Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 97 / XII / 2020

REZENSION ZU ULRIKE BERNDT, SANCTUARIES IN THEIR SOCIAL CONTEXTS IN LATE BRONZE AGE AND EARLY IRON AGE GREECE

Die vorliegende Monographie stellt die überarbeitete Version einer Doktorarbeit dar, die von Carola Metzner-Nebelsick und Joseph Maran betreut und im Oktober 2018 an der Universität München eingereicht worden ist. Mit dieser Arbeit hat sich die Autorin Ulrike Berndt das ambitionierte Ziel gesetzt, anhand von materiellen Hinterlassenschaften Aufschlüsse über die Stellung spätbronzezeitlicher und früheisenzeitlicher Heiligtümer des griechischen Festlandes und der griechischen Inseln (mit Ausnahme Kretas) im sozialen Gefüge der jeweiligen Gesellschaften zu gewinnen. Durch den weiten zeitlichen Rahmen, der sich vom Beginn der mykenischen Palastzeit (ca. 1400 v.Chr.) bis zur Entstehung der ersten Poleis (Mitte 8.Jh. v.Chr. ) erstreckt, ist ein diachroner Ansatz vorgegeben, der um einen synchronen Ansatz ergänzt wird, indem neben der materiellen Kultur der Heiligtümer auch jene der Siedlungen bzw. Friedhöfe vergleichend herangezogen wird.

