Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 81 / XII / 2016

KEINE EUROPA: ZU EINER SKULPTUR MIT SIEGESSYMBOLIK IN NIKOMEDIA (IZMIT)

Eine fragmentarisch erhaltene Skulpturengruppe aus Marmor im Lapidarium des Kocaeli-Museums in Izmit, dem antiken Nikomedia, zeigt den Körper eines Stiers in Verbindung mit dem Gewandunterkörper einer weiblichen Gestalt. Die Gruppe gilt als „Europa auf dem Stier“ (Abb. 1) [1] und wurde mit dem Argument der glatt polierten Oberfläche in hadrianische Zeit datiert [2].


Dem bekannten Mythos nach war Europa die Tochter des Königs von Tyros oder Sidon. Der höchste aller Götter, Zeus, verliebte sich in sie. Nach einem antiken Überlieferungsstrang des Mythos verwandelte sich Zeus selbst in einen Stier, nach einer anderen antiken Version sandte er einen Stier, der das Mädchen über das weite Meer, auf die griechische Insel Kreta brachte, wo aus der Liebschaft zwischen Zeus und Europa nach einiger Zeit die drei Söhne Minos, Rhadamantys und Sarpedon entstanden [3].


> Zahlreiche griechische, unteritalische (Abb. 2) und römische Abbildungen in der Malerei (Abb. 3) und auf Mosaiken (Abb. 4) zeigen den Stier, wie er in stolz aufrechter bzw. eiliger Bewegung die im sog. Damensitz auf seinem Rücken befindliche Königstochter entführt [4]. Doch genau diese erhabene Haltung des Stiers ist bei der Marmorskulpturengruppe in Nikomedia nicht gegeben. Der Erhaltungszustand und das Verständnis der Skulptur sind auf jeden Fall durch das Fehlen der jeweiligen Köpfe eingeschränkt. Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch ein auf Höhe des Halses erhaltenes, mit eingeschlagenen Vorderhufen am Boden liegendes Rind und den Unterkörper einer weiblichen, bekleideten Figur, die auf Höhe der Taille abbricht. Die Frau lehnt mit ganzem Gewicht auf dem Rücken des liegenden Tieres. Die am Boden kauernde Haltung des Tieres geht eindeutig aus dem eingeschlagenen Vorderhuf und dem eingeschlagenen Hinterhuf hervor, der unter dem Fuß der Frau deutlich zu sehen ist. Das lange Gewand der Frau breitet sich in eleganter, abwechslungsreicher Faltenführung über dem Tierkörper aus und verdeckt auch das konturenhaft durchscheinende rechte Bein der Frau. Die transparente Gewandwiedergabe lässt sogar den Bauchnabel der Frau erkennen.
Der springende Punkt: Der Stier liegt am Boden zusammen gesackt da. Außerdem nimmt die Frauengestalt nicht den eleganten sog. Damensitz ein, sondern zwingt das Tier durch ihr Gewicht zusätzlich zu Boden. Daher kann das Darstellungsschema nicht dem Europa-Mythos entsprechen, sondern es muss sich um das ursprünglich aus der klassischen griechischen Bildkunst übernommene, adaptierte und in der römischen Kaiserzeit beliebte Bildschema der stiertötenden Nike/Victoria handeln [5]. Meistens ist die stiertötende Victoria Teil einer antithetischen Komposition mit einer zweiten, gegengleichen Gruppe. Die bekanntesten römischen Abbildungen befinden sich auf zwei Silberkannen im Schatz von Boscoreale [6], auf einem augusteischen Aureus aus Pergamon [7], auf der bronzenen Wangenklappe eines frühkaiserzeitlichen Reiterhelms [8], auf dem Torso einer domitianischen Panzerstatue [9], auf einer Panzerstatue des Trajan in Ostia [10], auf einem hadrianischen Marmorsarkophagdeckel in Velletri [11], auf Campanaplatten sowohl augusteischer Zeit [12] als auch des 2.Jhs. n.Chr. [13], in Marmor aus der Aula Regia des Domitianspalastes am Palatin in Rom (Abb. 5) [14], auf einem Marmorfries des 1. Viertel des 2.Jhs. n.Chr. [15], auf einem Fries- und Architravfragment aus der Basilika Ulpia in Rom von 112. n.Chr. [16], beiderseits eines Thymiaterions auf den Zwischenreliefs am Trajansbogen in Benevent von 114-118 n.Chr. [17], sowie auf einem severischen Fries in Rom (Abb. 6) [18]. Die Victorien sind entsprechend ihren klassischen Vorbildern stets als junge, schöne Frauen charakterisiert, indem der Oberkörper oder die Beine oft sogar nackt sein können, das Gewand am Unterkörper transparent und in gefälligen Falten drapiert ist, lauter Details, worin ihnen viele Darstellungen der Europa gleichen würden. Die starken Nackenfalten des Stiers können damit erklärt werden, dass Victoria seinen Kopf mit einer Hand packt, fixiert und zurück drückt.


