des Nemeseums
(Digitalisierung: W. Baumgartner, H. Mühlbacher. - Graphische Nachbearbeitung: Ch. Gugl, R. Jernej)



Abb. 7: Virunum, Amphitheater: die beiden Votivreliefs in Fundlage vor dem Nemeseum (Photo: F. Doliner)

Die drei noch stehend vorgefundenen Altäre wurden also nach einem letzten Opfer mit Steinen, aschehaltigem Erdmaterial und Schutt zugesetzt und damit dem Zugriff von oben entzogen. Dieser Vorgang kann aufgrund der jüngsten Münze aus dem anplanierten Schutt frühestens 315/316 n.Chr. erfolgt sein. Zu den Funden daraus zählen auch Bruchstücke von einem nordafrikanischen Sigillata-Teller Hayes 50A und anderer Keramik, von der sich anpassende Fragmente auch östlich der Arenainnenmauer in der Aufschüttung im Nemeseum wiederfanden. Neben den zahlreichen hier in den Einfüllschichten entdeckten Inschrift- und Altarfragmenten (Abb. 6,5-7.9b.11b-12) sind auch neun Fundmünzen anzuführen, die einen vergleichbaren Terminus post quem aufweisen, wie in den Schuttschichten von außerhalb: ein Denar des Caracalla, mehrere Antoniniane des Marius, Claudius II, Tacitus, Probus und Diocletianus sowie als jüngstes Stück ein sehr gut erhaltener Follis des Constantinus I, geprägt in Ticinum 313 n. Chr. (RIC S. 360 Nr. 3). Die geschilderten Vorgänge, die zum Ende der Virunenser Nemesis-Kultstätte und damit auch zur Aufgabe des Amphitheaters führten, sollen im Rahmen einer Gesamtpublikation auch dazu Anlaß geben, anderenorts beobachtete "Bergegruben" und "Kultgruben" erneut zu diskutieren [27].
Die beiden ursprünglich wohl im Inneren des Nemeseums eingemauerten Bildwerke (signa) mit den Darstellungen der Gottheit waren sicherlich ein ganz wesentlicher Kristallisationspunkt der Nemesis-Verehrung in Virunum. Ob sie schon zum Zeitpunkt der Ersteinweihung des Amphitheaters im früheren 2. Jahrhundert n.Chr. bereits das Nemeseum zierten oder erst im Laufe des Bestehens des Bauwerks geweiht wurden, läßt sich wegen der geschilderten Fundsituation und des unsicheren Datierungsansatzes der Reliefs nicht schlüssig beantworten. Aufgrund der feststellbaren stilistischen Unterschiede und des unterschiedlichen Marmors ist eine Anfertigung der Platten zu verschiedenen Zeitpunkten nicht auszuschließen. Renovierungsarbeiten, die gerade in diesem Bereich des Amphitheaters nachgewiesen sind, könnten es darüber hinaus notwendig gemacht haben, auch die Reliefs aus dem ursprünglichen Mauerverband herauszunehmen und neu zu versetzen.
Das Nemeseum im Virunenser Amphitheater wurde als ein öffentlich zugänglicher locus religiosus nicht nur von Gladiatoren und Tierkämpfern, sondern nach den epigraphischen Belegen ebenso von Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen aufgesucht, die auch außerhalb der Spielzeiten der Göttin ihre Huldigungen darbrachten. Der archäologische Nachweis dieser Opfervorgänge, die in der Arena unmittelbar vor dem Nemeseum vollzogen wurden, wird aber kaum mehr zu erbringen sein [28].

