Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 61 / XII / 2011

MIT WERNER HERZOG IN DER CHAUVET-HÖHLE

Die Erforschung der ältesten Abschnitte der Menschheitsgeschichte ist hinsichtlich ihrer Quellenlage in erster Linie fundorientiert, d.h. sie fußt auf der Analyse der materiellen Kultur früher Jäger- und Sammlergesellschaften. Nicht selten sind diese Funde die einzige Datenquelle, mittels derer eine Rekonstruktion vergangener kulturhistorischer Prozesse und menschlichen Verhaltens vorgenommen werden kann. Zwar ermöglichen moderne archäologische Ausgrabungsmethoden und interdisziplinäre Auswertungsstrategien immer detailliertere Modelle der ökonomischen und sozialen Verhältnisse paläolithischer Gemeinschaften zu zeichnen, diese sind aber räumlich und zeitlich in ihrer Relevanz stark eingeschränkt und liefern darüber hinaus hinsichtlich der zugrundeliegenden geistigen Prozesse und Vorstellungen der Menschen kaum Hinweise. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der altsteinzeitlichen Wandkunst, wie sie uns exemplarisch in den frankokantabrischen Bilderhöhlen entgegentritt, mehr als deutlich. Mit ihr steht der Urgeschichtsforschung eine Quellengattung zur Verfügung, die in einzigartiger Weise Zugang zur Vorstellungswelt ihrer altsteinzeitlichen Hersteller und Betrachter bieten kann.
Für die aktuelle Forschung ist die Grotte Chauvet in der südfranzösischen Ardècheschlucht in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse. Im Jahr 1994 bei systematischen Geländeprospektionen entdeckt, zeichnet sich die seit der Eiszeit durch einen Felssturz verschlossene Höhle durch außergewöhnliche Erhaltungsbedingungen aus. Diese betreffen die zahlreichen Malereien und Gravierungen an den Höhlenwänden, aber auch den Höhlenboden, an dem sich sowohl Spuren der paläolithischen Besucher, darunter Feuerstellen und sogar Fußabdrücke, als auch Reste eiszeitlicher Tiere, wie der hier überwinternden Höhlenbären, bewahrt haben. Die Bildwerke selbst überraschen durch ihre künstlerische Qualität und Komposition, komplexe Darstellungstechniken, sowie durch ansonsten in der paläolithischen Wandkunst selten wiedergegebene Tierarten wie Höhlenlöwe und Wollnashorn. Die eigentliche Sensation aber ist das unerwartet hohe Alter der entdeckten Malereien, das nach Radiokarbondatierungen der verwendeten Holzkohle bei 32.000-30.000 Jahren vor heute liegt. Nach diesen Daten gehören die Bilder aus der Grotte Chauvet zu den ältesten Zeugnissen der paläolithischen Wandkunst, was zu einer weitreichenden Neubewertung der frühen Kunstentwicklung führte.

Um diese nahezu perfekt konservierte Höhlenfundstelle zu erhalten und Veränderungen des Höhlenklimas oder einen Befall der Wände durch Mikroorganismen zu verhindern, ist der Zugang zur Höhle nur wenigen Forschern für zeitlich streng limitierte Aufenthalte gestattet, während sie für die Öffentlichkeit gesperrt bleibt. Als erster Filmregisseur hat nun Werner Herzog die Erlaubnis erhalten, das örtliche Wissenschaftlerteam zu begleiten und in der Chauvet-Höhle zu filmen. Der entstandene Dokumentarfilm unterscheidet sich von anderen Wissenschaftsfilmen durch den sehr persönlichen Zugang, den Herzog zum Thema wählt. Seine Überraschung angesichts der außergewöhnlichen Schönheit der Höhle und das Staunen, das ihn beim Betrachten der Malereien befiel, sollen sich auf das Publikum übertragen. Mittels 3D-Technik gelingt es ihm die Höhle als Raum erlebbar zu machen und zu zeigen, wie Höhlenkunst in Verbindung mit der Topographie des Ortes ihre Wirkung entfaltet. Mit einer ruhigen Kameraführung und sparsam eingesetzten Schnitten, sphärischer Hintergrundmusik und von ihm selbst kommentiert läßt uns der Regisseur an seinen Aufenthalten in der Chauvet-Höhle teilhaben. Und vieles, was hier erfahrbar und fühlbar ist, gilt auch für andere Bilderhöhlen. So erhalten alle, die niemals die Gelegenheit haben werden, Höhlenmalereien wie die von Lascaux oder Altamira im Original zu sehen, durch Werner Herzogs Film einen neuen, authentischen Zugang zur Wandkunst des Jungpaläolithikums.

In dieses Konzept der persönlichen Partizipation passen auch die zahlreichen, oft unterhaltsamen Interviews, die Werner Herzog mit Mitgliedern des für die Grotte Chauvet zuständigen Wissenschaftlerteams und weiteren Experten vor Ort führt. Kritisch sehen wir hingegen, wenn Exkurse zur jungpaläolithischen Kleinkunst und frühen Musik folgen. Offensichtlich dem Informationsauftrag eines Wissenschaftsfilms geschuldet, stören diese thematisch weiterführenden Interviews den ansonsten geschlossenen Charakter des Films. Versöhnlich stimmt dann wieder der abschließende Epilog, eine absurde Filmszene in einem durch das Kühlwasser eines südfranzösischen Kernkraftwerkes gewärmten Krokodilpark, die Werner Herzogs Reflexionen über die Höhlenkunst um eine Zukunftsvision ergänzt, in der die Echsen in Folge globaler Klimaerwärmung die Landschaft um die Chauvet-Höhle bewohnen werden.

Film
Werner Herzog: „Die Höhle der vergessenen Träume“
Frankreich/USA/Großbritannien/Deutschland 2010, 90 Minuten, Farbe
Verleih: Filmladen GmbH, Wien

Literatur
Jean-Marie Chauvet, Eliette Brunel Deschamps, Christian Hillaire,
Grotte Chauvet – Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche. Thorbecke, Sigmaringen 1997.

© Ulrich Simon
e-mail: ulrich.simon@oeaw.ac.at


This article should be cited like this: U. Simon, Mit Werner Herzog in der Chauvet-Höhle, Forum Archaeologiae 61/XII/2011 (http://farch.net).



HOME