Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 81 / XII / 2016

ZUR ENTSTEHUNG DES HEROENKULTES IN GRIECHENLAND

Der Heroenkult in Griechenland darf sicherlich mit einigem Recht als eine Besonderheit der griechischen Kulturentwicklung angesehen werden. Es war der Kultus an den „großen Toten“ einer irgendwie historisch verorteten Vergangenheit, die nach dem Glauben der Griechen von jenseits des Grabes eine Wirkmächtigkeit auf die Gegenwart entfalten konnten und die daher eine besondere kultische Verehrung verlangten.
Darüber hinaus darf postuliert werden, dass vom griechischen Heroenkult, und hier insbesondere von seiner aristokratischen Fraktion, den Hetairienverbänden, ein dominierender Einfluss auf die griechische Kulturentwicklung der archaischen und klassischen Epoche ausgegangen ist.
In welcher Weise das geschehen ist, will dieser Artikel im Folgenden kurz skizzieren.

Von der Popularität des Heroenkultes zeugen die zahlreichen in Kern-Griechenland aufgefundenen Heroa, von denen die ältesten vermutlich bis in homerischen Zeiten zurück reichen [1], (selbst wenn der Begriff des heros als der einer verehrungswürdigen Kultfigur zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden war [2].)
Griechische Heiligtümer beherbergten ab dem 6. Jh., als der Heroenkult schon durchaus populär war, zahlreiche Heroa: vor allem die Heiligtümer, die pan-hellenische Spiele ausrichteten, wie Nemea, Isthmia und Olympia verknüpften ihre Heiligtümer gern mit einem lokal bedeutenden Heros.
Als eines der frühesten dieser Heroa darf das Heroon des Pelops zu Olympia, das sog. Pelopion, gelten, dessen Wurzeln bis in die frühhelladische Epoche zurückreichen (Abb. 1) [3].


Die Entstehung des Heroenkultes in Griechenland ist nur unscharf zu fassen: dazu darf auf ein Zitat von M.P. Nilsson verwiesen werden, der in seiner Geschichte der griechischen Religion die griechischen Heroen als „eine sehr bunte und gemischte Gesellschaft verschiedenen Ursprungs“ [4] bezeichnet. D. Boehringer meint sogar, „der Versuch, den Begriff „Heros“ klar und eindeutig zu definieren gleicht demjenigen, einen Pudding an die Wand zu nageln, es funktioniert nicht“ [5].
Ob es in vorhomerischer (mykenischer) Zeit schon den Heros als Kultwesen gegeben hat, bleibt uneindeutig [6]. Wissenschaftlicher Konsens dagegen ist, dass der Begriff des Heros erst in homerischer Zeit geprägt wurde: der Heros bei Homer hatte aber nur die rein säkuläre Bedeutung eines Helden und Kriegers, er stand nur für ein Ehrenprädikat ohne jegliche religiöse oder kultische Bedeutung [7].
Bei Hesiod werden, mit zunehmender Popularität der homerischen Epen, die Helden von Troja und Theben dann schon als Hemi-theoi (Hes. theog. 100 u. Hes. erg. 156-171) bezeichnet und bei Pindar erscheinen die Heroen in der 2. Olympischen Ode schließlich als ein eigenes Geschlecht halbgöttlicher Wesen, denen eine dezidierte kultische Verehrung zukam.
Damit war der Heros zu einem großen Toten mit hervorragenden Taten und Fähigkeiten geworden, dessen jenseitige Macht, sich über das Grab hinaus in die diesseitige Welt erstreckte [8].
Den Gegenpart zum Heros stellt die Heroine dar. Sie taucht zuerst bei Pindar (Pind. O. 11,7) auf und empfängt den gleichen Kult wie der heros, kann aber – entsprechend ihrer biologischen Rolle – flexibler und metamorphotischer agieren (z.B. Tierformen annehmen und den Namen wechseln wie z.B. Semele, Iphigenie und Ino) [9].
Im weiteren zeitlichen Verlauf wird der Heroenbegriff dann immer unschärfer und allgemeiner: Berühmte Persönlichkeiten, Städtegründer und Kriegsgefallene konnten zu Heroen erklärt werden, ebenso wie die Prestige-süchtigen lokalen Eliten und Herrscher in hellenistischer Zeit [10].
Im Gegensatz zum Totenkult, von dem der Heroenkult vermutlich abstammt [11], umfasste der Heroenkult immer eine größere Kultgemeinde als nur den griechischen Oikos.
Der Heroenkult hatte festgefügte Rituale, die in Festkalendern verankert waren und sich über lange Zeiträume wiederholten [12]. Im Mittelpunkt stand offenbar das sogen. thysia-Opfer, ein blutiges Tieropfer, dessen Fleisch von der Kultgemeinde gemeinsam verzehrt wurde [13]. Daneben wurden im Heroenkult aber auch Theoxenien (rituelle Gastmähler für Götter oder Heroen) [14] oder das den chthonischen Göttern vorbehaltene enagisma-Opfer praktiziert [15].
Vom Götterkult war der Heroenkult daher – der Form nach – kaum zu unterscheiden, wie auch neuere Untersuchungen belegen [16]. Auch die Heroenkultstätten waren den Heiligtümern der Götter sehr ähnlich, und wenig unterschiedlich waren auch die den Göttern und Heroen dargebrachten Votivgaben [17].


