Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 25 / XII / 2002

DIE ARCHITEKTUR BOISCHER GRABBAUTEN
zwischen Wienerwald und Leithagebirge*

In Bruck an der Leitha ist heute im so genannten Ungarturm, einem Befestigungsturm der mittelalterlichen Stadt, das Heimatmuseum untergebracht. Im Erdgeschoß gibt es eine kleine römische Sammlung, die Fundgegenstände aus Bruck an der Leitha und der unmittelbaren Umgebung zeigt. Die auffälligsten Objekte dieser Sammlung sind zwei ca. 2,30 m hohe Grabsteinplatten (Abb. 1-2) [1]. Im nebenstehenden Text ist der nahe gelegene Fundort Göttlesbrunn angegeben. Die beiden Platten wurden in sekundärer Verwendung als Teile eines spätantiken Steinkistengrabes aufgefunden. Der Text interpretiert auch die ursprüngliche Funktion der Steine: Sie werden als Teile einer Grabädikula bezeichnet.

Die Steinplatten weisen folgende charakteristische Merkmale auf:
.) eine 17 bzw. 25 cm breite und 2 cm tiefe Abarbeitung (Falz) entlang dem gesamten rechten bzw. linken Rand der figürlich gestalteten Seite
.) eine rechteckige 6 bis 7 cm tiefe Ausnehmung an einer oberen Ecke, wobei beide Stücke keine Klammer- oder Dübellöcher aufweisen
.) Reliefs eines Totenmahls bzw. einer Wagenfahrt im Bereich der oberen Hälfte
.) eine pilasterartige Gliederung an je einer Schmalseite, allerdings nur im obersten Drittel ausgeführt
.) zahlreiche Reste von Bemalung auf der gesamten reliefierten Steinoberfläche, insbesondere an den szenischen Darstellungen und an den Pilasterkapitellen. Oberhalb der Reliefs sind rote Farbreste von gemalten Girlanden auszumachen.
Die ursprüngliche Aufstellung der offensichtlich zusammengehörigen Platten ist durch die Reliefierung und den Falz bzw. durch die Pilaster an der Schmalseite vorgegeben. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Seitenwände eines Denkmals im sepulkralen Kontext handelt, deren Innenseiten die genannte Reliefierung und Bemalung aufweisen, deren Außenseiten allerdings nur grobe Bearbeitungsspuren zeigen.