Abkürzungen
Glaser 1997 F. Glaser, Die Skulpturen des Stadtgebietes von Teurnia. CSIR-Österreich II/6 (1997)
Hornum 1993 M.B. Hornum, Nemesis, the Roman State, and the Games. Religions in the Graeco-Roman World 117 (1993)
Karanastassi - Rausa - Linant de Bellefonds 1992 P. Karanastassi - F. Rausa - P. Linant de Bellefonds in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) VI/1 (Zürich/München 1992) 733 ff. s.v. Nemesis
RIC H. Mattingly - E. A. Sydenham, The Roman Imperial Coinage I-IX (1923 ff.)
Simon - Bauchhenß 1984 E. Simon - G. Bauchhenß in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) II/1 (1984) 792 ff. s.v. Artemis/Diana

[1] Zu Virunum allgemein: H. Vetters, RE IX A 1 (1961) 244 ff. s.v. Virunum; ders., Virunum, ANRW II 6 (1977) 302ff.; O. Harl, Der Stadtplan von Virunum nach Luftaufnahmen und Grabungsberichten, Jahrb. RGZM 36, 1989 (1992) 521 ff.; M. Fuchs (Hrsg.), Virunum, Archäologie Alpen Adria 3 (Klagenfurt 1997).
[2] Die Ausgrabungen werden von der Archäologieland Kärnten gem.GmbH (örtliche Grabungsleitung: R. Jernej) unter der Patronanz des Landesmuseums für Kärnten (G. Piccottini) durchgeführt und sollen 2001 zum Abschluss gebracht werden. Die Finanzierung der Grabungen erfolgt über Mitteln des Arbeitsmarktservices Kärnten (AMS), der Kärntner Landesregierung und diverser Kärntner Gemeinden; Zum aktuellen Stand der Ausgrabungen: R. Jernej, Die Ausgrabungen des Amphitheaters von Virunum 1999, Carinthia I 190, 2000, 83 ff.; dies., Ausgrabungen im Amphitheater von Virunum 1998-2000, Forum Archaeologiae 17/XII/2000 (http://farch.tsx.org).
[3] Während die standardisierte Bewaffnung und Ausrüstung (armaturae) der verschiedenen Gladiatorentypen auf der Grundlage von Originalfunden, antiken Beschreibungen und in erster Linie von bildlichen Darstellungen weitgehend gesichert erscheint, wird selbst noch in der modernen Forschung die antike Benennung der Gladiatorengattungen unterschiedlich gehandhabt. Dies betrifft vor allem die mit murmillo (myrmillo) und hoplomachus bezeichneten Bewaffnungstypen. Vgl. dazu L. Robert, Les gladiateurs dans l´orient grec (Nachdr. 1971) 64ff., bes. 68; H. Pflug, Helm und Beinschiene eines Gladiators, in: Antike Helme. Sammlung Lipperheide und andere Bestände des Antikenmuseums Berlin, RGZM Monogr. 14 (1988) 369ff.; J.J. Storch de Garcia, Gloire et mort dans l´arène: les représentations des gladiateurs dans la Péninsule Ibérique, in: Spectacula I. Gladiateurs et Amphithéâtres, Kongreßber. Lattes 1987 (1990) 186f.; M. Junkelmann, Familia Gladiatoria. Die Helden des Amphitheaters, in: E. Köhne - C. Ewigleben (Hrsg.), Caesaren und Gladiatoren. Die Macht der Unterhaltung im antiken Rom, Ausstellungskat. Hamburg (2000) 56ff.
[4] Hornum 1993, 175f. Nr. 38 Taf. XXVII; A. Rendic-Miocevic in: Zagreb prije Zagreba. Arheološka baština Zagreba od pretpovijesti do osnutka biskupije 1094. Godine, Ausstellungskat. Zagreb 1994 (1994) 117ff. Nr. 200.
[5] E. Diez, Ein Nemesis-Relief aus Flavia Solva, ÖJh 36, 1946, Beibl. 5ff., bes. 9f. mit Abb.
[6] Mart. epigr. I 19: "flammis stimulatus ... taurus".