Die zuletzt genannten Beispiele zeigen, dass das Thema der stiertötenden Victoria bei der Umsetzung in Marmor häufig im Kontext kaiserlicher Baudenkmäler Einsatz fand und die herrscherliche Qualität der Sieghaftigkeit visualisieren sollte. Daher stellt sich die Frage, ob die Gruppe in Nikomedia nicht mit einem kaiserlichen Baudenkmal in Nikomedia [19] in Zusammenhang stehen könnte. Nichts liegt näher, als hierbei an die in den Jahren 2001 und 2009 in Izmit/Nikomedia gefundenen Skulpturen und Reliefplatten zu denken, die als sog. Çukurbaǧ-Reliefs bekannt wurden. Teile dieses Fundkomplexes wurden in den Jahren 2006/2007 erstmals in Bild und Katalogtext vorgestellt [20], als man noch glaubte, ein severisches Denkmal vor sich zu haben. Vieles spricht jedoch für die Bestandteile eines tetrarchischen Baudenkmals, für das einerseits neue Bauplastik angefertigt, andererseits bereits ältere Plastik übernommen und überarbeitet wurde [21].
Nikomedia wurde durch Diokletian (284-305 n.Chr.) zur kaiserlichen Residenz [22]. Mit der Etablierung der Tetrarchie [23] einher geht die Aufteilung der Herrschergewalt und die Dezentralisierung der Macht durch die Verlagerung der Präsenz der Tetrarchen auf Residenzstädte. Damit beginnt auch ein neuer Abschnitt in der kaiserlichen Repräsentationssprache. Das Figureninventar dieser Platten, an denen die farbliche Fassung stellenweise beachtlich leuchtend erhalten ist, beinhaltet unter anderem eine Darstellung der Dea Roma [24] und die Darstellung zweier sich umarmender Männer [25] in einem Umarmungsgestus, wie er erstmals für die „Porphyrtetrarchen“ in Venedig [26] als Ausdruck der Eintracht und Gleichmut der Tetrarchen ins Bild gesetzt wurde.

Mit dem hier präsentierten Beitrag soll eine Berücksichtigung und Zugehörigkeitsprüfung der vorgestellten Skulpturengruppe der stiertötenden Victoria im spezifischen Zusammenhang des tetrarchischen Monuments in Nikomedia angeregt werden.

Bibliographie
Boschung 2002
D. Boschung, Ein Kaiser in vielen Rollen: Bildnisse des Traian, in: A. Nünnerich-Asmus 2002, 163-171
Boschung 2006
D. Boschung (Hrsg.), Die Tetrarchie: ein neues Regierungssystem und seine mediale Präsentation. Kolloquium des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes der Universität zu Köln, 13.-14. Februar 2004 (Wiesbaden 2006)
Busch 2009
A.W. Busch, Viktoria auf der Wangenklappe – Klassische Bildmotive auf frühkaiserzeitlichen Militaria, in: M. Müller (Hrsg.), Grabung – Forschung – Präsentation, Xantener Berichte 15 (Mainz 2009) 329–346
Goethert 1936
F.W. Goethert, Trajanische Friese, JdI 51, 1936, 72-81
Hölscher 2002
T. Hölscher, Bilder der Macht und Herrschaft, in: Nünnerich-Asmus 2002, 127-144
Kammerer-Grothaus 2013
H. Kammerer-Grothaus, Nikomedeia/Izmit: kaiserliche Residenz und Kunstlandschaft in Bithynien, Boreas 36 (Münster 2013) 171-198
Kunisch 1964
N. Kunisch, Die stiertötende Nike: typengeschichtliche und mythologische Untersuchungen (München 1964)
Niewöhner – Peschlow 2012
Ph. Niewöhner – U. Peschlow, Neues zu den Tetrarchenfiguren in Venedig und ihrer Aufstellung in Konstantinopel, IstMitt 62, 2012, 341-367
Nünnerich-Asmus 2002
A. Nünnerich-Asmus (Hrsg.), Traian: ein Kaiser der Superlative am Beginn einer Umbruchzeit? (Mainz 2002)
Paris 1981
R. Paris, in: M. Bertinetti (Hrsg.), Museo Nazionale Romano 1, Le Sculture 2, Catalogo delle sculture esposte nelle ali del chiostro (Roma 1981) 95-97 Kat. Nr. 8 (mit Abb.)
Robertson 1988
M. Robertson in: LIMC 4 (1988) s.v. Europe 1, 76-92 Taf. 32-48
Şare Ağtürk 2015
T. Şare Ağtürk, Painted Reliefs from Nicomedia: Life of a Roman Capital City in Colour, Antiquity, Project Gallery article - Issue 346, August 2015
Simon 1986
E. Simon, Augustus. Kunst und Leben um die Zeitenwende (München 1986)
Vollkommer 1997
R. Vollkommer in: LIMC 8 (1997) s.v. Victoria, 237-269 Taf. 167-194
Zeyrek – Özbay 2006
T.H. Zeyrek – I. Özbay, Statuen und Reliefs aus Nikomedeia, IstMitt 56, 2006, 273-316