Reliefierte Seitenwände mit Falz kennen wir im provinzialrömischen Bereich zunächst auch aus der näheren Umgebung von Bruck an der Leitha, also aus dem nordwestpannonischen Bereich rund um das Leithagebirge. Fundorte solcher Steine unmittelbar an den Hängen des Leithagebirges sind Bruckneudorf, Au am Leithagebirge, Loretto, Jois und Parndorf. Etwas entfernt liegen Göttlesbrunn, ca. 10 km nördlich des Leithagebirges, Potzneusiedl, Weiden am See und Zwölfaxing südöstlich von Wien (Abb. 3) [2]. Neben den soeben vorgestellten Motiven der Wagenfahrt und des Totenmahls zeigen die Reliefs Ganzfigurendarstellungen von Frauen in einheimischer Tracht sowie im Fall der Grabplatte von Au am Leithagebirge einen stehenden Soldaten oder calo.
Ihnen allen gemeinsam ist ein über die gesamte Länge des Steines führender Falz, eine nur grob bearbeitete Außenfläche sowie ihre Auffindung in zweiter Verwendung als Teile von Steinkistengräbern des 4. Jahrhunderts. Das bedeutet, dass die Grabbauten, die aus diesen Bestandteilen zusammengefügt waren, schon in der Antike zerstört waren bzw. dass deren Teile in spätrömischen Friedhöfen Verwendung fanden.
Auf weitere Vergleichsbeispiele trifft man zunächst im äußersten Osten Pannoniens [3], es sind dies zum Beispiel die allerdings beidseitig bearbeiteten bzw. reliefierten Steinplatten aus Aquincum, Bölcske, Csákvár, Zsámbék und Intercisa-Dunaújváros, die ebenfalls einen breiten Falz an der Innenseite aufweisen und die völlig zu Recht als Seitenteile von Grabädikulen interpretiert werden (Abb. 4) [4]. Die Innenseiten zeigen Ganzfigurendarstellungen von Frauen in einheimischer und Männern in römischer Tracht. Die Außenseiten zeigen meist mythologische Motive. Auch diese Teile sind in sekundärer Verwendung in spätantiken Nekropolen gefunden worden [5].
In viel größerer Menge begegnen uns allerdings Seitenplatten von Grabbauten in Dakien [6]. L. Teposu-Marinescu konnte in Dacia superior und Dacia Porolissensis, zwischen Porolissum und Sarmizegetusa mit Schwerpunkt in Napoca, Potaissa und Micia, 74 nur auf der Innenseite reliefierte Seitenwangenplatten ausfindig machen, die einen den Steinen vom Leithagebirge entsprechenden Falz aufweisen. Die Reliefs sind zum Teil von hoher künstlerischer Qualität und zeigen zumeist Frauen und Männer in römischer Tracht beim Opfer, im Kampf, auf Pferden, beim Pflügen, zum Teil als Ganzfigur oder im Brustbild und dies oft in zwei oder drei Registern übereinander mit jeweils unterschiedlichen Motiven. Im Unterschied zu den Seitenwänden vom Leithagebirge, die nur in der oberen Hälfte mit singulären Szenen reliefiert sind, zeigen die dakischen Platten meist Darstellungen über die gesamte Plattenhöhe verteilt. Teposu-Marinescu datiert diese zumeist in die zweite Hälfte des 2. bzw. ins 3. Jahrhundert. Daneben existieren in Dakien, im Gegensatz zu Nordwestpannonien, auch zahlreiche beidseitig bearbeitete Seitenwangenplatten sowie Frontplatten mit den Porträts der Verstorbenen [7]. Die Fundumstände der Seitenwandstücke in Dakien sind oft nicht genauer bekannt, sehr viele waren als Spolien an Schlössern, Kirchen und Häusern angebracht, andere sind Altfunde ohne nähere Fundortangaben, einige stammen aus antiken Nekropolen.
Tatsächlich erlaubte aber schon Ende des 19. Jahrhunderts eine originale Befundsituation im dakischen Micia die Rekonstruktion einer so genannten "Grabkapelle", also einer Ädikula mit Sockel, beidseitig reliefierten Seitenwänden, einer Rückwand mit den Porträts der Verstorbenen sowie einem Giebeldach mit Pinienzapfenbekrönung und Löwenakroteren [8]. Nach Teposu-Marinescu gehören Löcher für Klammern an der Oberseite, die die einzelnen Wandstücke miteinander verbinden, zu den Charakteristika dieses Denkmaltyps [9].
In der Forschungsgeschichte war die Rekonstruktion der Ädikula von Micia richtungsweisend bei der Interpretation von Grabplatten mit seitlichem Falz, zumal auch in Noricum, im steirischen Donawitz, eine römische Grabkapelle etwas anderer Bauweise wieder errichtet werden konnte [10] und somit über das Vorhandensein dieses Grabbautyps kein Zweifel mehr bestand.
Folgt man diesem Aufstellungsschema von Seitenplatten mit Falz, so ergibt sich für die beiden Steine in Bruck an der Leitha die abgebildete Rekonstruktion (Abb. 5): Die Rückwand ist nicht erhalten, dafür kämen oben gerade abgeschlossene Stelen mit Inschrift bzw. mit den Porträts der Verstorbenen in Frage, die im Umkreis des Leithagebirges zu finden wären [11]. Auch das Giebeldach ist eine hypothetische Variante. Für die obere, vordere Ausnehmung bietet sich ein Architrav, vielleicht geschmückt mit szenischem Fries an.
Doch es sind zwei Komponenten, die diese Rekonstruktion in Zweifel ziehen lassen:
Das sind die nicht reliefierten Außenflächen eines freistehenden Grabbaues, die bei einem repräsentativen Grabmal eher unwahrscheinlich wären, wobei allerdings die Möglichkeit einer Bemalung nicht auszuschließen ist. Auch sind die Pilaster nur im oberen Bereich der Schmalseiten ausgeführt, was vermuten lässt, dass der Bereich unterhalb ursprünglich verdeckt war.
Der ins Innere des Grabdenkmals gerichtete Dekor und dessen Beschränkung auf die obere Hälfte lassen an eine Verbindung der Steinplatten mit Falz mit der Architektur römerzeitlicher Grabhügel denken. Dieser Ansatz ist, wie aus der Verteilungskarte (Abb. 3) ersichtlich ist, nahe liegend, kann archäologisch bisher aber nicht wirklich bewiesen werden, das heißt mit Ausnahme eines Fragments im Tumulus II von Weiden am See wurde eine derartige Steinplatte nie im Zusammenhang mit Grabhügeln aufgefunden. Ich möchte trotzdem einige Punkte anführen, die dieser Argumentation Gewicht verleihen sollen:
Besser erhaltene Befunde von Hügelgräbern zeigen deren architektonische Ausgestaltung (Abb. 6). So scheint es, dass im Dromos, also im Zugangsbereich, jene Seitenwände den Eingang zur Grabkammer flankiert haben könnten. Etwa auf halber Höhe wäre dann der Türsturz der Grabkammer an die Falze gesetzt und im oberen Teil ein titulus (Inschrifttafel) eingelassen worden. Die Höhe der Wandstücke gäbe dann die Mindesthöhe für den anzunehmenden Grabhügel vor. Dort wo die Pilastergliederung an den Schmalseiten aufhört, wäre die Dromosmauer anzusetzen, die den Hügel seitlich abstützte. Die Außenflächen der Seitenwände wären damit vom Erdreich des Hügels großteils abgedeckt worden, wodurch sich eine Bearbeitung, geschweige denn eine Reliefierung erübrigte (Abb. 7).