Aus Quantität und Art der Votivgaben lässt sich jedoch recht eindeutig auf Heroen als Kultempfänger schließen [18]. So stellten Miniaturgefäße (Abb. 2c), Miniaturschilde, Terrakotta-Figurinen (Abb. 3) und spezielle tönerne Relieftäfelchen mit bestimmten Motiven (Reiter, Triaden, Symposianten) (Abb. 2 a-b) einen direkten Bezug zum Heroenkult her [19]. Auch tönerne Votiv-Pferde (Abb. 4), die die Schutzfunktion des Heroen abbildeten, sind kennzeichnend für den Heroenkult ebenso wie Abbildungen von Symposianten, die auf das rituelle Mahl der Kultgemeinschaft anspielen.
Hinsichtlich der Kategorisierung von Heroen und Heroinen hat die Wissenschaft verschiedene Vorschläge gemacht, die aber letztlich nur Teilaspekte des Heroenkultes berücksichtigen, sodass sie hier nur mittels einer kurzen Übersichtstabelle nach L.R. Farnell gestreift seien.

Heroen-Kategorien [20]
I. Heroen/Götter u. Heroinen/Göttinnen (regional: z.T. Götter, z.T. Heroen, z.T. Vegetationsgottheiten)
II. Sakrale Heroen und Heroinen (meist Priester/innen, nach dem Tod heroisiert und in ihrem Heiligtum begraben, z.B. Iphigenie)
III. Heroen mit weltlicher Karriere und zugleich Götter (Herakles, Asklepios, Dioskuren)
IV. Funktions- und Kultur-Heroen (stehen für bestimmte Wirkungsbereiche wie Schutz und Fruchtbarkeit, ohne Mythologie und ohne Genealogie)
V. Heroen des Epos (nach Farnell: historische, mythisch verklärte Personen, vom homerischen Epos inspiriert, mit fiktiven Gräbern)
VI. Eponyme Heroen/Heroinen (zuständig für Demen, Phylen, Städte, Landschaften, Amphiktyonien, vom Ahnen-Kult schwer zu unterscheiden)
VII. Historisch greifbare Heroen (z.B. Städtegründer, Kultgründer, Gesetzgeber); in hellenistischer Zeit: lebende Herrscher, als soter und euergetes bezeichnet


Hauptmerkmal des im 8.Jh. aufkommenden, griechischen Heroenkultes war zunächst ein vor-staatlicher, lokaler Gruppenbildungsprozess, der der Identifikation und Identitätsbildung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen diente [21].
Grundsätzlich sind hier aber aristokratische und bäuerliche Kultgemeinschaften zu unterscheiden. Die bäuerlichen Kultgemeinschaften waren meist lokale, vorwiegend auf nachbarschaftliche und soziale Ziele fixierte Gruppierungen, die strengen Normvorschriften gehorchten. Sie verehrten eher Fruchtbarkeitsheroen oder -heroinen als kriegerische Heroen. In die politischen Strukturen der sich entwickelnden Polis passten sie sich leichter ein als ihre aristokratischen Konkurrenten, die Hetairienverbände. Daher konnten diese bäuerlichen Heroenkulte gesellschaftlich auch relativ ungestört bis in spätklassische Zeit überleben [22].

