Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 57 / XII / 2010

SEPULKRALMULTEN IM GRIECHISCH-RÖMISCHEN KLEINASIEN [1]

Das (monumentale) Grab – ob intra muros oder außerhalb gelegen, oft mit einer eigenen Umfassungsmauer (περίβολος) versehen – war ein Ort, an dem soziale Strukturen, die zu Lebzeiten des Bestatteten gegolten hatten, noch existierten und durch Anlage, Architektur und Dekoration sichtbar gemacht wurden: Das Grab darf als “a mirror of a life once lived” [2] aufgefasst werden; als abgegrenzter, aber nicht ausgegrenzter Bezirk in einem lebendigen Gemeinwesen, als Ort der Begegnung zwischen Lebenden und Toten. Als wichtiges Element der Grabanlage haben die Inschriften zu gelten, die nicht nur über die bestatteten Personen und deren Familien Auskunft geben.

I.Smyrna 214 (Abb. 1) [3]
Salvius Semnos erwarb das Grabmal frei von Leichnamen für sich und seine Gattin Sophe, sowie die Kinder, Nachkommen und Zöglinge. Niemand anderer hat das Recht, einen weiteren Leichnam in das Grabmal einzubringen oder es zu veräußern. Wenn aber jemand es wagt, das Grabmal zu verkaufen oder einen anderen Leichnam zu bestatten, soll er der Gerousia im Homerion 2500 Denare zahlen.

Der kurze Text aus Smyrna ist ein typisches Beispiel für kaiserzeitliche Grabinschriften aus Kleinasien. Sie enthalten regelmäßig Klauseln, die Handlungen verbieten, die das Grab im weitesten Sinne schädigen können, und den Täter mit einer Geldbuße oder anderen Strafen bedrohen. Derartige Handlungen waren etwa die unberechtigte Bestattung von Personen, die Veräußerung der Grabstätte oder die Entfernung der Grabinschrift. Empfänger der Strafzahlungen waren im Normalfall der römische fiscus, die Stadt, in welcher der Grableger beheimatet war und in der das Grab lag, ihre Heiligtümer, oder aber andere Organisationen wie private Vereine und Handwerkerkorporationen (vgl. den vorliegenden Fall aus Smyrna). Die einzelnen Elemente, aus denen diese oftmals komplexen Strafbestimmungen bestehen, sind in den verschiedenen Landschaften und Städten Kleinasiens deutlich zu unterscheiden, können aber alle einem größeren System zugeordnet werden [4].
In einem vom FWF finanzierten Forschungsprojekt werden an der Kommission für Antike Rechtsgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in den nächsten 30 Monaten die Grabinschriften der Städte Westkleinasiens untersucht und ihre rechtshistorisch relevanten Elemente analysiert und kommentiert. Eingangs ist dabei festzustellen, dass es poleis gab, in denen auf den zahlreichen Grabinschriften keine Verbote und Strafen nachgewiesen werden können. Erythrai, Lebedos, Phokaia oder Priene sind nur einige Beispiele dafür [5]. Der Gebrauch der Strafklauseln scheint in dem von uns untersuchten Gebiet vor allem in Karien sowie in Mysien und der Troas verbreitet zu sein. In größerer Zahl sind derartige Texte auch aus Lykien erhalten, die in einem Folgeprojekt untersucht werden sollen. Unter den überlieferten inschriftlichen Zeugnissen lassen sich deutlich Muster für einzelne Städte ausmachen, sowohl bei der Verwendung der einzelnen Strafklauseln als auch bei deren Formulierung. Neben relativ einfachen Texten, die – wie z.B. in Teos – regelmäßig nur das Verbot der Fremdbestattung enthalten, finden sich kompliziertere Regelungen, wie diejenigen in Aphrodisias [6] (Abb. 2): Dort werden Fremdbestattung, Entnahme von Leichnamen und die Veräußerung des Grabes nicht nur mit einer Geldbuße geahndet, sondern die Täter werden auch noch mit Verfluchung und Anklage wegen tymborychia, Grabfrevels, bedroht [7].