Nach einem sehr kurzen, eher lückenhaften Abriss einzelner Aspekte der Forschungsgeschichte aus dem Bereich der mykenischen und früheisenzeitlichen Religion (S. 10–13) und einem Überblick über die wesentlichen Aspekte der Forschungsdebatte zum Übergang von der Bronzezeit in die Eisenzeit (S. 13–18) folgen weitere, überaus hilfreiche einleitende Kapitel. Sie handeln von den verwendeten Chronologiesystemen und ihren Besonderheiten bzw. Problemen (S. 18–23), von diversen Begriffsdefinitionen und theoretischen Herangehensweisen (S. 23–29) sowie von unterschiedlichen Zugängen bei der Erstellung von Kriterien für die Definition von Heiligtümern bzw. terminologischen Fragestellungen (S. 30–59). Die Autorin erweist sich hierbei als überaus kenntnisreich und gut in die zum Teil komplexe Materie eingearbeitet; so gut, dass für die Autorin Selbstverständliches zum Teil ohne exakte Zitierung bleibt: so lässt sich z. B. für den Leser weder nachvollziehen, woher »Tylor’s famous definition of religion as „belief in spiritual beings“« stammt (S. 25), noch wo »Spiro’s „institution consisting of culturally formed interaction with culturally postulated superhuman beings“« zu finden ist (S. 25), da beide Autoren nicht einmal in der Bibliographie aufscheinen [1]. Lediglich im Falle der Beurteilung von Linear B-Termini, bei denen auf die konventionelle Kursivschreibung verzichtet worden ist, hätte man mitunter vorsichtiger formulieren können: Der Begriff da-mo bezeichnet innerhalb der Linear B-Verwaltung eine kommunal organisierte Körperschaft der jeweiligen Siedlung, die vor allem für die Bewirtschaftung agrarischer Nutzflächen zuständig ist, aber mit dem Begriff δῆμος der klassischen Zeit kaum etwas zu tun hat (pace S. 14: »Some terms used in the older system survive in slightly changed form in Classical Greek, like damos«); ebenso teilen die in den Linear B-Texten als qa-si-re-we bezeichneten Aufseher von Arbeitsgruppen mit den homerischen βασιλεῖς nur die Bezeichnung, üben aber eine gänzlich andere Funktion aus (pace S. 14).
Mit Ausführungen zur Vorgehensweise bei der Auswahl der analysierten Heiligtümer, Siedlungen und Friedhöfe sowie der Erfassung ihrer materiellen Kultur beginnt der Hauptteil der Monographie (S. 61–72). An das einleitende Kapitel schließt sich ein informativer katalogartiger Teil an, in dem alle wesentlichen Angaben zu den einzelnen analysierten Stätten (in alphabetischer Reihung) in den Kategorien »Excavation and publication«, »Site category and date«, »The site«, »The finds«, »Further information«, »Use before and after the phases under consideration« und, fakultativ, »Reasons for the interpretation as a sanctuary as given by the original authors« zusammengefasst sind (S. 73–144). Darüber hinaus ist es möglich, im Internet unter https://www.verlagdrkovac.de/978-3-339-11646-8.htm auf eine vollständige Liste der erfassten 22.165 Funde zuzugreifen.
Da es der Autorin um die Analyse von zeitlich sicher zuordenbaren Gesamtbefunden geht, hat sie sich aufgrund der Publikationslage dafür entschieden, lediglich sechs mykenische und sieben früheisenzeitliche Heiligtümer in ihre Besprechung aufzunehmen: und zwar einerseits jene von Ägina/Aphaia, Kalapodi, Midea (Megaron Complex und Shrine Area), Mykene (Temple Complex) und Melos/Phylakopi sowie andererseits jene von Isthmia, Ithaka/Aetos, Kalapodi, Hymettos, Olympia, Samos/Heraion und Tegea. Andere Stätten, die für gewöhnlich bei der Besprechung von Heiligtümern der mykenischen Palastzeit wie der Nachpalastzeit bzw. der Frühen Eisenzeit ihren festen Platz haben, wie eine Reihe von Kulträumen im Burgareal von Mykene bzw. in der Unterburg von Tiryns, das Heiligtum von Ayios Konstantinos auf der Halbinsel Methana, der Befund am Gipfel des Lykaion in Arkadien, das Heiligtum der Artemis Limnatis bei Kombothekra oder die Heiligtümer von Thermos bzw. Poseidi werden lediglich zum Vergleich herangezogen und in einem separaten Kapitel besprochen (S. 191–209). Zuvor werden die materiellen Hinterlassenschaften der ausgewählten Heiligtümer – gegliedert in Kleinfunde, Gefäße und Figuren bzw. Figurinen – einer gründlichen Analyse unterzogen, wobei sowohl die materielle Kultur der Siedlungsbefunde als auch die der Grabausstattungen vergleichend gegenüber gestellt werden (S. 145–184). Diese vergleichende Analyse bildet die Grundlage für die Identifikation von Heiligtümern auf Basis bestimmter charakteristischer Fundgattungen wie z.B. tiergestaltiger Rhyta oder scheibengedrehter Figuren aus Terrakotta für die Späte Bronzezeit (Abb., © CC-BY-SA 4.0) bzw. Figurinen aus Ton und Bronze für die Frühe Eisenzeit (S. 184–185). Darüber hinaus hat die Autorin diejenigen baulichen Strukturen und archäozoologischen Befunde zusammengetragen, die regelmäßig (aber zumeist nicht ausschließlich) bei im Allgemeinen als Heiligtümer angesprochenen Fundstätten angetroffen worden sind (S. 187–191).
Im Anschluss daran arbeitet die Autorin vor dem Hintergrund der fundamentalen Änderungen in der Sozialstruktur, die der Untergang der mykenischen Paläste mit sich brachte, die wandelnde Rolle der Heiligtümer für die jeweiligen Gesellschaften heraus, wobei sie zwischen eher restriktivem Zugang während der mykenischen Palastzeit und eher offenem Zugang in der Frühen Eisenzeit unterscheidet (S. 211–217). Sie stützt sich dabei einerseits auf die Auswertung des sehr unterschiedlichen Bestandes an wertvollen Gegenständen und ›Statussymbolen‹ in den einzelnen Heiligtümern der Spätbronzezeit und der Frühen Eisenzeit (S. 217–229) sowie andererseits auf eine Analyse der Opfergaben und Stellung der Heiligtümer in den Schriftquellen, wobei sowohl Linear B-Zeugnisse (S. 230–245) als auch die homerischen Epen Ilias und Odyssee (S. 245–254) herangezogen werden. In diesem Abschnitt hätte man sich mitunter eine breitere Streuung der verwendeten Literatur gewünscht, indem die Autorin mehr auf Primärquellen wie Aufsätze in Zeitschriften und Kongressakten und weniger auf Zusammenfassungen in Handbüchern und Monographien zurückgegriffen hätte. Die einzelnen Materialgattungen sind aber gut bewältigt und nur in Einzelfällen sind Berichtigungen anzuführen: dass es aus dem Palast von Pylos keine Texte zu Steuerabgaben gäbe (S. 232) ist ebenso wenig richtig wie die Annahme, in Knossos gäbe es keine Aufzeichnungen über die Herstellung parfümierten Salböls (S. 241). Unklar ist auch, weshalb die Autorin, nachdem sie mehrere Seiten den engen Verstrickungen zwischen einzelnen Heiligtümern und der palatialen Verwaltung widmet, von einem »neat picture of clearly separated secular and religious spheres« ausgeht (S. 242). Ganz im Gegenteil legen die Linear B-Texte nahe, dass im mykenischen Griechenland, wie in den meisten vorindustriellen Gesellschaften, keine klare Trennung zwischen profanen und religiösen Lebensbereichen vorhanden war.
Im Anschluss an die Analyse der Textzeugnisse folgt ein ausführliches Kapitel über wertvolle Objekte und Statussymbole in Siedlungs- und Grabkontexten, die mit den Funden aus den Heiligtümern verglichen werden (S. 254–277). Nach einer kurzen, vorläufigen Zusammenfassung (S. 277–281) werden die bisherigen Ausführungen um einen neuen Aspekt erweitert, der unter dem Schlagwort ›kollektives Gedächtnis‹ zusammengefasst werden kann. Dieser Zugang, dem mit einem ausführlichen theoretischen Kapitel (S. 281–291) und einer Betrachtung der Möglichkeiten des im-Gedächtnis-Behaltens innerhalb der homerischen Epen (S. 292–295) ein festes Fundament gegeben wird, stellt den innovativsten Teil der Arbeit dar. Die lange Forschungsdiskussion um Art und Ausmaß der Kontinuität von Kult nach dem Zusammenbruch der mykenischen Paläste wird durch den Blickwinkel des kollektiven Gedächtnisses um eine Nuance erweitert, die vermittelnd zwischen den Anhängern einer starken Kontinuität und jenen einer nahezu vollständigen Diskontinuität wirken kann (S. 295–313). Die Verbindungslinien, die in der Synthese zwischen den Veränderungen im materiellen Befund und den Veränderungen bei der Weitergabe kollektiver Erinnerungen über Generationen gezogen werden, wirken jedenfalls überzeugend (S. 313–316).
Eine Vielzahl von Diagrammen und Tabellen, mit denen die Ausführungen anschaulich illustriert und untermauert werden, beschließt das Werk. Abgesehen von drei Karten hat die Autorin jedoch keinerlei Abbildungen beigefügt. Hier hätte man sich neben der Illustrierung einzelner Beispiele der wichtigsten Fundgattungen vor allem eine Wiedergabe von Grundrissen der besprochenen Heiligtümer gewünscht.

