Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 97 / XII / 2020

FUNDORT WIEN 23, 2020 – DER JAHRESBERICHT DER STADTARCHÄOLOGIE WIEN

Ein beträchtlicher Teil der Berichte zum Vorjahr entfällt auf die Recherchen und Ausgrabungen im Umfeld des U-Bahnbaus (Stichwort U2/U5), die sich in ersten Ergebnissen vor allem innerhalb der Tätigkeitsberichte und der Fundchronik niederschlagen. Zahlreiche Hausertüchtigungsmaßnahmen (https://u2u5.wien.gv.at/site/hausertuechtigungen/) und Sondagen tragen hier zu unserem Wissen über die Entwicklung der Vorstadtbebauung bei. Hinzu kommen vor allem in den Kernbezirken Künettenaufgrabungen für Wasserrohre, Fernkälte und Gasrohrleitungen. Sie liefern trotz des begrenzten Ausschnitts und ungünstiger Arbeitsbedingungen immer wieder Details zu städtebaulichen Strukturen, die erst mit Hilfe digitalisierter alter Stadtpläne und archivalischer Studien im Kontext der Stadtgeschichte verankert werden können. Ein beeindruckender Fund gelang im Frühsommer 2019 beim Bau einer Tiefgarage in der Werdertorgasse 6, wo nicht nur die Mauern der frühneuzeitlichen Neutorbastion, sondern auch die massiven Überreste der mittelalterlichen Uferbefestigung (Abb. 1) des einst dort verlaufenden Donauarmes freigelegt werden konnten.


Von der Porta decumana zum Peilertor
Ein glücklicher Zufall führte den Autor im April 2019 an einer kurzzeitigen Aufgrabung im Bereich Naglergasse/Tuchlauben im 1. Wiener Gemeindebezirk vorbei, in der er auffällige Steinquader entdeckte. Eine sofort eingeleitete Baubeobachtung bestätigte die Vermutung, hier die Überreste des Südtores des Legionslagers vor sich zu haben, und zwar des westlichen Stützpfeilers sowie einer möglichen Mittelteilung der Durchfahrt in Form eines Fundament- oder Schwellsteines in 1,50m Entfernung (Abb. 2). Gemeinsam mit den Ergebnissen aus der archäologischen Betreuung von Fernkältekünetten im nördlich anschließenden Lagerbereich im Sommer desselben Jahres, der akribischen Auswertung älterer Grabungen und Vergleichen mit anderen Torbauten ergeben sich nun ein stimmiger Vorschlag zur Rekonstruktion der porta decumana und ein Einblick in die Lagerarchitektur in ihrem Umfeld. Verlauf und Breite der via decumana mit angrenzenden Portiken sowie die Lage der tabernae und zumindest der Kasernenbauten der westlichen retentura können als gesichert gelten. Überlagert man überdies den rekonstruierten Grundriss der römischen Toranlage mit dem Grundrissplan von Werner Arnold Steinhausen aus dem Jahr 1710 lässt sich auch das 1732 demolierte Peilertor mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen den beiden Tortürmen verorten (Abb. 3). Dies würde die gängige Vermutung unterstützen, dass man beim Bau der mittelalterlichen Stadtbefestigung noch aufrechte Strukturen des Legionslagers miteinbezog.


Eine Bronzelampe aus dem Hinterland Vindobonas
Bei dem Fund einer römerzeitlichen Bronzelampe (Abb. 4), die vor etwa 12 Jahren im Garten eines Hauses in der Rotenberggasse in Wien 13 zum Vorschein kam, handelt es sich um eine Variante der Lampen mit gerundeter Volutenschnauze Typ Loeschcke XIX. Ihr geschwungener Griff endet in einem stilisierten Tierkopf, vielleicht dem eines Greifvogels. Gute Vergleiche findet man in Exemplaren aus den Vesuv-Städten, doch spricht die mangelhafte Verarbeitung eher für eine provinzielle, also lokale Produktion und daher für einen weiter gefassten Datierungsrahmen vom 1. bis ins 2. Jahrhundert n.Chr. Da das Stück letztlich als Streufund zu werten ist, lässt sich nur ein indirekter Zusammenhang zu bekannten Befunden der näheren Umgebung herstellen, wie etwa den Resten eines nahe gelegenen Wirtschaftsgebäudes (?), einer Villa (?) mit Mosaikfußboden am Gegenhang des Roten Berges oder Grabfunden in der Sauraugasse.

