Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 53 / XII / 2009

FUNDORT WIEN 12, 2009
Der neue Jahresbericht der Stadtarchäologie Wien

In Wien hat sich in den letzten Jahren vorwiegend aufgrund von Tiefgaragenprojekten die Möglichkeit ergeben, gleich mehrere Friedhöfe aus der frühen Neuzeit und jünger zu untersuchen. Markante Eckpunkte bezüglich der Bestattungsplätze stellen einerseits das Jahr 1784 dar, in dem per Hofdekret alle Friedhöfe innerhalb des Linienwalls (entspricht dem heutigen Gürtel) aufgelassen wurden, und andererseits das Jahr 1874, in welchem der Wiener Zentralfriedhof eröffnet und gleichzeitig alle kommunalen Friedhöfe geschlossen wurden.
Die zuletzt archäologisch untersuchten neuzeitlichen Friedhöfe lagen alle innerhalb des Linienwalls. Es handelt sich hierbei um den ehemaligen Friedhof des Militärspitals in Gumpendorf (Belegungszeit 1769-1784), der im Innenhof des Bundesrealgymnasiums Wien VI, Marchettigasse, aufgedeckt wurde [1], um einen Teil des einstigen Friedhofs zu St. Ulrich (Belegungszeit 1590-Ende 1873), der erst kürzlich im Innenhof eines Hauses in Wien 7, Zollergasse dokumentiert werden konnte [2], sowie um drei Friedhöfe, die auf dem Areal zwischen Sensen- und Spitalgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk in den Jahren 2005 und 2006 ergraben wurden. Diese drei letztgenannten Friedhöfe bilden auch einen thematischen Schwerpunkt im neuen Jahresbericht der Stadtarchäologie Wien (Fundort Wien 12, 2009).
Im Bereich zwischen der heutigen Alser Straße und der Währinger Straße waren schon seit Jahrhunderten verschiedene Kranken- und Siechenhäuser mit nahe stehenden Armenhäusern und den oft zugehörigen Friedhöfen angesiedelt. An Versorgungsanstalten wären etwa das auf das 13. Jahrhundert zurückgehende Siechenhaus Johannes in der Siechenals (1529 zerstört) oder das Bäckenhäusel (1656-1868), das Spanische Spital (1718-1784), das Bürgerversorgungsspital (1860-1927) und der sog. Kontumazhof (1657-1784), der Vorgänger des alten Allgemeinen Krankenhauses, zu nennen.
Von den Bestattungsarealen konnte u. a. der in Form von Massengräbern angelegte Armen- und Siechenfriedhof des Lazaretts Bäckenhäusel (1656-1784), der wohl den Pesttoten der Epidemien 1679 und 1713-1714 diente, aufgedeckt werden. Vor allem der um 1717 eröffnete Spanische Friedhof und der 1765 angelegte Neue Schottenfriedhof tragen zum Verständnis für den Umgang mit dem Tod am Übergang zur Moderne bei. So indizieren der Chlorkalk in vielen Grabgruben, die Tiefe der Schachtgräber und die Anlage der Friedhöfe in der Nähe von Spitälern bzw. die Entfernung zur Wiener Kernsiedlung bereits hygienebedingte Maßnahmen, die Joseph II. später rigoros durchsetzte. Die eher einfachen und zumeist als Massenware produzierten Trachtbestandteile, Schmuck und persönlichen Beigaben (Abb. 1) lassen auf sozial nicht sehr hoch gestellte Bevölkerungsschichten schließen. Dies wird auch durch die anthropologischen Untersuchungen bestätigt: Von den 400 untersuchten menschlichen Skeletten aus Einzel- bzw. Mehrfachgräbern zeigten fast drei Viertel aller Skelettindividuen am Knochen feststellbare krankhafte Veränderungen!

In den mittelalterlichen Ortskern von Heiligenstadt im 19. Wiener Gemeindebezirk führt eine Untersuchung der Gebäude rund um den Pfarrplatz, mit besonderem Augenmerk auf jenen Bau, der heute das Restaurant "Pfarrwirt" beherbergt (Abb. 2). Das Gebäude ist mit dem im 14. Jahrhundert genannten "Berghof" identisch, der möglicherweise anlässlich der strafferen Verwaltungsorganisation (Weinzehent-Privileg von 1339) durch das Stift Klosterneuburg errichtet wurde. Die zum Teil hochwertigen mittelalterlichen Detail- und Schmuckformen verraten, welche Bedeutung dem Bau ursprünglich beigemessen wurde. Ein durchgreifender Umbau erfolgte erst in der Barockzeit. Typologisch ist der Berghof als Saal- bzw. Hallenbau einzuordnen, der sowohl wirtschaftlich-funktionelle wie auch herrschaftlich-repräsentative Aufgaben erfüllte. Er ist als Kernbau einer umfangreicheren, mit einer Mauer umgebenen Anlage, die neben einem Torbau auch mehrere Nebengebäude umfasste, zu sehen und kann somit in die Reihe klösterlicher, teilweise auch adeliger Wirtschafts- bzw. Lesehöfe eingeordnet werden.

Ebenso von baulichem Interesse ist ein historistischer Holzpavillon, dessen erhalten gebliebenen Bestandteile einer Neuaufstellung harren, für die die vorliegende Dokumentation und Rekonstruktion (Abb. 3) als Grundlage dienen könnte. Er stammt wahrscheinlich ursprünglich aus der Abbruchmasse einer Wiener Weltausstellung oder wurde eigens für den bisher letzten Standort gebaut: als eigenständiges Gebäude auf dem Areal des im 19. Jahrhundert gegründeten Unterhaltungs- und Ausflugsbetriebs auf dem grünen Berg in Meidling - das "Tivoli".

