Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 81 / XII / 2016

FUNDORT WIEN 19, 2016 – DER JAHRESBERICHT DER STADTARCHÄOLOGIE WIEN

Keltische Münzprägestätte am Rochusmarkt?
In der Rasumofskygasse 29–31, Wien 3, wurden bei den Ausgrabungen der vergangenen Jahre bemerkenswerte Befunde und Funde frühneolithischer, spätlatènezeitlicher, römischer, mittelalterlicher und neuzeitlicher Datierung aufgedeckt. Die bisherigen Auswertungen zur Spätlatènezeit ergaben, dass es sich damals um ein Werkstattareal gehandelt haben muss, in dem auch Metall verarbeitet wurde. Diese Theorie wird durch das in diesem Artikel vorgestellte Fundmaterial – 38 Fragmente von Tüpfelplatten und vier keltische Münzen – unterstützt. Bei den erstmals im Wiener Raum belegten Tüpfelplatten (Abb. 1) handelt es sich um tönerne Gussformen, die der Produktion von keltischen Münzrohlingen/Schrötlingen dienten. Dass hierbei von einer Herstellung von Silberkuranten auszugehen ist, lassen die mit dem Rasterelektronenmikroskop in den Vertiefungen der Tüpfelplatten sichtbaren Silberreste annehmen. Wenn daher auch die Auffindung der Tüpfelplatten auf eine lokale Prägestätte verweist, so fehlen im vorhandenen Fundspektrum leider Belege von Punzen, Prägestempeln oder Waagen, um dies endgültig bestätigen zu können.

Legionslager Vindobona – auf den neuesten Stand gebracht
Neue Erkenntnisse zur Befestigung und Binnenstruktur des Legionslagers Vindobona bieten eine willkommene Gelegenheit, die Geschichte seiner Rekonstruktion – noch im 19. Jahrhundert vermuteten manche den Standort des Lagers im 3. Bezirk – Revue passieren zu lassen und diese auf den letzten Stand der Forschung zu bringen. Namhafte Gelehrte wie Friedrich Kenner, Wilhelm Kubitschek, Eduard Nowotny, Erich Polaschek und viele andere waren an der Entwicklung beteiligt, wie zahlreiche Pläne illustrieren (Abb. 2). Ein Schwerpunkt des Autors M. Mosser ist es seit langem, Altgrabungen zu digitalisieren und in der heutigen Stadtkarte zu verorten sowie anhand moderner Grabungsergebnisse neu zu interpretieren. Nun ist übersichtlich geordnet, welche Argumente und Befunde zu den aktuellen Schlussfolgerungen bezüglich Lagerstrukturen, Bauphasen und Funktionen einzelner Gebäude führten. Ein Befundkatalog der letzten fünf Jahre, der vor allem Künettengrabungen und die Grabungen in der Kramergasse 13 und im Haus Rabensteig 3 betrifft, ist ergänzend beigefügt.


Wien im 12. Jahrhundert
Eine kritische Auseinandersetzung mit der nach wie vor auch in Wissenschaftskreisen gängigen Auffassung, dass Wien bereits im 12. Jahrhundert eine Stadtmauer nebst Graben besessen habe, die eventuell noch bestehende Reste der römerzeitlichen Legionslagerbefestigung zu nutzen wusste, liefert ein Aufsatz I. Gaisbauers. Anhand der Überprüfung archäologischer Evidenzen bezüglich Baubefunden (Abb. 3), die eine tatsächliche (stratigrafische bzw. bauliche) Verschränkung römerzeitlicher und mittelalterlicher Verteidigungssysteme unter Beweis stellen könnten, und der Verbreitung zeitlich entsprechender hochmittelalterlicher Keramik innerhalb des Militärlagerareals kann sie deutlich machen, auf welch wackeligen Argumenten die Theorien zu einer ersten babenbergischen Stadtmauer stehen. Damit ist wieder einmal mehr ein Anstoß gewagt, vorsichtiger mit unseren Wunschvorstellungen umzugehen und die magere Urkundenlage nicht zu positivistisch/optimistisch hinsichtlich einer repräsentativen Größe und Bedeutung des frühen Wiens auszulegen. Darüber hinaus wird der Blickwinkel auf andere mögliche Eigenschaften mittelalterlichen Denkens und Handelns ausgeweitet, wie ein absichtsloses oder auch intentionelles Ignorieren römischer Systeme und geographischer Vorgaben oder die rationelle Ausbeutung von Ruinen als bequemen Lieferanten von Baumaterial für die Bedürfnisse einer aufstrebenden Stadt im 13. Jahrhundert.