Gegenstände zum Kult- oder profanen Hausgebrauch
Aus den Grabungen 2010 in der ehemaligen Rennwegkaserne (Wien 3, Rennweg 93A) im südöstlichen Randbereich der römischen Zivilsiedlung stammt eine Reihe von verlagerten, oxidierend gebrannten Keramikfragmenten (Abb. 5). Sie weisen einige verwandte Merkmale wie Fingerdruckmulden, plastischen Wellenbanddekor oder Kerbleisten auf, eine formale und funktionelle Zuweisung gestaltet sich aber bis auf die typischen Räucherschalen als schwierig. Lassen sich die beiden röhrenförmigen Elemente und die großformatige Schale (Kat.-Nr. 5–7) vielleicht zu einem hüfthohen Räucherständer – wie aus Straßburg bekannt – zusammenfügen? Und diente womöglich ein ringförmiges Objekt mit einer röhrenförmigen Erhebung (?) im Zentrum, Kat.-Nr. 8, als Basis eines solchen? Ein auffallend dickwandiges Fragment mit Wellenbanddekor und in die Gefäßwand eingeschnittenen Öffnungen wird zum Vergleich tragbaren Altären, Lichthäuschen/Dachaufsätzen und portablen Öfchen für das Warmhalten von Speisen gegenübergestellt.


Eine erste Zusammenstellung der Gesichtsgefäße aus Vindobona
Eine ebenfalls sehr interessante Gruppe bilden scheibengedrehte Töpfe und Becher, die mit Gesichtszügen aus frei geformten Appliken, Barbotineauflagen oder Ritzungen versehen sind (Abb. 6). Diese Gesichtsgefäße sind im ausgehenden ersten Jahrhundert v.Chr. in Norditalien verbreitet und gelangen auf den Spuren des römischen Heeres u.a. auch in den mitteldonauländischen Raum. Wie der auf Quellenrecherche, den Beständen des Wien Museum und den Funden neuerer Grabungen auf Wiener Stadtgebiet beruhende Katalog zeigt, sind die zurzeit etwa 120 erfassten Gefäßindividuen äußerst heterogen. Sie zeigen mit Phallusappliken und größeren Topfformen nicht nur weitere Einflüsse aus dem rheinländischen Raum, sondern es haben sich auch eigenständige lokale Typen ausgeprägt. Die vielfältige Gestaltung spricht in den meisten Fällen für Einzelanfertigungen bzw. Auftragsarbeiten. Nach den Fundumständen zu urteilen, fanden die Wiener Gesichtsgefäße überwiegend im häuslichen Bereich, möglicherweise auch in Zusammenhang mit privater Kultausübung Verwendung. In Werkstätten werden sie angesichts von Brand- und Verletzungsgefahr wegen ihres apotropäischen Charakters, der durch die Phallusappliken besonders deutlich ist, verwendet worden sein. Nur wenige Gefäße stammen aus Grabzusammenhängen.


Urgeschichtliches aus Groß-Enzersdorf und Oberlaa
Eine bessere zeitliche Zuordnung liefert die erstmalige genauere Betrachtung des 1943 bei Baggerarbeiten für den Donau-Oder-Kanal in Groß-Enzersdorf angefahrenen mittelbronzezeitlichen Grabes. Zwar sind nicht alle Funde daraus – gelistet wurden Skelettreste, eine Lochhalsnadel, ein Fingerreif, Reste eines bandförmigen Armreifs, eine konische Schüssel mit Randlappen und ein Krug mit bogenförmiger Buckelverzierung sowie einige Gefäßbruchstücke – in der Sammlung des Wien Museum zweifelsfrei zu identifizieren und teilweise auch verschollen, doch handelt es sich bei dem Krug und der Schüssel in Vergesellschaftung mit einer Bronzenadel um eine klassische Grabausstattung der Mitteldonauländischen Hügelgräberkultur (Abb. 7).

Aus der endneolithischen Siedlung in Wien-Oberlaa (Flur Grundäcker) wiederum wurden zwei eingetiefte Siedlungsbefunde des Jahres 2019 näher beleuchtet, die insgesamt elf zylindrische Webgewichte aus ungebranntem Ton enthielten. Im Fall der Grube Objekt 18/2019 handelt es sich daher aufgrund der Fundsituation vielleicht tatsächlich um eine kupferzeitliche Webhütte (Abb. 8).