Überraschend ist, dass eine erste Durchsicht der Texte bereits zeigt, dass der klassische Grabraub, also die Entnahme von Grabbeigaben oder die Entfernung von Sarkophagen, in den Grabinschriften mit Sepulkralmulten kaum zu finden ist. Dieser Tatbestand war wohl in den städtischen Gesetzen geregelt und Grabräuber werden einem Strafverfahren unterworfen worden sein. Am häufigsten finden sich Verbote der Fremdbestattung und der Veräußerung von Grabstätten; das System der Grabmulten diente also im Großen und Ganzen dem Schutz der Eigentumsverhältnisse und dem Erhalt der Familien- oder Einzelgräber. Von der Bestattung waren nicht nur Fremde, sondern bisweilen auch Familienangehörige ausgeschlossen. Das Bestattungsverbot konnte vom Grabinhaber auch durch eine (ausschließliche) Aufzählung jener Personen verdeutlicht werden, denen eine Bestattung erlaubt war. In Z. 3-8 enthält das eingangs angeführte Beispiel aus Smyrna eine Kombination aus diesen beiden Möglichkeiten.
Das Kennzeichen der Grabstrafe ist die Festsetzung eines bestimmten Geldbetrages, der im Falle des Zuwiderhandelns gegen die ausgesprochenen Verbote einem bestimmten Empfänger zu übergeben ist. Wie bei der Bestrafung durch staatliche Organe heute muss diesem Rechtsakt nicht zwingend ein Gerichtsverfahren vorausgegangen sein [8]. Unter den Begünstigten nimmt der römische fiscus deutlich eine herausragende Stellung ein, wie zahlreiche Beispiele von Strafen belegen, die ausschließlich der kaiserlichen Kasse zugute kommen [9] (etwa Texte aus Ephesos, Sebastopolis, Alexandreia Troas oder Kyzikos). Einige wenige Inschriften enthalten Strafzahlungen an Heiligtümer des Kaiserkultes, die als Empfänger vermutlich eine Mittelstellung zwischen den römischen Kassen und der Heimatstadt des Grablegers einnehmen [10]. Sie dürften grundsätzlich wie Zahlungen an die städtischen Heiligtümer zu bewerten sein, wenn die Autorität des römischen Staates auch offensichtlich im Hintergrund der Drohung steht und in manchen Fällen wohl höher eingestuft worden sein wird als die Autorität der Städte. Interessant ist auch die Tatsache, dass neben städtischen Gremien und Heiligtümern Kollegien und private Vereine als Begünstigte in den Strafklauseln bestimmt werden [11]. Es scheint dem Grabinhaber freigestanden zu haben, wem er die Strafgelder für ein Übertreten der Verbote zuweisen wollte: in den meisten Fällen wird er dabei allerdings dem städtischen Brauch gefolgt sein. Nicht zuletzt finden sich – der griechischen Rechtsauffassung folgend – Prämien für diejenigen Personen, die eine Übertretung der Verbote anzeigen und die Eintreibung der Strafgelder in die Wege leiten oder selbst durchführen. Durch derartige Anreize erhoffte man sich – wie auch in anderen Texten aus dem öffentlichen Recht gut belegt – eine rege Beteiligung der Bevölkerung an der Einhaltung der Rechtsvorschriften in einer Zeit, in welcher der Staat die Strafverfolgung nicht selbst in die Hand nehmen wollte [12].
Die rechtshistorische Analyse des Graberwerbs und der Graberrichtung bildet einen weiteren Schwerpunkt der Studien. So wie die zahlreichen Veräußerungs- und Erwerbsverbote, die unter den Strafklauseln zu finden sind, liefern auch Angaben zum korrekten Erwerb von Grabstätten – zahlreich z.B. in Smyrna – wichtige Hinweise auf das Rechtsleben einer Stadt. Grabstätten konnten sowohl durch Kauf erworben werden, als auch durch verschiedene Formen der Übertragung unentgeltlich auf einen anderen Eigentümer übergehen. Gerade in diesem Bereich finden sich wertvolle terminologische Hinweise, welche die Anwendung von römischem Recht vermuten lassen [13]. Auch die Rolle der staatlichen Archive beim Kauf von Grabstätten, der Errichtung einer Graburkunde und der Weitergabe der lokalen Traditionen lässt sich anhand der Grabinschriften näher beleuchten und wird ein wichtiger Mosaikstein im Bild der antiken Polis sein.
Ein wesentlicher Punkt des Projekts ist die kontextorientierte Auswertung des epigraphischen Materials. Das Umfeld der Inschrift, konkret Anlage und Architektur sowie die topographische Lage des Grabbaus (Abb. 3), sollen je nach Möglichkeit ihrer Eruierbarkeit in das Studium der Texte einbezogen werden.