Der Wüstung „Wulzendorf“ in der Donaustadt auf der Spur
Sowohl Lesefunde, die bei Begehungen im 22. Wiener Gemeindebezirk, im Bereich der Lackenjöchel- und der Schukowitzgasse aufgesammelt wurden, als auch alte Luftbilder von 1938 und 1956, welche Siedlungsspuren südlich von Breitenlee erkennen lassen, gaben Anlass zu eingehenderen Untersuchungen dieses Gebietes. Wie sich durch umfangreiche Recherchen und Interpretationen zahlreicher mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Quellen vorwiegend zu den vorherrschenden Grundbesitz-Verhältnissen von Breitenlee und dem abgekommenen Ort Wulzendorf ergab, waren beide Dörfer im Hoch- und Spätmittelalter oftmals von Hochwasser der Donau bedroht und daher immer wieder verlassen. Die Datierung der Keramik, bei der es sich vorwiegend um schlecht erhaltene, abgeriebene, spätmittelalterliche Topffragmente handelt, das Quellenstudium, die Betrachtung und Auseinandersetzung mit den vorhandenen historischen Karten dieses Gebietes sowie 2014 durchgeführte geophysikalische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass die auf den Luftbildern schemenhaft auszunehmenden Strukturen mit der im 16. Jahrhundert (spätestens 1568) abgekommenen Siedlung Wulzendorf identisch sind.

Wie kommt ein Gänsegeier in die Donauauen?
Ein bereits vorgelegtes Knochenartefakt aus den Grabungen im Schloss Kaiserebersdorf in Wien-Simmering 1994–1995 wurde nun aufgrund seiner Besonderheiten einer genaueren Betrachtung unterzogen. Der an beiden Gelenksenden abgetrennte Röhrenknochen weist in regelmäßigen Abständen dorsal angebrachte Markierungen und eine unfertige (?) Abschrägung am körperfernen Schaftende auf; außerdem wurde er poliert (Abb. 4). Es handelt sich um die Elle eines ausgewachsenen Gänsegeiers, einer Vogelart, deren Hauptbrutgebiet heutzutage in Spanien liegt. Das Stück stammt aus einer vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit datierenden Schicht im einstigen inneren Wassergraben des Schlosses und dürfte den Rohling einer Einhandflöte darstellen. Diese Flöte wurde oft in Kombination mit einem Rhythmusinstrument gespielt, beispielsweise einer Trommel, die mit der freien Hand geschlagen werden konnte, und kam daher gerne in der Spiel- und Militärmusik zum Einsatz.


Ein Rosenkranz aus Pimpernüssen
Auf dem ehemaligen katholischen Matzleinsdorfer Friedhof in Wien 10, Landgutgasse 38 wurden neun Schachtgräber archäologisch untersucht und dabei als Grabbeigabe 21 Pimpernusskerne gefunden. Diese waren auf Stabösen aus Buntmetall aufgezogen und einst als Rosenkranz in Verwendung (Abb. 5). Es handelt sich bei diesem Fund um den ersten seiner Art in Österreich. Archäologisch nachweisbar ist die Verwendung der Pimpernusskerne, die von einem kleinen in Mittel- und Südosteuropa verbreiteten Strauch stammen (Abb. 6), wohl mit geografischen und zeitlichen Lücken, ab der Bronzezeit bis zur Neuzeit. Pimpernusskerne wurden als „botanische Perlen“ nicht nur zu Schmuck oder Amuletten verarbeitet, sondern auch als Nahrungsmittel konsumiert. Die Nutzung als Rosenkranz begann, wie Textquellen zu entnehmen ist, ab dem Ende des 16. Jahrhunderts. Umfassende Sichtungen europäischer Sammlungsbestände lassen allerdings darauf schließen, dass die Anzahl der tatsächlichen Funde wesentlich geringer ist, als es die literarische Überlieferung annehmen lässt, evtl. Resultat musealer Sammlungspolitik, die die wenig wertvollen Pimpernuss-Rosenkränze nicht beachtet haben könnte. Diese Tatsache scheint durch die Fundsituation des Matzleinsdorfer Friedhofs insofern bestätigt, da die 21 Rosenkranzperlen aus dem Kontext einfacher Bestattungen mit schlichten Devotionalien stammen. Offensichtlich hat zwischen Antike und Neuzeit ein Wertewandel hinsichtlich Pimpernusskernen stattgefunden. So stellten sie einst weit transportiertes Handelsgut und Beigaben in römischen Gräbern dar, um in der Neuzeit zu günstigen Rosenkränzen verarbeitet zu werden.


