Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 57 / XII / 2010

RÖMERZEITLICHE KLEININSCHRIFTEN AUS ÖSTERREICH: ZUM ÖAW-PROJEKT T.E.NOR.

1.
Kaum eine andere Epoche hat ein so vielfältiges Spektrum an Inschriften in weiten Teilen Europas hinterlassen wie die Römische Kaiserzeit. Repräsentative Monumentalinschriften und kleinformatige Urkunden sind ebenso darunter wie Herstellerstempel oder spontane Graffiti privater Natur. In der Summe erhalten wir dadurch einen faszinierenden Zugang zur antiken Alltagswelt auch für solche Regionen, über die literarische Quellen wenig berichten.
All jenen Kleininschriften, die im Gebiet der Provinz Noricum an den Tag gekommen sind, widmet sich das von Manfred Hainzmann (Universität Graz) 1988 initiierte Projekt T.E.NOR. (Testimonia Epigraphica Norica). Aus der Beschäftigung mit den Instrumenta Inscripta Latina gingen auch die gleichnamige Ausstellung und ein internationales Fachkolloquium in Pécs 1991 hervor, dem weitere in Klagenfurt 2005, in Lausanne 2008 und in Macerata 2009 folgten [1]. Im Ausstellungskatalog von Pécs ist auch das hier gezeigte Töpfergraffito (Abb. 1) erstmals publiziert worden [2].
Das T.E.NOR.-Projekt wurde zunächst über Fördermittel des FWF finanziert, ehe es an die ÖAW kam und dort (seit 2002 beim Institut für Kulturgeschichte der Antike, seit 2006 bei der Kleinasiatischen Kommision [3], Zentrum Archäologie und Altertumswissenschaften) ein Arbeitsplatz am ÖAW-Forschungszentrum Graz eingerichtet wurde [4].
Projektziel ist die systematische Sichtung und Dokumentation der Kleinschriften aus Noricum, um diese erstmals gesamthaft – zunächst im Gebiet von Österreich – zu erfassen. Namhafte Forscher wie Rudolf Egger oder Rudolf Noll haben hier mit der Vorlage interessanter Einzelstücke oder begrenzter Materialkomplexe schon wichtige Akzente gesetzt. Die Erstellung eines umfassenden Corpus nimmt aber erst jetzt, im Zeitalter der elekronischen Datenspeicher, Gestalt an.

2.
Ein erster zeitaufwendiger Arbeitsschritt ist die Sichtung des Materials in den öffentlichen Museen und Sammlungen, soweit es nicht durch Inventarverzeichnisse erfaßt ist. Die großteils unpublizierten Fundbestände werden von Bundesland zu Bundesland nach Kleininschriften durchkämmt, wobei Hunderttausende Keramikscherben zur Durchsicht anfallen. Die angefundenen Kleininschriften werden dann vom Bearbeiter (Autopsie) nach einem vorgegebenen Schema in Text und Bild so dokumentiert, daß eine spätere Kontrolle der Lesungen möglich ist. Diesem Zweck dient ein Bildarchiv für Abreibungen, Zeichnungen und Fotos. Außerdem werden bei Importkeramik fallweise Materialproben für naturwissenschaftliche Provenienzuntersuchungen entnommen.
Ein weiterer Schritt ist die Überführung der aufbereiteten und digitalisierten Daten in die Projekt-Datenbank. Derzeit existieren rund 15.000 Datensätze in unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung. Da eine vollständige Drucklegung den Rahmen des Finanzierbaren übersteigt, wurde damit begonnen, die wesentliche Information in Materialheften mit listenförmigen Auszügen der Datenbank zu veröffentlichen und eine eingeschränkte Internetversion aufzubauen [5].
Neben der systematischen Datenerfassung in Oberösterreich (abgeschlossen, Nachträge notwendig), Salzburg, Steiermark und Osttirol (derzeit in Arbeit) erfolgt auch eine spezielle Bearbeitung kleinerer Fundgruppen, z.B. Mortarienstempel. Außerdem muß auf attraktive Neufunde flexibel reagiert werden, wenn eine rasche Begutachtung und Präsentation gewünscht ist. Dem wird insofern Rechnung getragen, als sich das T.E.NOR.-Projekt zugleich als Anlauf- und Servicestelle für Kleininschriften aus ganz Österreich versteht. Dabei gebührt den zuständigen Museumsleuten und Archäologen besonderer Dank für die freundliche und bereitwillige Unterstützung der Projektarbeit.

