Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 45 / XII / 2007

DER MICHAELERPLATZ - ARCHÄOLOGISCH-HISTORISCHE FORSCHUNGEN ZUR SIEDLUNGSGESCHICHTE IN DER WIENER INNENSTADT

In den Jahren 1990/1991 fanden im Zentrum Wiens Grabungen statt, die schon vor Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung Berühmtheit erlangten. Dies nicht so sehr wegen der Ergebnisse, sondern wegen des neuen Platzkonzeptes von Hans Hollein. Sein Entwurf sah ein "Archäologiefeld" in der Achse Herrengasse/Reitschulgasse vor, d. h. der "Blick in die Vergangenheit der Stadt" war vorprogrammiert und es lag nun an den Archäologen, Siedlungsreste zum Beschauen freizulegen. Das letztlich auch umgesetzte Konzept löste kontroversielle Diskussionen aus, wie sie in derselben Vehemenz an eben diesem Platz schon einmal geführt wurden. Als 1911 das Loos-Haus (Abb. 1) fertiggestellt worden war, bedachte man den Bau anfangs mit einer Reihe abschätziger Bezeichnungen und doch ist er in die Architekturgeschichte eingegangen und zählt heute zu den berühmtesten der Stadt. Das "Archäologiefeld" hat zwar diesen Ruhm nicht erlangt, doch ist es im Umfeld von Loos-Haus, Michaelerkirche und der repräsentativen Einfahrt zur Hofburg zu einem sehenswerten Bestandteil des Platzes geworden, der zahlreiche Touristen anlockt (Abb. 2 und 3).

2000 Jahre "Platzgeschichte" sind es, die sich in diesem "Archäologiefeld" verbergen:

Zur Zeit der römischen Besiedlung kreuzte an dieser Stelle die Limesstraße die Richtung Donau, zur porta decumana des Legionslagers führende Verkehrsroute (Abb. 4). Ist für dieses Umfeld anfangs v. a. gewerbliche Nutzung (Schmiedewerkstätten bis in spätrömische Zeit) nachgewiesen, zeigt sich ab der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. eine Bebauung, die einen gewissen Wohnkomfort erkennen lässt. Einige Elemente der freigelegten Gebäudegruppen lassen daran denken, dass sich an dieser Straßenkreuzung eine mansio befunden hat [1].

Nach dem Rückzug der römischen Bevölkerung scheint das Areal über lange Zeit hinweg nicht genutzt worden zu sein und die ersten mittelalterlichen Funde, die dem späten 11. und dem 12. Jahrhundert entstammen, lassen nur generell eine Nutzung/Begehung des Geländes erschließen. Befunde einer Besiedlung fehlen oder konnten nicht erfasst werden. Wie auch an anderen Stellen in Wien besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Mauern der römischen Bauten wiederverwendet wurden. Auf jeden Fall wurde mit der Stadterweiterung und der Errichtung einer neuen Stadtmauer zu Beginn des 13. Jahrhunderts dieses Areal in die Stadt integriert und bauliche Maßnahmen im näheren Umfeld wären eine logische Konsequenz. Unmittelbar an der Stadtmauer ist in der Folgezeit auch die neue Burg errichtet worden.
Die Ursache für eine Lücke im Fundspektrum von ca. 150 Jahren, bis 1350, bleibt offen. Historische Quellen, die im 13. Jahrhundert einsetzen, zeigen, dass von der Interpretation einer vollständigen Unterbrechung in der Nutzung des Areals abzusehen ist. Die beiden wichtigen, in die Römerzeit zurückreichenden Verkehrsadern bestehen nach wie vor und begegnen nun als alta platea (heute Herrengasse) und forum lignorum bzw. Witmarkt (wahrscheinlich heutiger Kohlmarkt). Zudem ist die Kirche St. Michael erstmals 1267 erwähnt und der zugehörige Friedhof im Jahr 1310.
Befunde liegen in Form von Gruben und einem (mittelalterlichen?) Mauerrest vor. Die Funde aus den Grubenverfüllungen datieren vom späten 14. bis ins fortgeschrittene 15. Jahrhundert (Abb. 5). Damit kommt man in die zeitliche Nähe der Errichtung des "Paradeisgartels", eines zum Burgareal gehörenden Gartens, wofür Häuser, die zuvor auf diesem Areal standen, abgerissen wurden.
Durch bauhistorische Untersuchungen in den Kellern eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgerissenen Häuserkomplexes ("Stöckl-Häuser") - etwa in der Mitte des heutigen Platzes - konnten mittelalterliche Vorgängerbauten, die sich anhand von Schriftquellen bis in das frühe 15. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, nachgewiesen werden.
Die Quellenlage ermöglicht einen guten Einblick in die Geschichte der Häuser auf dem Gelände des heutigen Michaelerplatzes. Zahlreich war die Anzahl der Besitzer, und waren es anfangs v. a. Handwerker, ist in der Folgezeit eine Zunahme von Adeligen und Personen, die zum kaiserlichen Hof und zur Verwaltung gehören, zu vermerken.