Es ist zu bedenken, dass die Grabinschrift gemeinsam mit der (sorgsamen) Wahl und Dekoration des Begräbnisplatzes eine wichtige Rolle für die (Selbst-)Repräsentation des Toten bzw. seiner toten und lebenden Familienmitglieder und Hinterbliebenen spielte. Durch die Anlage und (bildliche) Ausgestaltung sollten seine persönlichen Qualitäten ebenso unterstrichen wie Ahnenstolz zum Ausdruck gebracht werden, außerdem auf emotionale Phänomene wie Trennungsschmerz oder die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod hingewiesen werden. Was eine Bilderwelt mit Darstellungen aus der Mythologie und dem täglichen Leben erreichen sollte, konnte durch die Größe, Gestaltung und v.a. Platzierung mehrerer Sarkophage innerhalb eines Grabbaus wirksam unterstrichen werden: Soziale Hierarchien der Bestatteten werden so nicht nur dem modernen Ausgräber, sondern vor allem dem antiken Besucher einer Grabstätte unmissverständlich vor Augen geführt. Dabei ist zu bedenken, dass nur aus Epitaphen eindeutige Informationen über Namen und sozialen Status des Grabinhabers und seiner Familie zu beziehen waren. Man darf annehmen, dass Grabinschriften mit Strafbestimmungen zusätzlich die Eigentumsverhältnisse verdeutlichten und so auch statusbildende Funktion hatten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer Zugang zum Grab hatte bzw. für wen Inschriften im Inneren von Grabhäusern (!) überhaupt sichtbar waren. Man kommt hier zu Überlegungen zur Interaktion zwischen Bestatteten und Grabbesuchern, die – abseits von Begräbnis und Bestattung – wohl periodisch stattfanden und durch Riten geregelt waren. Wer (im Rahmen von Totengedenkfeiern) Zutritt zum Grabbezirk (Abb. 4) hatte, erlebte diesen mitsamt seinen architektonischen Anleihen bei Gebäuden des öffentlichen Lebens als eine Art Mikrokosmos. Inwiefern die oft sehr klein geschriebenen Inschriften (mit Androhungen von Strafen), die an schwer erreichbaren Partien von Sarkophagen angebracht sein konnten, vom Grabbesucher gelesen und rezipiert wurden, ist schwer zu beurteilen. Allerdings ist die Lesbarkeit ein wichtiger Gesichtspunkt, will man nicht davon ausgehen, dass sie nicht beabsichtigt war.
Der Kontakt mit den Forschungen vor Ort ist in diesem Projekt ebenso angestrebt wie das Aufsuchen von Museen und Depots, um an den Originalen zu arbeiten und durch Autopsie Aufschlüsse über so manche, in epigraphischen Sammelwerken unterrepräsentierten Eigenschaften der Inschriftenträger zu erhalten.
In Abstimmung mit den archäologischen Untersuchungen kann die Liste der inschriftlich verwendeten architektonischen Termini bei M. Kubinska „Les monuments funéraires dans les inscriptions grecques de l’Asie Mineure“ von 1968 eine sinnvolle Erweiterung und Verfeinerung finden, in der sich – wie bei den oben erwähnten Formulierungen und Strafklauseln – regionale Eigenheiten spiegeln.