Die aristokratischen Hetairienverbände dagegen hatten sich in homerischer Zeit als oikoi um einen basileus versammelt und fühlten sich durch Freundschaft und Verwandtschaft verbunden. Darüber hinaus leiteten sie sich fiktiv genealogisch von bestimmten Heroen ab, wie z.B. die Bakchiaden in Korinth, die Alkmaioniden in Athen und die Penthiliden von Mytilene [23], was ihrem Ziel einer elitären Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen durchaus entgegen kam.
In archaischer Zeit fungierten sie im Krieg primär als Kampfgemeinschaften, im Frieden als politische Interessensverbände. Sie huldigten den Prinzipien eines permanenten Konkurrenzkampfes und einer strengen sozialen Abgrenzung [24].
Sie kultivierten ein elitäres aristokratisches Ethos, das sich seit der früharchaischen Epoche (um 700 v.Chr.) zunehmend entwickelt hatte und das sich vielleicht am einfachsten in dem Begriff der „kalokagathia“ zusammenfassen lässt. Es beinhaltete ein streng normatives Gesellschaftsmodell und ein kompetitives Leistungsethos, das sich in einem aristokratischem Lebensstil und aufwendigen Grab-, Fest-, und Götterkulten darstellte. Um 600 v.Chr. erreichte die frühgriechische Adelskultur ihre volle Ausprägung [25]. Sie wurde zunehmend Stil- und Ton angebend, und man darf wohl sagen, dass sie zu Beginn der Klassik bereits als eine Art Leitkultur in der griechischen Gesellschaft etabliert war [26]. In klassischer Zeit kam es dann zu einer Art Selbstauflösung der adligen Hetairienverbände. Der Grund dafür kann in der Fortentwicklung der Polis nach den Kleisthenes-Reformen gesehen werden [27]. In der Polis und ihren neu geschaffenen Ämterstrukturen konnten die aristokratischen Hetairien nun ein adäquates politisches Aktionsfeld finden und sich um attraktive Führungsposten bewerben. Die Hetairienverbände wurden damit – zumindest im attischen Raum – zur Anpassung an das neue politische System einer sich entwickelnden Demokratie gezwungen [28]. Ihre primären Zielsetzungen wurden damit aber obsolet, sodass sie in klassischer Zeit meist nur noch als unpolitische Gemeinschaften überlebten. D.h. die Polis konnte die Heroenkulte zunehmend dominieren, teilweise übernehmen und letztlich „verstaatlichen“ [29].

Zusammenfassend lässt sich für die Kultgemeinschaften der Hetairienverbände damit feststellen, dass sie sich politisch-gesellschaftlich zwar der demokratisch organisierten Polis anpassen mussten, indessen kulturell dafür aber sehr viel autonomer und erfolgreicher agieren konnten:
Damit darf die These gewagt werden, dass die aristokratischen Hetairienverbände bis in die Klassik hinein zwar politisch zunehmend bedeutungsloser wurden, dafür aber einen zunehmenden Einfluss auf die griechische Kulturentwicklung gewinnen konnten und sie damit in entscheidender Weise formen und prägen konnten.
Die zentralen Themen der aristokratischen Eliten waren ja die des homerischen Mythos: Krieg, Jagd, Symposien, Totenrituale und Götterfeste. Aus ihnen entwickelte sich eine Ethik strenger gesellschaftlicher und ästhetischer Normen, die sich etwa unter dem Begriff der kalokagathia subsumieren lässt. Seit der spätarchaischen Epoche war aber dieses aristokratische Ethos voll ausgebildet und konnte damit nun auch zunehmend stilbildend wirken. Und auch in der sich demokratisierenden Polis blieb dieses Kulturmodell weiterhin dominierend und maßgebend.
Damit darf aber zusammenfassend davon ausgegangen werden, dass es dem aristokratischen Heroenkult mittels einer smarten Adaptation mythologisch-heroischer Genealogien und durch eine erfolgreiche Anknüpfung an eine als „groß“ erlebte, fiktive mythologische Vergangenheit zunehmend gelungen war, etwa ab 700 v.Chr. ein Ethik- und Ästhetikmodell (i.S. der kalokagathia) zu etablieren, das sich sehr erfolgreich im griechischen Kulturraum verbreitete und das damit in der Lage war, die griechische Kulturentwicklung in nachhaltiger Weise zu prägen.
Etwas überspitzt formuliert, käme damit dem griechischen Heroenkult – in seiner aristokratischen Variante – die Funktion eines Schrittmachers für die Kunst- und Kultur-Entwicklung der archaischen und klassischen Epoche zu.

