Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 9 / XII / 1998

FRAGMENTE EINER MITTELMINOISCHEN TASSE MIT ZOOMORPHEM DEKOR

Im Zuge des Surveyprojektes „Archäologische Geländeprospektion Südostkreta" unter der Leitung von Norbert Schlager wurde u.a. im Jahr 1988 die Grabhöhle Chosto im Südhang des Tafelberges Kastri Goudourou im Südküstenbereich des Bezirks Sitia auf Kreta aufgenommen [1].
Die Grabhöhle besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Kammern, wobei in beiden jeweils eine Raubgrube im Westen und daneben angehäufte Epichosis mit Keramik- und Knochenfragmenten festgestellt werden konnte.
Aus der Epichosis der westlichen Raubgrube in der zweiten Kammer wurden Keramikfragmente aufgenommen, deren früheste Stücke der Periode FM III–MM I, deren späteste Stücke schon der Periode MM III–SM IA zuzuweisen sind.
Bemerkenswert – und daher auch in diesem Rahmen hervorgehoben – sind vier Randfragmente (davon drei anpassend; erh. H 3 cm) einer karinierten Tasse (Dm Rand 8,2 cm; Abb. 1). Das auf der Töpferscheibe hergestellte, dünnwandige Gefäß zeigt einen im Profil konkaven Oberteil, der sich durch einen scharfen Knick von dem wahrscheinlich konisch zu ergänzenden Unterteil absetzt. Der Ton weist eine graurote Färbung auf. Sowohl auf der Außen- wie auch auf der Innenseite ist noch schwarzer Farbüberzug erhalten, auf dem die in Weiß gehaltene Dekoration aufgetragen wurde.

Abb. 1: Fragmente einer karinierten Tasse aus der Grabhöhle Chosto im Südhang des Tafelberges Kastri Goudourou

Der Dekor des nur zum Teil erhaltenen Gefäßoberteiles zeigt einen die Lippe bedeckenden Streifen, einen auf der Außenseite parallel unterhalb des Randes verlaufenden horizontalen Streifen und einen weiteren knapp oberhalb des Gefäßknickes. Die beiden Horizontalstreifen bilden den Rahmen für eine ‘Frieszone’ im Mittelfeld des oberen Gefäßteiles. In der Mittelzone befindet sich auf den drei anpassenden Randfragmenten von links nach rechts der kleine Teil des Rumpfes und der dazugehörige, fast vollständig erhaltene Kopf eines Tieres mit Hörnern oder langen, spitzen Ohren und einer länglichen Schnauze, anschließend ein nach rechts gewandter Tierkörper mit langem, weggestrecktem Schwanz, dünnem und stark gekrümmtem Rumpf, an dessen Enden sich jeweils zwei kurze Stummelbeine befinden; der Kopf fehlt; ganz rechts ist noch die Spitze des Schwanzes des folgenden Tieres in der Reihe zu erkennen. Auf dem vierten, nicht anpassenden Randfragment ist noch das Horn/Ohr einer ebensolchen Tierfigur erhalten. Aufgrund von Form und Dekorationsweise ist die fragmentierte Light-on-dark Knickwandtasse in die Periode MM IB–MM IIA zu datieren [2].

Die Darstellung von Tieren auf Vasen ist – sieht man von Exponenten der Kamares Ware ab – vor allem aus Ostkreta bekannt. Als Vergleichsstücke für das hier besprochene Fragment werden Vertreter der ostkretischen White-on-dark bzw. Light-on-dark und Dark-on-light Ware herangezogen, die den Zeitraum von FM III–MM IIA abdecken. Es zeigt sich, daß bevorzugt zwei Tierarten in meist stark stilisierter Form dargestellt wurden: (Wild-)Ziege [3] und Fisch (ev. Delphin) [4]. Lediglich ein Gefäß zeigt einen Wasservogel [5].
In Anbetracht der Menge an heute bekannter dekorierter Keramik nehmen die Tierdarstellungen, speziell im Zeitraum unseres Stückes, einen sehr geringen Prozentsatz ein. Gefäße mit aufgetragenem ‘Tierfries’ bilden überhaupt eine verschwindend kleine Menge [6].

Welches Tier ist nun auf unserem Stück dargestellt? Da das Tierformenrepertoir auf Vasen nur sehr begrenzt ist, muß zum Vergleich auf die Kleinkunst, speziell die Siegelglyptik, zurückgegriffen werden, die bekanntermaßen zahlreiche Darstellungen von Tieren bewahrt hat [7]. Zur Identifizierung der Vasendarstellung sei daher auf die besonderen Charakteristika des wiedergegebenen Tieres hingewiesen:
a) der lange Schwanz ist nur bei Löwen und Hunden anzutreffen, wobei sich auf Darstellungen in der Siegelglyptik der Schwanz immer nach vor biegt – was wohl u.a. mit der Form des Bildfeldes zu begründen ist;
b) der aufgebogene Rumpf ist nur an liegenden Tieren zu sehen; stehend dargestellte Tiere besitzen immer einen Rumpf, der sich an der hinteren Hälfte aufbiegt;
c) der Kopf mit Ohren und länglicher Schnauze charakterisiert vor allem Hunde.