Ein Spezialbeitrag zum römerzeitlichen Handelswesen befasst sich mit einem in Wien gefundenen Bleietikett. Solche Etiketten vermerken Namen, Dienstleistungen, Waren oder Geldbeträge und liefern mit diesen Notizen über Alltagsgeschäfte wichtige Rohdaten zum lokalen Wirtschaftsleben. Unser Stück wurde 1991 bei den Grabungen im Palais Harrach auf der Freyung im 1. Wiener Gemeindebezirk geborgen (Abb. 4), also im Bereich der canabae legionis. Das wohl mittelkaiserzeitliche Bleietikett zählt zu jenen äußerst seltenen Stücken, die neben Soldatennamen und Truppenangabe auch eine Notiz mit Geldbetrag enthalten.

Die bisherigen archäobotanischen Großrest-Untersuchungen von Erdproben aus den Grabungen in der Feuerwehrzentralwache Am Hof (Wien 1) liefern den Nachweis für eine Reihe von Nutzpflanzen, die der hier ansässigen Bevölkerung von der Römerzeit bis zum Beginn der Neuzeit zur Verfügung standen. Hier sind vor allem Getreidearten, Linsen, Kulturobst aber auch ein breites Sortiment an Wildpflanzen und Hinweise auf Waldstandorte zu nennen. Außergewöhnlich ist der Fund von etwa 3000 Steinkernen des Zwerg-Holunders im Bereich eines massiven Dachziegelversturzes der fabrica aus spätrömischer Zeit.

Eine Neuigkeit stellt die Ausgabe einer digitalen Version des Jahresberichtes dar, die vor allem für den spezialisierten Leser den Vorteil hat, auch einzelne Artikel/Beiträge käuflich erwerben zu können.

[1] M. Binder - M. Mosser, Ein Militärfriedhof der Barockzeit und ein Beitrag zur Geschichte von Gumpendorf - Grabungen im Innenhof des Bundesrealgymnasiums Wien VI, Marchettigasse 3, FWien 9, 2006, 226-247; M. Binder, Der Soldatenfriedhof in der Marchettigasse in Wien. Die Lebensbedingungen einfacher Soldaten in der theresianisch-josephinischen Armee anhand anthropologischer Untersuchungen, MSW 4 (Wien 2008).
[2] H. Krause - M. Binder, Wien 7, Zollergasse 32 - ehemaliger Friedhof zu St. Ulrich, FWien 12, 2009, 217-220.

Fundort Wien. Berichte zur Archäologie 12/2009
Aufsätze
- Constance Litschauer/Thomas Pototschnig, Ein neuzeitliches Bestattungsareal im Bereich der Sensengasse in Wien 9.
- Ingeborg Gaisbauer, Gefäßkeramisches Material aus ausgewählten Befunden der Grabungen Wien 9, Sensengasse 1-3.
- Maja Gebetsroither/Karl Großschmidt, Anthropologische Grundbestimmungen und ausgewählte Pathologien aus den drei neuzeitlichen Friedhöfen der Grabungen Wien 9, Sensengasse 1-3.
- Reinhold Wedenig, Ein Bleietikett mit Zenturiengraffito von der Freyung in Wien 1.
- Silvia Wiesinger/Ursula Thanheiser, Erste Ergebnisse von Pflanzengroßrest-Analysen der Grabung Am Hof 7-10, Wien 1.
- Heike Krause/Gerhard Reichhalter, Der "Perchhof" zu Heiligenstadt. Ein klösterlicher Profanbau und Kleinadelssitz.
- Andreas Berthold/Ingrid Mader, Ein historistischer Holzpavillon auf dem Tivoli in Wien-Meidling: Geschichte und Rekonstruktion.
Fundchronik - Grabungsberichte 2008
Wien 3, Landstraßer Hauptstraße 48 (C. Litschauer)
Wien 22, Groß-Enzersdorfer Straße 74 (M. Penz)
Wien 1, Am Hof 10 (M. Mosser)
Wien 10, Unterlaa - Klederinger Straße (Johannesberg) (M. Penz)
Wien 1, Wipplingerstraße 33/Helferstorferstraße 17 (S. Sakl-Oberthaler)
Wien 1, Neutorgasse 4-8 (I. Mader)
Wien 1, Bäckerstraße 7/Sonnenfelsgasse 8 (G. Reichhalter/J. Groiß)
Wien 2, Praterstern - Tegetthoffdenkmal (H. Krause/M. Mosser)
Wien 7, Zollergasse 32 - ehemaliger Friedhof zu St. Ulrich (H. Krause/M. Binder)
Wien 22, Aspern - ehemaliges Flugfeld (M. Penz)

FWien 12/2009
ISBN 978-3-85161-022-2, ISSN 1561-4891
Einzelpreis EUR 34,-. Abonnement-Preis EUR 25,60
Aktion FWien 2/1999 bis 12/2009 (11 Bände) zusammen nur EUR 184,-
eBook (pdf-Format)
ISBN 978-3-85161-027-7. ISSN 1561-4891
Gesamtpreis EUR 30,-. Einzelartikel EUR 2,60-11,20
Schriftentausch per E-Mail:
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