Literatur
Antonacchio 1999
C.M. Antonaccio, Colonization and the Origins of Hero Cult, in: R. Hägg (Hrsg.), Ancient Greek Hero Cults, Proceedings of the Fifth International Seminar on Ancient Greek Cult, Athens 21–25 April 1995 (Stockholm 1999) 109–113
Boehringer 2001
D. Boehringer, Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit (Berlin 2001)
Ekroth 2002
G. Ekroth, The Sacrificial Rituals of Greek Hero Cults from the Archaic to the Early Hellenistic Periods, Kernos 12, 2002, 252–274
Ekroth 2012
G. Ekroth, Pelops joins the Party, Transformation of a Hero Cult within the Festival at Olympia, in: J. R. Brandt – J. W. Iddeng (ed.), Greek and Roman festivals (oxford 212, 95–137
Farnell 1921
L.R. Farnell, Greek Hero Cults and Ideas of Immortality (Oxford 1921)
Graf 2012
F. Graf, Griechische Mythologie (Mannheim 2012)
Hölscher 2007
T. Hölscher, Die griechische Kunst (München 2007)
Kübler 1959
K. Kübler, Die Nekropole des späten 8. bis frühen 6. Jhts (Berlin 1959)
Kyrieleis 2006
H. Kyrieleis, Anfänge und Frühzeit des Heiligtums von Olympia. Die Ausgrabungen am Pelopion 1987–1996, OF 31 (Berlin 2006) 1–192
Lyons 1997
D. Lyons, Gender and Immortality, Heroines in Ancient Greek Myth and Cult (Princeton 1997)
v. Mangoldt 2013
B. v. Mangoldt, Griechische Heroenkultstätten in klassischer und hellenistischer Zeit (Berlin 2013)
Nilsson 1992
M.P. Nilsson, Die Geschichte der griechischen Religion, 1. Bd., Die Religion Griechenlands bis auf die griechische Weltherrschaft, HAW 5,2 (München 1992)
Pöttscher 1961
W. Pöttscher, Hera und Heros, RhM 104, 1961, 302–354
Rohde 1898
E. Rohde, Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (Freiburg2 1898)
Welwei 1991
K.W. Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung im antiken Griechenland, in: G. Binder – B. Effe (Hrsg.), Tod und Jenseits im Altertum (Trier 1991) 50–70
Welwei 1992
K.W. Welwei, Polisbildung, Hetairosgruppen und Hetairien, Gymnasion 99, 1992, 487–500

[1] Hom. Il. 2,604; Il. 11,166.
[2] Nach Rohde 1898, 154, der sich als erster mit dem Begriff Heros in homerischer Zeit beschäftigt, ist der heros bei Homer nur „eine ehrenvolle Bezeichnung der Fürsten, auch freier Männer überhaupt“.
[3] Kyrieleis 2006, 26f.; Kyrieleis 2012, 62.
[4] Nilsson 1992, 185.
[5] Boehringer 2001, 25.
[6] Nach Pöttscher 1961, 346–348: „der mykenische Urheld“.
[7] Graf 2012, 78.
[8] DNP 5 (1998) 476–480 s.v. Heroenkult (F. Graf).
[9] Lyons 1997, 5–9. 171–172.
[10] Antonacchio 1999, 109–113; Boehringer 2001, 33f.
[11] v. Mangoldt 2013, 5.
[12] Boehringer 2001, 40–42.
[13] Ekroth 202, 252–258. 270–274.
[14] Ekroth 2012, 105.
[15] Welwei 1991, 55–57.
[16] v. Mangoldt 2013, 165.
[17] v. Mangoldt 2013, 147–180.
[18] v. Mangoldt, 2013, 180.
[19] v. Mangoldt, 2013, 179f.
[20] Farnell, 1921, 19.
[21] Boehringer 2001, 41–46; Kyrieleis 2006, 72.
[22] Boehringer 2001, 125.
[23] Boehringer 2001, 111.
[24] Siehe dazu auch die opulent inszenierten Primärverbrennungen der aristokratischen Eliten mit großen Grab-Tumuli auf dem Kerameikos von Athen des 7. Jh.s v.Chr.; Kübler 1959. Zum Konkurrenzkampf und zur sozialen Abgrenzung s. z.B. Welwei 1992.
[25] Hölscher 2007, 11–22.
[26] Hölscher 2007, 46–51.
[27] Boehringer 2001, 130f.
[28] Boehringer 2001, 120–129. Ob Kleisthenes selbst eine Auflösung der Hetairienverbände anstrebte, muss unentschieden bleiben.
[29] Boehringer 2001, 123–125.

© Frithjof Leonhardt
e-mail: kfleonhardt@posteo.de

This article should be cited like this: K.F. Leonhardt, Zur Entstehung des Heroenkultes in Griechenland, Forum Archaeologiae 81/XII/2016 (http://farch.net).



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