Bibliographie:
G. Hirschfeld, Über die griechischen Grabschriften, welche Geldstrafen anordnen, Königsberger Studien 1, 1887, 84-144.
B. Keil, Über Kleinasiatische Grabinschriften, Hermes 43, 1908, 522-577.
H. Stemmler, Die griechischen Grabinschriften Kleinasiens (Strassburg 1909).
E. Rudolf, Der Sarkophag des Quintus Aemilius Aristides, DenkschrWien 230 (Wien 1992).
S. Cormack, The Space of Death in Roman Asia Minor (Wien 2004).
T. Ritti, Iura sepulcrorum a Hierapoli di Frigia nel quadro dell’Epigrafia sepolcrale microasiatica. Iscrizioni edite e inedite, in: S. Pancera (Hrsg.), Libitina e dintorni, Atti dell’XI Rencontre franco-italienne sur l’epigraphie (Rom 2004) 455-634.
K. Harter-Uibopuu, Erwerb und Veräußerung von Grabstätten im kaiserzeitlichen Kleinasien am Beispiel von Smyrna, in: G. Thür (Hrsg.), Symposion 2009, Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 20 (Wien 2010) 247-261.

[1] Forschungsprojekt „Sepulkralmulten im griechisch-römischen Kleinasien / Funerary Fines in Greco-Roman Asia Minor“ P 22621-G21.
[2] Cormack (2004) 35.
[3] G. Petzl, Die Inschriften von Smyrna I. Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien 23 (Bonn 1982).
[4] Neben den grundsätzlichen Studien von Hirschfeld (1887), Keil (1908) und Stemmler (1909) ist vor allem auf das Werk von T. Ritti zu den Grabinschriften von Hierapolis (2004) zu verweisen.
[5] Während die entsprechenden Texte aus Kos wohl dorthin verschleppt wurden, scheint Samos eine gewisse Tradition bei den Grabstrafen aufzuweisen, dem griechischen Mutterland ist die Tradition fremd. Allerdings muss auf die Grabinschriften Makedoniens verwiesen werden, in denen sowohl in lateinischer als auch in griechischer Sprache Strafklauseln aufgenommen sind.
[6] Vgl. etwa SEG 2, 602 (=McCabe Teos 197) für Teos, oder I.Aph 2007, 13.101 (Aphrodisias).
[7] E. Gerner, Tymborychia, ZSav 61, 1941, 230–275.
[8] Erst nach dem Strafausspruch konnte ein Beschuldigter gerichtlich gegen die zuständigen Behörden vorgehen, um seine Unschuld zu beweisen.
[9] Hierzu v.a. Hirschfeld (1887) mit einer Liste der Strafen 87-103, der natürlich zahlreiche Einträge aus den letzten 130 Jahren hinzuzufügen sind. Cormack (2004) 128–133.
[10] Etwa I.Smyrna 199 und 237; IAph2007 11.12; 12.1112; 13.156; McCabe, Teos 217 (CIG 3108; L. Robert, Études Anatoliennes. Recherches sur les inscriptions de l’Asie Mineure [Paris 1937] 24).
[11] Dies ist vor allem in Kyzikos und Ephesos zu beobachten, so in I.Ephesos 2212; 2226, 2446; 3711 oder in I.Kyzikos 97 und 409. Vgl. F. Poland, Geschichte des Griechischen Vereinswesens (Leipzig 1909) 122. 169; L. Robert, Hellenica XI/XII (Paris 1960).
[12] Hierzu v.a. L. Rubinstein, Volunteer Prosecutors in the Greek World, Dike 6, 2003, 87–113.
[13] Siehe Harter-Uibopuu (2010).

© Kaja Harter-Uibopuu, Veronika Scheibelreiter
e-mail: Kaja.Harter@oeaw.ac.at, Veronika.Scheibelreiter@oeaw.ac.at


This article should be cited like this: Kaja Harter-Uibopuu – Veronika Scheibelreiter, Sepulkralmulten im griechisch-römischen Kleinasien, Forum Archaeologiae 57/XII/2010 (http://farch.net).



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