3.
Was ist unter dem vagen Begriff „Kleininschriften“ zu verstehen? Er dient zur Abgrenzung von den repräsentativen „Groß- oder Monumentalinschriften“ in Stein oder Bronze mit Memorialcharakter und bezeichnet eine recht heterogene Materialgruppe. Viele Kleininschriften finden sich auf Gegenständen der privaten oder häuslichen Sphäre, weshalb sich für diese Gruppe von Schriftträgern die Bezeichnung „Instrumentum (inscriptum) domesticum“ eingebürgert hat [6].

Je nach den Unterscheidungskriterien bei Schriftträger (z.B. Material, Form, Funktion), Beschriftungsart (z.B. reproduziet, individuell verfrertigt, Schreibtechnik, Schrifttyp) oder Inhalt (z.B. profan, sakral, Hersteller- oder Besitzermarkierung, Sprache) lassen sich da unterschiedliche Kategorien erstellen. Generell häufig anzutreffen sind Kleininschriften in Form von Stempelungen auf unterschiedlichen Produkten des täglichen Gebrauchs oder als Graffiti und Pinselaufschriften mit geschäftlichen oder privaten Notizen (Abb. 2-3). Aussagen zu Inhalt, Zeitstellung oder Funktion der Kleininschriften sind stärker von der Kenntnis des jeweiligen Schriftträgers abhängig als das bei Monumentalinschriften (Grab- Weih-, Bau- oder Ehreninschriften in Stein) der Fall ist [7]. Den Zusammenhang von Inschrift und Objekt veranschaulicht etwa eine Lampe aus Solva (Abb. 4) mit dem originellen Spruch (AE 1921, 62) ACCEN/DET FACEL/LAM QVI LV/CERNAM / NON HABET, „Die Fackel entzünde, wer keine Lampe sein eigen nennt“ (in sinngemäßer Übersetzung).
Da es großteils um archäologische Bodenfunde geht, setzt die Beschäftigung mit Kleininschriften eine intensivere Einbindung der Archäologie voraus als sonst in der Epigraphik üblich. Tatsächlich werden ja viele Kleininschriften durch Archäologen im Rahmen von Materialvorlagen veröffentlicht. Der Vorteil liegt dabei in der kompetenten Information zu Fundkontext und Schriftträger (Datierung!) mitsamt Bildpräsentation. Ein gelegentlicher Nachteil ist die Vernachlässigung epigraphischer Transkriptionsregeln bei der Darbietung des Inschrifttextes – besonders dann, wenn die Abbildungen keine kritische Überprüfung des Buchstabenbestandes gestatten. Allerdings sind die gängigen epigraphischen Notierungssysteme nicht auf spezifische Belange der Transkription von Kleininschriften abgestimmt [8], was zu Unsicherheiten bei der Zeichenverwendung führen kann: wenn etwa bei einem reproduzierten Töpferstempel Textteile nur deshalb fehlen, weil der Prägestempel unvollständig abgedrückt wurde oder verschmutzt war oder wenn eine Stempelung an genau derselben Stelle leicht verschoben wiederholt wurde, was zur fast vollständigen Überprägung des ersten Stempelabdrucks führte, der nur noch im Ansatz erkennbar ist.
Die abgebildete Fibelinschrift Sev(e)rinus || vivas (Abb. 5) soll zeigen, daß eine Autopsie auch bei publizierten Stücken unerläßlich ist. Es dreht sich um eine in der späteren Kaiserzeit und der christlichen Spätantike geläufige Glückwunschformel, bei der auffällt, daß der Personenname im Nominativ steht und nicht – wie zur erwarten wäre – im Vokativ [9]. Die Erstvorlage im CIL III-Band von 1873 (p. 762) zeigt im Typendruck SEVERINVS mit ER-Ligatur samt E-retro (Abb. 6), wo heute am Original bloß ein R steht. Möglicherweise stand da ursprünglich ein anderer ER-Nexus (E von R überlagert), was aber genausowenig nachweisbar ist, weil beim R nichts von einer, das E kennzeichnenden, unteren Querhaste zu sehen ist.