[1] Kurz vorgestellt und mit schwarz-weiß Foto abgebildet in: Kammerer-Grothaus 2013, 193 Taf. 41 Abb. 19.
[2] Ebenda.
[3] Detailliert zum Mythos und den Belegstellen für die literarische Überlieferung: Robertson 1988, bes. 76.
[4] Robertson 1988.
[5] Kunisch 1964.
[6] Paris, Louvre, BJ 1898 und BJ 1899, beide aus Boscoreale: Simon 1986, 140-143 Abb. 183-186; Vollkommer 1997, Nr. 257. 259. Taf. 184-185.
[7] Vollkommer 1997, Nr. 203 Taf. 181 (Aureus, Pergamon, 19 v.Chr.).
[8] Aus Kalkar, Bereich des antiken Burginatium (Museum Xanten, Inv. 2001,01.004): Erstpublikation durch Busch 2009, 327 Abb. 2.
[9] Vollkommer 1997, Nr. 201 Taf. 181.
[10] Ostia, Museo Ostiense, Inv. 23: Vollkommer 1997, Nr. 262 (ohne Abb.); Boschung 2002, 164 Abb. 179.
[11] Velletri, Museo Civico: Vollkommer 1997, Nr. 202 Taf. 181.
[12] Rom, Museo Nazionale Romano, Inv. Nr. 4451 (aus Antemnae) bzw. Vatikanische Museen, Museo Gregoriano Etrusco Inv. Nr. 14583: Vollkommer 1997, Nr. 258 a-b Taf. 185.
[13] Rom, Museo Nazionale Romano, Inv. Nr. 62757 bzw. Vatikanische Museen, Museo Gregoriano Etrusco Inv. Nr. 14563:Vollkommer 1997, 264 a-b Taf. 185.
[14] Neapel, Archäologisches Nationalmuseum Inv. Nr. 1020: Vollkommer 1997, Nr. 280 Taf. 187.
[15] Rom, Villa Doria Pamphili: Vollkommer 1997, Nr. 275 Taf. 186.
[16] Rom, Museo Nazionale Romano: Vollkommer 1997, Nr. 281 Taf. 188.
[17] Benevent, in situ: Vollkommer 1997, Nr. 261 (ohne Abb.); Hölscher 2002, 142 Abb. 130 (Stadtseite) 143 Abb. 131 (Landseite).
[18] Rom, Museo Nazionale Romano, Fries mit den Inv. Nr. 228, 236, 239, 72291: Goethert 1936, 79 Abb. 10; Ausführlich und mit Hinweisen auf die modernen Ergänzungen in Gips: Paris 1981, 95-97 Kat. Nr. 8: „Frammenti di fregio con vittorie sacrificanti un toro“ (mit Abb.); Vollkommer 1997, Nr. 276 (ohne Abb.).
[19] Für einen sehr guten, neuen Überblick über die Geschichte und Archäologie Nikomedias: Kammerer-Grothaus 2013.
[20] Zeyrek – Özbay 2006.
[21] Zur Erforschung und den angewandten Methoden: Şare Ağtürk 2015.
[22] Kammerer-Grothaus 2013, 174-176.
[23] Boschung 2006.
[24] Zeyrek – Özbay 2006, 294 Abb. 10a-b; Şare Ağtürk 2015, Abb. 4.
[25] Şare Ağtürk 2015, Abb. 5.
[26] Zuletzt dazu: Niewöhner – Peschlow 2012.

© Eva Christof
e-mail: eva.christof@uni-graz.at

This article should be cited like this: E. Christof, Keine Europa: Zu einer Skulptur mit Siegessymbolik in Nikomedia (Izmit), Forum Archaeologiae 81/XII/2016 (http://farch.net).



HOME