[7] M.-L. Krüger, Die Rundskulpturen des Stadtgebietes von Carnuntum, CSIR-Österreich I/2 (1967) Nr. 37; Hornum 1993, 66; 156 Nr. 6 Taf. XXIV; Auf der zugehörigen Basis wird die Statue als simulacrum bezeichnet (CIL III 14074).
[8] A. Alföldi, Tonmodel und Reliefmedaillons aus den Donauländern, in: Laureae Aquincenses, Festschr. V. Kuzsinszky, Diss. Pann. Ser. 2,10 (1938) 340 Nr. 54 Taf. LXI,2.
[9] G. Wissowa in: RE V,1 (1903) 325ff. s.v. Diana, bes. 334f. mit Verweis auf Catull, Horaz, Cicero und Varro; A. K. Michels in: Reallexikon für Antike und Christentum III (1957) 963ff. s.v. Diana, bes. 967ff.; E. Simon, Die Götter der Römer (1990) 54. - Am prägnantesten dazu Cic. nat. deor. II 68: "Dianam autem et lunam eandem esse putant ...".
[10] Simon - Bauchhenß 1984, 804 Nr. 23c; 824 Nr. 208; 826 Nr. 231(?); 827 Nr. 238; 836 Nr. 331(?).
[11] Amm. 14,11,25-26: "...humanarum mentium opinione lunari circulo superpositum."
[12] Vgl. Anm. 3. - Einen (rechteckigen?) Schild in der linken und einen Speer in der rechten Hand hält auch die Nemesis auf dem von Marcus Ulpius Romulus gestifteten Votivrelief aus Ovilava-Wels: L. Eckhart, Die Skulpturen des Stadtgebiets von Ovilava, CSIR-Österreich III/3 (1981) Nr. 82; zu Schildformen bei Gladiatorendarstellungen vgl. auch S. Aurigemma, I Mosaici di Zliten, Africa Italiana II (1926) 172 Abb. 105.
[13] O. Gigon - H. Le Bonniec in: Lexikon der Alten Welt 3 (Nachdr. 1990) 2961f. s.v. Synkretismus; S. Lilla in: Encyclopedia of the Early Church II (1992) 805f. s.v. syncretism.
[14] Hornum 1993, 321; 325ff. Taf. X-XI; XIII; XVII-XX; XXII; Karanastassi - Rausa - Linant de Bellefonds 1992.
[15] Hornum 1993, 318ff.; 322ff. Taf. I,6; V-VIII, X; XII-XIII; XV; XIX-XX; XXII; XXIV; XXVI; Zu den verschiedenen Aspekten des Nemesis-Kults unter besonderer Berücksichtigung der "Austria Romana" vgl. H. Kenner, Götterwelt der Austria Romana, ANRW II 18.2 (1989) 875ff., bes. 902ff.
[16] Glaser 1997, Nr. 27.
[17] J. Carabia, Diana victrix ferarum, in: Spectacula I (Anm. 5) 231 ff.
[18] A. García y Bellido, Nemesis en una pintura mural del anfiteatro de Tarragona, Archivio Esp. Arqu. 36, 1963, 177 ff. Abb. 2-3; Tarraco - Patrimoni de la Humanitat (1999) Farbabb. S. 75; zum unterirdischen Nemeseum von Tarraco vgl. auch X. Dupré i Raventós u.a., L´Amfiteatre romà de Tarragona, la basilica visigòtica i l´església romànica, Memòries d´Excavació 3, Taller Escola d´Arqueologia (1990) 117 Abb. 117; 123 Abb. 129.
[19] S. Eitrem, Opferritus und Voropfer der Griechen und Römer (Nachdr. 1977) 204ff.; 212; 217; Paus. V 15,10; F. Glaser, Opfernde Athena. Eine Gemme aus Teurnia, in: Beiträge aus den Geisteswissenschaften, Festschr. R. Milesi (1982) 40; 43f.; zu Definition, Klassifikation und Typologien von Opfern aus religionswissenschaftlicher Sicht vgl. H. Seiwert in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe IV (1998) 268ff. s.v. Opfer.
[20] Hornum 1993, 77; 289 f. Nr. 241.