Randbereiche der Zivilstadt
Der Tätigkeitsbericht zu der Auswertung der Grabungen am Rennweg 88–90 dient vor allem dem schnellen Überblick über die Befunde aus römischer, mittelalterlicher und neuerer Zeit und liefert eine erste Übersicht zu den besonders zahlreich vertretenen Funden an oxidierend gebrannter Gebrauchskeramik. Das Fundmaterial stammt vorwiegend aus zeitgleich einplanierten Gruben und datiert wenig überraschend mittelkaiserzeitlich. Hervorzuheben sind dabei mehrere Gesichtsgefäße (Abb. 7), die durch ihre Attribute (Phallus, Bart, Hörner) sowohl in apotropäischem – z.B. dem Schutz ihres Inhaltes dienend als Vorratsgefäße oder Graburnen – als auch in kultischem Zusammenhang stehen könnten. Fragmente von Räucherschalen, Sparbüchsen, Miniatur- und ei-förmigen Gefäßen lassen zwar neben profanen Verwendungszwecken auch an Grabkontexte denken, doch fehlen entsprechende Asche- oder Knochenfunde und so kann es sich allenfalls um zugeführten Gräberschutt oder Gegenstände aus einem lararium handeln, zumal das gleichzeitige Auftreten von Küchen- und Vorratsgeschirr (Abb. 8) als charakteristisches Siedlungsmaterial zu werten ist. Fundamentreste eines den Gruben nachfolgenden Gebäudes aus dem Beginn des 3. Jahrhunderts orientieren sich – wie die ergrabenen Parzellenbegrenzungen auf dem etwas weiter nordwestlich gelegenen Grundstück Rennweg 73 (Bericht siehe Fundchronik) – an der Limesstraße. Tatsächlich wurden Straßenkörper in der Nordecke von Parzelle 88 angeschnitten, die sich unter dem heutigen Rennweg fortsetzen. Stratigrafisch lagen hier neuzeitliche Schotterpackungen über zumindest spätmittelalterlichen, die womöglich noch die Unterbauten der einstigen Limesstraße nutzten.


Hornsteinabbau im Lainzer Tiergarten
Das als „ältestes Industriedenkmal Österreichs“ bekannte mittelneolithische Hornsteinbergwerk befindet sich auf der Antonshöhe in Wien-Mauer. Aus geologischer Sicht lassen sich hier allerdings auch im weiteren Umfeld (Abb. 9) immer wieder verkieselte Kalke, Hornsteine und Radiolarite oberflächennah finden (sog. St. Veiter Klippenzone am Rand der Wienerwald-Flyschzone). Als die Autoren aktuellen Fundhinweisen im Lainzer Tiergarten nachgingen, konnte auf Höhe der Großen Lainzer Stockwiese eine bislang unbekannte Hornsteinabfallhalde entdeckt werden. Neben qualitätsvollen, zumeist rötlich braunen und graublauen Rohmaterialien deuten zahlreiche gefundene Artefakte (hauptsächlich Abschläge, seltener auch Klingen und Kerne) auf einen Schlagplatz bzw. auf eine Nutzung dieses Rohstoffvorkommens hin. Der Frage nach einer weiträumigen prähistorischen „Bergbaulandschaft“ an den südwestlichen Rändern Wiens und ihrer zeitlichen Einordnung soll in den kommenden Jahren noch weiter nachgegangen werden.