Abb. 2: Terrakottafigur aus dem Höhenheiligtum von Petsophas (Nach J.L. Myres, Excavations at Palaikastro II. § 13. The Sanctuary-Site of Petsofà, BSA 9, 1902/03, Taf. 13,56)
Abb. 3: Fragment einer Terrakottafigur aus dem Höhenheiligtum von Petsophas (Nach B. Rutkowski, Petsophas. A Peak Sanctuary, Studies and Monographs in Mediterranean Archaeology and Civilization II 1 (1991) Taf. 48,13)

Lediglich in der Kleinplastik finden sich vergleichbare Tierdarstellungen: es handelt sich hierbei um kleine Terrakottafiguren aus dem Höhenheiligtum von Petsophas, die von den Bearbeitern als Wieseldarstellungen interpretiert wurden [8] (Abb. 2–3). Ein solcher Deutungsvorschlag dürfte auch auf das besprochene Stück zutreffen. Paläozoologische Untersuchungen haben gezeigt, daß auf Kreta mehrere marderähnliche Tiere heimisch waren: neben dem Wiesel (Mustela nivalis) auch der Marder (Martes martes) und der Dachs (Meles meles) [9]. Aus dem Vergleich realer Tiere mit der Darstellung auf der Knickwandtasse folgt, daß der Vasenmaler vor allem aufgrund des langen Schwanzes und der großen Ohren wohl beabsichtigt hat, einen Marder abzubilden.

[1] Zur Dokumentation der Grabhöhle vgl. N. Schlager - L. Dollhofer, ÖJh 67, 1998, Beibl. 1-36. An dieser Stelle danke ich Norbert Schlager für die Durchsicht dieses Artikels und für die stets vorhandene Hilfsbereitschaft.
[2] Zur Form z.B. R.M. Dawkins, Excavations at Palaikastro II, BSA 9, 1902/03, 301–304 Abb. 1,2. 7; N. Platon, Anaskafai Zakrou, Praktika 1967, 1969, 192 Taf. 168b; H. und M. van Effenterre, Fouilles exécutées à Mallia. Exploration des maisons et quartiers d'habitation (1956–1960), Études Crétoises XXII (1976) Taf. XII A; P.P. Betancourt, Kommos II (1990) 161 Nr. 1316 Abb. 53,1316; J.A. MacGillivray – L.H. Sackett – et al., Excavations at Palaikastro 1991, BSA 87, 1992, 132f. Abb. 10,1; 12,2–3.
[3] Siehe P.P. Betancourt, East Cretan White-on-dark Ware (1984) 32. 34 Abb. 3–10 Motiv 13 und G. Walberg, Provincial Middle Minoan Pottery (1983) 60. 208 Taf. 49 Nr. 24(x)1–9.
[4] Vgl. K. Czernohaus, Delphindarstellungen von der minoischen bis zur geometrischen Zeit, SIMA Pocket-book 67 (1988) 11. 26 Kat. 73 Taf. VIII 5; 11. 27 Kat. 74–77 Taf. IX 1–5.
[5] P.P. Betancourt, The History of Minoan Pottery (1985) 89 Abb. 64; die MM II Kamares Ware weist als dargestellte Tierarten fast ausschließlich Wassertiere auf, vgl. J. Vanschoonwinkel, Les Animaux dans L'Art Minoen, in: D.S. Reese (Hrsg.), Pleistocene and Holocene Fauna of Crete and Its First Settlers, Monographs in World Archaeology 28 (1996) 378 Kat.Nr. 4; 395 Kat.Nr. 332; 397 Kat.Nr. 369. 379; 401 Kat.Nr. 459. 461. 462.
[6] R.C. Bosanquet – R.M. Dawkins, The Unpublished Objects from the Palaikastro Excavations 1902–1906, BSA Suppl. 1 (1923) 10. 11 Taf. 4d; P.P. Betancourt, Minoan Objects Excavated from Vasilike, Pseira, Sphoungaras, Priniatikos Pyrgos, and Other Sites, The Cretan Collection in the University Museum, University of Pennsylvania I, University Museum Monograph 47 (1983) 74f. Nr. 261–262 Abb. 20,261–262 Taf. 20,261–262.
[7] Dazu Vanschoonwinkel a.O. (Anm. 5) 351–412 und die entsprechenden Bände des CMS.
[8] J.L. Myres, Excavations at Palaikastro II. § 13. The Sanctuary-Site of Petsofà, BSA 9, 1902/03, 377 Taf. 13,56; B. Rutkowski, Petsophas. A Cretan Peak Sanctuary, Studies and Monographs in Mediterranean Archaeology and Civilization II 1 (1991) 36. 111f. Taf. 48,10. 13; zu Wieseln in der Antike allgemein O. Keller, Antike Tierwelt I (1909) 164–171. Vanschoonwinkel a.O. (Anm. 5) 375 führt neben den Terrakottafiguren aus Petsophas auch ein zoomorphes Elfenbeinsiegel aus Portí an, das schon von Xanthoudídes als Wieseldarstellung angesprochen wurde (S. Xanthoudídes, The Vaulted Tombs of Mesara [1924, Nachdruck 1971] 68 Nr. 654 Taf. VIII 654); meines Erachtens ist die Identifizierung als Wiesel nicht eindeutig gesichert.
[9] L.M. Snyder – W.E. Klippel, The Cretan Badger (Meles meles) as a Food Resource at Late Bronze/Early Iron Age Kavousi-Kastro, in: Reese a.O. (Anm. 5) 283ff. (Dachs), 284 (Wiesel, Marder); B. Wilkens, Faunal Remains from Italian Excavations on Crete, in: Reese a.O. (Anm. 5) 246 Tab. 20.3 (Agia Triadha; Marder), 249 (Prinias; Marder).

© Lotte Dollhofer



HOME