Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 41 / XII / 2006

DAS ALTER EGO DES SYMPOSIASTEN?
Zu einem attischen Schalenfragment in Greifswald

Die Bildthemen der archaischen und klassischen Satyrdarstellungen - als Bestandteile von "Dionysian Imagery" sowie von "Gegenwelten" und "Otherness" - haben in der archäologischen Bildforschung ungebrochene Konjunktur. Von den zahlreichen jüngeren Studien zur Satyr-Ikonographie in der griechischen Vasenmalerei kann hier deshalb nur eine Auswahl genannt werden [1]. Hervorzuheben wäre die Studie von Beth Cohen und Harvey Alan Shapiro, in der die Autoren verschiedene Darstellungen von Symposiasten und von Satyrn unter dem Aspekt der Normabweichung untersuchten [2]. Dieses Bedeutungsfeld ist um einen weiteren Punkt zu ergänzen. Gezeigt wird dies an einer singulären Darstellung auf einer attisch-schwarzfigurigen Schale in Greifswald, die gegenwärtig für das CVA einer genaueren Betrachtung unterzogen wird (Abb. 1-2) [3].


Archäologische Studiensammlung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Inv. Gr 258a-e.
Fußlose Kylix unbekannter Herkunft, um 510 v.Chr. Fragmentarisch erhalten, in zwei Teilen aus acht geklebten Wandungsscherben. Erhaltene Höhe: 21, 5 cm; Breite: 19, 0 cm.
Außen A und B: Symposion im Freien. Erhalten sind die Unterkörper dreier bärtiger Personen, die nebeneinander auf farbigen Kissen lagern. Einer der Symposiasten wendet seinen Kopf dem Nachbarn zu. Alle tragen punktgemusterte Mäntel und halten Zweige in den Händen. Seitlich der Personen sind Tierbeine erhalten, die zu je einer Pantherfigur zu ergänzen sind. Daneben wächst ein einzelnes großes Blatt bzw. eine gestielte Blüte oder Palmette aus dem Boden.
Innen: Satyr nach links in knieweichem Stand. Mit vorgestreckten Händen hält er eine große Schale mit abgesetztem Rand (wahrscheinlich eine Lekane [4]), um sich in das Gefäß zu erbrechen, was jedoch in großem Strahl daneben trifft. Mit roter Deckfarbe sind der Kinnbart und die Tänie im Haar des Satyrs sowie das Erbrochene hervorgehoben (Abb. 1-2).

Das Schaleninnenbild wirkt auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, da Darstellungen sich erbrechender Symposiasten oder Komasten in der attischen Vasenmalerei geläufig sind. Was aus heutiger Sicht als Grenzüberschreitung gilt, war (als Kunst der Magenerleichterung) eine verbreitete Praxis des regulierten Trinkens beim Symposion. Entsprechende Darstellungen finden sich vor allem auf rotfigurigen Schalen wie der Berliner Randschale des Brygosmalers um 490 v.Chr., hier assistiert ein Pais dem Symposiasten (Abb. 3) [5]. Cohen und Shapiro bemerkten zutreffend, daß es sich auf diesen Vasenbildern meist um bärtige Männer, mithin um routinierte Symposiasten handelt [6], während beim spontanen Erbrechen nach übermäßigem Trinken in den meisten Fällen bartlose Jünglinge dargestellt werden [7].
Es gibt somit eine direkte Verbindung zwischen der Form und Funktion der Trinkschale und ihrem Bildinhalt, der sich auf das Symposion bezieht. Wegen des fragmentarischen Zustandes der Schale kann nicht entschieden werden, ob es sich bei den Darstellungen auf den Außenseiten um ein mythisches oder nichtmythisches Gelage handelt, ob zum Beispiel Dionysos anwesend ist. Es ist jedenfalls kein Gelage von Satyrn. Die festlich gekleideten Symposiasten lagern im Freien, die Weinreben in ihren Händen sowie die Pantherfiguren weisen als sakralisierende Bildelemente auf den Bereich des Dionysos hin. In eher allgemeinen Bildformeln wird die Welt des Symposions dargestellt, während das Tondobild die Folge übermäßigen Weintrinkens thematisiert - der kollektiven Ordnung ist hier der individuelle Exzeß gegenübergestellt.
Neben den erwähnten Darstellungen sich erbrechender Symposiasten (Abb. 3) gibt es Vasenbilder mit Symposiasten und Komasten, die sich anderweitig erleichtern. So ist auf einem Chous des Oionokles-Malers um 470 v.Chr. (Abb. 4) ein älterer bärtiger Komast zu sehen, der in eine Oinochoe uriniert, die ein Pais hält [8]. Es sind weitere Darstellungen von Ausscheidungsvorgängen während des Symposions oder Komos bekannt, aber bislang keine Darstellung eines sich erbrechenden Satyrn [9]. Die Greifswalder Schale zeigt somit eine singuläre Darstellung [10]. Daß es in der Vasenmalerei kein weiteres solches Beispiel gab, ist allerdings unwahrscheinlich.
Der Greifswalder Satyr gehört zu den zahlreichen spätarchaisch-früh-klassischen Darstellungen trunkener und enthemmter Satyrfiguren, in denen es um exzessives Trinken inklusive der Folgen sowie um Musizieren und Tanzen geht. Weiterhin um teils gewaltsamen Sex mit Frauen oder mit Tieren und gelegentlich werden auch Gefäße als Sexualobjekte benutzt [11]. Ist dieser Satyr somit eine allgemeine Stellvertreter- oder Gegenfigur zum attischen Bürger als Symposiasten, durch den gezeigt werden kann, was jener offiziell nicht darf? Vermutlich ist damit mehr als die bildkünstlerische Verlagerung von individuellem affekt- und triebhaften Verhalten in den nichtalltäglichen, den mythischen Bereich gemeint. Der antike Benutzer dieser Kylix konnte in der Satyrfigur wahrscheinlich die Darstellung eines alter ego oder die Imagination einer "mythischen Glückswelt" sehen [12].
In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, auch die hinter solchen Bildern stehenden gesellschaftlich-politischen Diskurse zu reflektieren, die u.a. den Gegensatz zwischen kollektiven und individuellen (z.B. bürgerlichen und aristokratischen) Verhaltensnormen zum Inhalt haben [13]. Am Beispiel des Symposions (Abb. 3-4) sowie der erwähnten Satyrdarstellungen auf Vasenbildern zeigt sich dies besonders deutlich. Solche Satyrn sind demnach nicht nur die mythischen Projektions- und Gegenfiguren für den nichtmythischen Symposiasten, die im Bild den Bereich des Exzesses vertreten und somit stellvertretend die Normabweichung bzw. den limitierten Ausnahmezustand verkörpern. In einer mehr politischen Lesart dieser Bilder ermöglichen sie auch die Identifikation mit individuellen (aristokratischen, tyrannischen) Normen, Idealen und Verhaltensweisen [14].