Fundort Wien. Berichte zur Archäologie 19/2016
Aufsätze
Constance Litschauer mit einem Beitrag von Günther Dembski, Die geldgeschichtlichen Funde vom Wiener Rochusmarkt als Hinweis auf eine keltische Münzproduktion?
Martin Mosser, Befunde im Legionslager Vindobona. Teil VIII: Der Legionslagerplan – Grundrissrekonstruktion und Chronologie
Ingeborg Gaisbauer, „… in predio nostro, in territorio videlicet Favie, que a modernis Wienna nuncupatur“ – Indizien zum Wiener 12. Jahrhundert
Heike Krause/Ingeborg Gaisbauer, Zum Standort der Wüstung „Wulzendorf“ im 22. Wiener Gemeindebezirk – Donaustadt
Sigrid Czeika, Der Rohling eines Blasinstrumentes aus Schloss Kaiserebersdorf, Wien-Simmering
Andreas G. Heiss, „… ende van de notkens worden Paternosters ghemaeckt“ – Ein neuzeitlicher Rosenkranz aus Pimpernusskernen (Staphylea pinnata L.) vom ehemaligen Matzleinsdorfer Friedhof in Wien

Tätigkeitsberichte
Martin Mosser/Rita Chinelli mit Beiträgen von Kristina Adler-Wölfl, Eleni Eleftheriadou, Ingeborg Gaisbauer, Sabine Jäger-Wersonig und Kinga Tarcsay, Vorbericht zur Grabung Wien 3, Rennweg 88–90
Martin Penz/Oliver Schmitsberger, Eine neu entdeckte (neolithische?) Hornsteinhalde im Lainzer Tiergarten/Inzersdorfer Wald in Wien

Fundchronik – Grabungsberichte 2015
Wien 1 Brandstätte 1–5 (M. Mosser)
Wien 1, Dominikanerbastei 2–12 (M. Mosser)
Wien 1, Hohenstaufengasse (Künette) (H. Krause/Ch. Öllerer)
Wien 1, Neutorgasse 2–8 (M. Mosser)
Wien 1, Salvatorgasse 3–7 (Künette) (M. Mosser)
Wien 1, Sterngasse 6–8 (M. Mosser)
Wien 3, Rasumofskygasse 29–31 (K. Adler-Wölfl/M. Mosser)
Wien 3, Rennweg 73 (K. Adler-Wölfl)
Wien 3, Rennweg 88–90 (M. Mosser)
Wien 4, Gußhausstraße 25 (ehem. „K. K. Gußhaus“) (I. Mader)
Wien 10, Favoritenstraße–Fontanastraße, U1-Süd-Verlängerung (S. Sakl-Oberthaler)
Wien 10, Grundäckergasse 14–20/Bauplätze 3 und 4 (M. Penz)
Wien 10, Laaer Berg – 380-kV-Leitung (M. Penz)
Wien 13, Lainzer Tiergarten – Inzersdorfer Wald und Faßlberg (M. Penz)
Wien 22, Seestadt Aspern, Ella-Lingens-Straße 1/Edith-Piaf-Straße 4 (M. Penz)
Wien 22, Seestadt Aspern – Seeparkquartier (M. Penz)

FWien 19/2016
Einzelpreis EUR 34,–. Abonnement-Preis EUR 25,60
ISBN 978-3-85161-165-6, ISSN 1561-4891
eBook (pdf-Format)
Gesamtpreis EUR 30,–. Einzelartikel EUR 1,80–9,60
ISBN 978-3-85161-166-3, ISSN 1561-4891
Schriftentausch: gertrud.mittermueller@stadtarchaeologie.at
Auslieferung/Vertrieb: Phoibos Verlag, Anzengrubergasse 16, 1050 Wien, Austria, E-Mail: office@phoibos.at, Web: www.phoibos.at

© Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie
e-mail: o@stadtarchaeologie.at

This article should be cited like this: Museen der Stadt Wien – Stadtarchäologie, Fundort Wien 19, 2016 – Der Jahresbericht der Stadtarchäologie Wien, Forum Archaeologiae 81/XII/2016 (http://farch.net).



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