4.
Warum findet das Projekt in Österreich statt und beschäftigt sich speziell mit der Provinz Noricum? Dahinter steht die Absicht, erstmals die gesamte Bandbreite der Kleininschriften aus einer römischen Provinz zu erfassen. Es weiß bisher niemand genau, welche und wieviele Töpferstempel oder Graffiti noch in den Beständen der österreichischen Museen und Sammlungen schlummern. Mit dem T.E.NOR.-Projekt wird endlich das gesamte antike Schrifterbe einer Region vollständig sichtbar. Die relativ überschaubare Größe der Provinz Noricum bietet sich für ein derartiges Projekt an. In größeren Provinzen oder Regionen, wie z.B. Italien, wäre ein solches Unterfangen aufgrund der riesigen, in die Millionenen und Abermillionen gehenden Fundzahlen praktisch nicht realisierbar. Schließlich soll das T.E.NOR.-Projekt paradigmatisch zeigen, wie und mit welchen Vorgaben eine derartige Erfassung realisiert werden kann und welche Ergebnisse daraus zu gewinnen sind. Das könnte sich auch als nutzbringend für die Aufarbeitung von Kleininschriften in anderen Gebieten erweisen.

[1] Tagungsakten zu Pécs: Specimina Nova Diss. Inst. Hist. (Pécs) 7,1, 1991 und 8,1, 1992, zu Klagenfurt: M. Hainzmann - R. Wedenig (Hrsg.), Instrumenta Inscripta Latina II. Akten des 2. Internationalen Kolloquiums, Klagenfurt, 5.-8. Mai 2005. Aus Forschung und Kunst 36 (Klagenfurt 2008); 2011 finden weitere Kolloquien in Barcelona und Mainz statt: http://www.unil.ch/ductus.
[2] M. Hainzmann, Zs. Visy (Hrsg.), Instrumenta Inscripta Latina. Das römische Leben im Spiegel der Kleininschriften. Ausstellungskatalog, Pécs 1991, 101 Nr. 121 (ohne Abb.).
[3] http://www.oeaw.ac.at/klasia/.
[4] Ständiger Mitarbeiter: R. Wedenig; wiss. Leitung: M. Hainzmann (zugleich Koordinator des F.E.R.C.AN.-Projekts der Prähistorischen Kommission).
[5] Nähere Informationen besonders zur Datenstruktur: http://www.kfunigraz.ac.at/tenor/.
[6] So besitzt die maßgebliche Vorlage von Kleininschriften aus der Provinz Britannien, RIB (The Roman Inscriptions of Britain) II, Vol. II (= 9 Faszikel samt Indexband), Stroud/Gls. 1990-1995, den Untertitel „Instrumentum Domesticum (Personal belongings and the like)”.
[7] Manche der im 19.Jh. im CIL aufgenommenen Kleininschriften sind aufgrund der (aus heutiger Sicht) unzulänglichen Beschreibung der Schriftträger kaum näher zu bestimmen, vgl. hier Abb. 5-6, Zwiebelknopffibel und „fibula argentea“.
[8] Siehe die in der lateinischen Epigraphik gebräuchlichen diakritischen Zeichen in einer Übersicht von Marcus Dohnicht: http://www.csad.ox.ac.uk/varia/unicode/Dohnicht.pdf. Für die griechische Epigraphik siehe z.B. den entsprechenden Abschnitt bei B. H(udson) McLean, An Introduction to Greek Epigraphy of the Hellenistic and Roman Periods from Alexander the Great down to the Reign of Constantine (323 B.C.–A.D. 337), Ann Arbor 2002, 27-39 (Editorial Sigla).
[9] Siehe beispielsweise die Inschrift SEVERINE VIVAS auf einem Messer aus dem Gräberfeld von Salurn in Südtirol: R. Noll, Die Inschrift des Eisenmessers von San Zeno und andere Messerinschriften. Germania 32, 1954, 89-92 bes. 91 Nr. 1. – Zu derartigen Formeln vgl. G. Wesch-Klein, Glück- und Segenswünsche auf Ziegeln, in: M. Hainzmann - R. Wedenig (Hrsg.), Instrumenta Inscripta Latina II. Akten des 2. Internationalen Kolloquiums Klagenfurt, 5.-8. Mai 2005, Aus Forschung und Kunst 36, Klagenfurt 2008, 323-345.

© Reinhold Wedenig
e-mail: reinhold.wedenig@oeaw.ac.at


This article should be cited like this: R. Wedenig, Römerzeitliche Kleininschriften aus Österreich: zum ÖAW-Projekt T.E.NOR., Forum Archaeologiae 57/XII/2010 (http://farch.net).



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