Fundort Wien. Berichte zur Archäologie 23/2020
Aufsätze
Martin Mosser, Am Südtor von Vindobona – Befunde im Legionslager Vindobona. Teil X
Christoph Öllerer, Eine römische Bronzelampe aus Wien-Hietzing und die kaiserzeitliche Besiedlung westlich des Legionslagers von Vindobona
Ursula Eisenmenger, Römerzeitliche Keramikartefakte: Turibulum, Altar oder doch Ofen?
Susanne Stökl, „Die Lust an absonderlichen Darstellungen“ – Gesichtsgefäße aus Vindobona
Michaela Binder/Heike Krause/Thomas Ragger mit einem Beitrag von Gudrun Bajc, Von mittelalterlichen Gruben, Erdkellern und Pfostenlöchern – eine Hinterparzelle in der Landstraßer Hauptstraße 4A, Wien 3
Martin Penz/Zoja Benkovsky-Pivovarová, Zum mittelbronzezeitlichen Grab aus Groß-Enzersdorf, Ried Kohlfeld
Martin Penz, Zu den Funden von ungebrannten Webgewichten aus der endneolithischen Siedlung in Wien-Oberlaa

Tätigkeitsberichte
Michaela Binder/Heike Krause/Constance Litschauer/Matthias Sudi/Domnika Verdianu, Leichen im Keller – Neue Ausgrabungen auf dem ehemaligen Friedhof zu St. Ulrich, Wien 7
Kristina Adler-Wölfl/Heike Krause, Wiederentdeckte Häuser auf dem Augustinplatz in Wien 7 – Voruntersuchungen zum U-Bahn-Linienkreuz U2/U5
Kristina Adler-Wölfl/Heike Krause, Archäologische Voruntersuchung in Wien 18, Anton-Baumann-Park, Wasserturm (Projekt U-Bahn-Linie U5)

Fundchronik
Wien 1, Friedrich-Schmidt-Platz (Michael Schulz)
Wien 1, Habsburgergasse 1–7 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 1, Kärntner Straße vor Nr. 13–15 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 1, Naglergasse/Tuchlauben 1 und 3/Bognergasse 1 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 1, Reichsratsstraße/Rathausplatz/Universitätsring (Künettengrabung) (Michael Schulz)
Wien 1, Rotenturmstraße (Sabine Jäger-Wersonig)
Wien 1, Seitzergasse 1–3/Bognergasse 1–3/Tuchlauben 2 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 1, Spiegelgasse vor Nr. 1 und 2 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 1, Werdertorgasse 6 (Ingrid Mader)
Wien 4, Karlsplatz 8 (Wien Museum) (Martin Mosser)
Wien 5, Rechte Wienzeile vor Nr. 103 (U4-Station Pilgramgasse) (Martin Mosser)
Wien 5, Reinprechtsdorfer Straße vor Nr. 42 (Künettengrabung) (Kristina Adler-Wölfl/Martin Mosser/Martin Penz)
Wien 7, Augustinplatz (Kristina Adler-Wölfl/Heike Krause)
Wien 7, Mondscheingasse 4 (Michaela Binder/Heike Krause/Constance Litschauer/Matthias Sudi/Domnika Verdianu)
Wien 8, Josefsgasse 1/Auerspergstraße 11 (Nadine Geigenberger)
Wien 8, Josefstädter Straße 6 und 8/Buchfeldgasse 2 (Michael Schulz)
Wien 9, Garnisongasse 11/Rotenhausgasse 10 (Dimitrios Boulasikis/Heike Krause/Martin Mosser/Ullrike Zeger)
Wien 10, Grundäckergasse 14 (West) (Martin Penz)
Wien 13, Gemeindeberg (Hanschweg) (Michael Brandl/Martin Penz/Oliver Schmitsberger)
Wien 13, Lainzer Tiergarten (Südteil) (Martin Penz/Oliver Schmitsberger)
Wien 13, Rohrbacherstraße – Streckerpark (Christoph Öllerer)
Wien 17, Geblergasse 15/Veronikagasse 36 (Martin Mosser)
Wien 17, Geblergasse 17–57 (Künettengrabung) (Martin Mosser)
Wien 18, Anton-Baumann-Park (Kristina Adler-Wölfl/Heike Krause)
Wien 22, Seestadt Aspern (Martin Penz)

FWien 23/2020
Kartoniert. 29,7 x 21 cm
239 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Plänen
Einzelpreis: 34,– Euro, Abonnementpreis: 25,60 Euro
ISBN 978-3-85161-243-1. ISSN 1561-4891
E-Book (PDF-Format) Gesamtpreis: 30,– Euro, Einzelartikel: 2,40–12,60 Euro
ISBN 978-3-85161-244-8

Schriftentausch: gertrud.mittermueller@stadtarchaeologie.at
Auslieferung/Vertrieb: Phoibos Verlag, Anzengrubergasse 16, 1050 Wien, Austria, E-Mail: office@phoibos.at, Web: www.phoibos.at

Web:
www.stadtarchaeologie.at

© Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie
e-mail: o@stadtarchaeologie.at

This article should be cited like this: Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie, Fundort Wien 23, 2020 – Der Jahresbericht der Stadtarchäologie Wien, Forum Archaeologiae 97/XII/2020 (http://farch.net).



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