[21] Aurigemma (Anm. 12) ; G. Ville, La gladiature en occident des origines à la mort de Domitien, BEFRA 245 (1981) 399ff.; S. Diebner, I relievi gladiatori in rapporto ai giochi anfiteatrali. In: Anfiteatro Flavio. Immagine - Testimonianze - Spettacoli (1988) 131ff.; 134.
[22] G. Piccottini, Die Rundmedaillons und Nischenporträts des Stadtgebiets von Virunum, CSIR-Österreich II/2 (1972) Nr. 138 (Grabstele des duplicarius Aurelius Secundianus aus St. Thomas/Zeiselberg); G. Piccottini, Die Dienerinnen- und Dienerreliefs des Stadtgebietes von Virunum, CSIR-Österreich II/3 (1977) Nr. 263 (Librarius-Relief aus Wolfsberg); Bei den von H. Ubl diskutierten Soldatengrabsteinen reicht das sagum, das auch von Zivilpersonen getragen werden kann, immer bis unter die Knie: H. Ubl, Waffen und Uniform des römischen Heeres der Prinzipatsepoche nach den Grabreliefs Noricums und Pannoniens (Ungedr. Diss. Wien 1969) 548ff. Abb. 487.490.494-495; ferner: H. Aigner in: H. Kühnel (Hrsg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Kröners Taschenausgabe 453 (1992) 214 s.v. Sagum; E. Pochmarski, Neue Forschungen zur Chronologie der provinzialrömischen Plastik in Noricum, in: G. Erath - M. Lehner - G. Schwarz (Hrsg.), Komos, Festschr. Th. Lorenz (1997) 211.
[23] Glaser 1997, Nr. 55.
[24] Piccottini 1977 (Anm. 22) Nr. 260.
[25] N. Heger, Die Skulpturen des Stadtgebietes von Iuvavum, CSIR-Österreich III/1 (1975) Nr. 72 (Puch bei Hallein, Sarkophagrelief); L. Eckhart, Die Skulpturen des Stadtgebietes von Lauriacum, CSIR-Österreich III/2 (1976) 17 Nr. 46; 51 (Lauriacum, "Werkstatt der Dreifigurenreliefs" mit einer Datierung in das fortgeschrittene 3. und 4. Jahrhundert n. Chr.); für eine Datierung dieser Werkstätte in die Severerzeit: E. Pochmarski, Römische Bildhauerkunst des 3. und 4. Jh. n.Chr. am norischen Limes, in: H. Vetters - M. Kandler (Hrsg.), Akten des 14. Internationalen Limeskongresses 1986 in Carnuntum, Römischer Limes in Österreich 36/2 (1990) 525ff.; vgl. auch Pochmarski (Anm. 29) 208ff.
[26] Jernej (Anm. 2) 93ff.; eine Fotodokumentation mit weiterem Bildmaterial zur Auffindung der beiden Nemesisreliefs und der drei Weihealtäre ist zu finden unter http://members.yline.com/~ch.gugl/nemesis/.
[27] R. Egger, Der Tempelbezirk des Mars Latobius im Lavanttale (Kärnten), Anz. Akad. Wiss. Wien, Philos.-Histor. Kl. 3-4, 1927, 4ff., bes. 17ff.; Harl (Anm. 1) 542ff. An der Aufarbeitung der Grabungen im Amphitheater sind beteiligt: R. Jernej (Baubefunde), Ch. Gugl (Nemesisreliefs, Münzen, Keramik, Kleinfunde), H. Dolenz (epigraphische Denkmäler, Rekonstruktion), A. Galik (Archäozoologie), O. Ciglenecki (Holzbefunde), Kheir-Eddine Hassaïne (Rekonstruktionszeichnungen, Modellbau).
[28] Für anregende Gespräche und Literaturhinweise möchte ich mich bei H. Aigner (Graz), F. Glaser (Klagenfurt) und E. Pochmarski (Graz) recht herzlich bedanken.

© Christian Gugl
e-mail:
ch.gugl@hypo-online.com
homepage: http://members.yline.com/~ch.gugl/nemesis/

This article will be quoted by Ch. Gugl, Nemesis in Virunum. Zwei neue Nemesis-Votivreliefs aus dem Amphitheater von Virunum, Forum Archaeologiae 18/III/2001 (http://farch.net).



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