Aus formaler Sicht ist zu bemerken, dass in den Fußnoten weder eine konsequent chronologische noch eine konsequent alphabetische Reihung der Zitate vorgenommen worden ist. Unklar bleibt auch, warum in einer grundsätzlich nach Autor-Jahr-System ausgerichteten Zitierweise in den Fußnoten einige Literaturhinweise im Vollzitat aufscheinen, diese jedoch in die Bibliographie nicht aufgenommen worden sind. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass eine größere Sorgfalt beim Lektorat dem gelegentlichen Ausfall von Buchstaben und ganzen Wörtern, Tippfehlern (z.B. LH II B anstatt LH III B; Room 39 anstatt 93), „Germanismen“ (wie z.B. Attika statt Attica, Argolis statt Argolid oder 46, 5 statt 46.5), falschen Trennstrichen, Inkonsistenzen bei der Interpunktation, typografischen Unachtsamkeiten und einer Verwendung ungewöhnlicher Begriffe (wie z.B. clothing weights oder shard) entgegenwirken hätten können.
Unabhängig davon ist aber abschließend festzuhalten, dass die Forschungsdebatte hinsichtlich der Kultkontinuität von der mykenischen Palastzeit über die Nachpalastzeit bis in die Frühe Eisenzeit durch die Integration des Aspektes der zwei unterschiedlichen Formen des kollektiven Gedächtnisses, des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses, eindeutig bereichert worden ist.

[1] In diesem Abschnitt werden vergleichsweise häufig Autoren ohne exakte bibliographische Quelle genannt. Diese Vorgehensweise sollte in einer wissenschaftlichen Arbeit keinen Platz finden.

Ulrike Berndt, Sanctuaries in their Social Contexts in Late Bronze Age and Early Iron Age Greece
Antiquitates. Archäologische Forschungsergebnisse 74, Hamburg 2020
Verlag Dr. Kovač
418 Seiten, 129, 80 €. ISBN 978-3-339-11646-8. ISSN 1435-7445

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@sbg.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, Rezension zu Ulrike Berndt, Sanctuaries in their Social Contexts in Late Bronze Age and Early Iron Age Greece, Forum Archaeologiae 97/XII/2020 (http://farch.net).



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