Die eigentliche Entwicklung zum Platz erfolgte erst im 18. Jahrhundert. In einem Plan von Joseph Anton Nagel (1770-1773) ist er auch bereits mit Michaeler Platz bezeichnet. Den baulichen Rahmen bilden in Richtung Stadtmauer nun die Winterreitschule - dafür wurde das "Paradeisgartel" aufgegeben - und der Reichskanzleitrakt - für dessen Errichtung mussten einige der "Stöckl-Häuser" abgerissen werden. Schon der Entwurf von Johann Lucas von Hildebrandt für Kaiser Karl VI. aus den Jahren 1724/25 sah eine Veränderung der Baulinien vor, die zur Entstehung eines Platzes beitragen sollten. Zur Ausführung kam seine Vorstellung einer repräsentativen Burgeinfahrt jedoch nicht, finanzielle Gründe und das seit 1540 bestehende Ballhaus und spätere Hofburgtheater verhinderten dessen Umsetzung.
Das Theatergebäude und die verbliebenen "Stöckl-Häuser" wurden im Jahr 1889 abgerissen und erst zu diesem Zeitpunkt konnte das städtebauliche Konzept eines Platzes umgesetzt werden (Abb. 6).

Details zur Geschichte des Michaelerplatzes und zu den mittelalterlichen Befunden der Ausgrabungen sind im jüngsten Jahresbericht der Stadtarchäologie nachzulesen.

Fundort Wien. Berichte zur Archäologie 10/2007
Aufsätze
Heike Krause, Von der Straßenkreuzung zum Platz - Die Geschichte des Michaelerplatzes vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert
Ingeborg Gaisbauer/Gerhard Reichhalter/Sylvia Sakl-Oberthaler, Mittelalterliche Befunde der Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991)
Constance Litschauer/Kinga Tarcsay, Mittelalterliche Münz- und Glasfunde der Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991)
Alice Kaltenberger, Die mittelalterliche Keramik aus den Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991)
Autorenteam Michaelerplatz, Mittelalter, Ausgrabungen Wien 1, Michaelerplatz - Zusammenfassende Analyse der mittelalterlichen Befunde
Izida Pavic, Feinware: Becher und Faltenbecher des 2. und 3. Jahrhunderts von Wien 1, Michaelerplatz - Grabungen 1990/1991
Martin Penz, Die Bedeutung des Gemeindeberges in Wien 13, Ober St. Veit als jungsteinzeitlicher Siedlungsplatz
Tätigkeitsberichte
Bibliografisches Register, 10 Jahre Fundort Wien. Berichte zur Archäologie
Johannes Groiß, "Tag der Experimentalarchäologie" 2006 in Wien-Unterlaa
Rita Chinelli, Die Erforschung der spätantiken Produktion römischer glasierter Keramik in der Ostalpenregion und in den Donauprovinzen - Vindobona (Vorbericht)
Fundchronik

FWien 10/2007
ISBN 978-3-901232-89-3, ISSN 1561-4891
Einzelpreis EUR 34,-. Abonnement-Preis EUR 25,60
Aktion FWien 2/1999 bis 10/2007 (9 Bände) zusammen nur EUR 160,-

Schriftentausch per E-Mail: biblioarchae@ma07.wien.gv.at
Auslieferung/Vertrieb: Phoibos Verlag, Anzengrubergasse 16, A-1050 Wien, Austria
E-Mail: Phoibos Verlag, http://www.phoibos.at

[1] Zu den römischen Befunden vgl. P. Donat/S. Sakl-Oberthaler/H. Sedlmayer, Die Werkstätten der canabae legionis von Vindobona. Befunde und Funde der Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1001) - Teil 1. FWien 6, 2003, 4-57; dies. et al., Die Wohnbereiche der canabae legionis von Vindobona. Befunde und Funde der Grabungen Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991) - Teil 2. FWien 8, 2005, 24-90.

© Magistrat der Stadt Wien, MA 7 - Referat Stadtarchäologie
e-mail: biblioarchae@m07.magwien.gv.at, biblioarchae@ma07.wien.gv.at

This article should be cited like this: Magistrat der Stadt Wien, MA 7 - Referat Stadtarchäologie, Der Michaelerplatz - Archäologisch-historische Forschungen zur Siedlungsgeschichte in der Wiener Innenstadt, Forum Archaeologiae 45/XII/2007 (http://farch.net).



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