[1] T.H. Carpenter, Dionysian Imagery in archaic Greek art. Its development in black-figure vase painting (1986) 77-97; G. Hedreen, Silens in Attic black-figure vase painting (1992); A. Heinemann, in: T. Hölscher (Hrsg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike (2000) 321-349; C. Isler-Kerényi, Dionysos nella Grecia arcaica. Il contributo delle immagini (2001) 39-80; dies., Civilizing violence. Satyrs on 6th century greek vases (2004); M. Steinhart, Die Kunst der Nachahmung. Darstellungen mimetischer Vorführungen in der griechischen Bildkunst archaischer und klassischer Zeit (2004) 101-126.
[2] B. Cohen - H.A. Shapiro, The Use and Abuse of Athenian vases, in: A.J. Clark - J. Gaunt (Hrsg.), Essays in honor of Dietrich von Bothmer (2002) 83-90. Zum Themenbereich Andersartigkeit und Normabweichung: B. Cohen (Hrsg.), Not the Classical Ideal. Athens and the Construction of the Other in Greek Art (2000).
[3] Beazley Archive Number 16675; A. Hundt - K. Peters, Greifswalder Antiken (1961) 45 Kat. 258 Taf. 21; CVA Greifswald in Vorbereitung.
[4] Zum Gefäßtyp Lekane: M. Kanowski, Containers of Classical Greece. A handbook of shapes (1983) 90-93; G. Lüdorf, Die Lekane. Typologie und Chronologie einer Leitform der attischen Gebrauchskeramik des 6.-1. Jh. v.Chr. (2000) 10.
[5] CVA Berlin (2) Taf. 69, 1-4, Randschale des Brygosmalers um 490 v. Chr., Außen: Symposion und Komos. Innen: Symposiast in Himation und mit Bürgerstock, der sich in ein metallenes Becken erbricht, wobei ihm ein Pais den Kopf hält.
[6] Cohen - Shapiro a. O. 89 "These experienced symposiasts relieve themselves for the next round".
[7] Ebd. "Youths who have overindulged ... appear to vomit spontaneously".
[8] Ehemals Berlin V.I. 3198, M. Miller, Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung. Dokumentation der Verluste V.1 (2005) 170.
[9] Cohen - Shapiro a.O. 89 "Of the activities involving vases discussed in this study, vomiting is the only one for which, to our knowledge, no preserved examples depict satyrs". Weiterhin R.F. Sutton Jr., in: Cohen (Hrsg.) a. O. 180-202.
[10] Übereinstimmend H.A. Shapiro (Baltimore), dem ich für Auskünfte danke.
[11] Cohen - Shapiro a.O.
[12] A. Heinemann, in: T. Hölscher (Hrsg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike (2000) 321-349; R.-M. Schneider, ebd., 351-389.
[13] Demnächst zu diesem Thema E. Kistler (Zürich), dem Autor danke ich für die Überlassung seines Manuskriptes vor dem Druck.
[14] Kistler a.O.

© Regina Attula
e-mail: attula@uni-greifswald.de

This article should be cited like this: R. Attula, Das Alter Ego des Symposiasten? Zu einem attischen Schalenfragment in Greifswald, Forum Archaeologiae 41/XII/2006 (http://farch.net).



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