Zusammengefasst ist festzustellen, dass im Gebiet um das Leithagebirge bis hin zum Wienerwald wahrscheinlich von der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. an und während des gesamten 2. Jahrhunderts mit Grabdenkmälern der einheimischen Boier und auch der römischen Bevölkerung des ländlichen Raumes zu rechnen ist, deren Architektur jene Grabplatten mit Falz aufweist, entweder als Teile einer freistehenden Grabädikula oder im Zusammenhang mit Tumuli oder in einem bisher noch unbekannten Kontext. Jedenfalls sind diese Seitenwände geographisch vorerst auf das Gebiet der keltischen Boier im nordwestpannonischen Raum im Hinterland von Carnuntum und Vindobona beschränkt. Mit der Eroberung Dakiens zu Beginn des 2. Jahrhunderts und der damit verbundenen Umsiedlung von Provinzbewohnern auch aus dem pannonischen Raum, könnten diese Formen der Grabarchitektur auch in der neuen Provinz zur Anwendung gekommen und weiterentwickelt worden sein. So wie es Hinweise auf pannonischen Einfluss in Dakien durch Keramik, durch epigraphische Belege, aber auch durch kunstgeschichtliche Aspekte gibt [12], so könnte auch für diese Seitenwände mit Falz zumindest ein gewisser Einfluss aus der nordwestpannonischen und, vielleicht noch mehr, aus der ostpannonischen Grabarchitektur geltend gemacht werden. Diese Grabmäler werden in Dakien bis zum Ende der Römerherrschaft in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts errichtet, in Pannonien werden sie spätestens im 4. Jahrhundert systematisch zerlegt und als Bauteile für Körpergräber wieder verwendet.

Abgekürzt zitierte Literatur:
CSIR Österreich I, 3: M.-L. Krüger, Die Reliefs des Stadtgebietes von Carnuntum. I. Teil: Die figürlichen Reliefs, CSIR Österreich I, 3 (1970).
Intercisa I: L. Barkóczi u. a., Intercisa I - Geschichte der Stadt in der Römerzeit, Archaeologia Hungarica 33 (1934).
Teposu-Marinescu: L. Teposu-Marinescu, Funerary Monuments in Dacia Superior and Dacia Porolissensis, BAR Internat. Ser. 128 (1982).

[*] Eine umfassende Analyse der vorgestellten Denkmalgattung wurde kürzlich in Fundort Wien. Berichte zur Archäologie 5, 2002, 128-139 vorgelegt.
[1] M. Stiglitz, Steinkistengrab und Grabaedicula aus Göttlesbrunn, PAR 32, 1982, 10f.
[2] Zs. Visy, Die Wagendarstellungen der pannonischen Grabsteine (Pécs 1993) Nr. 1 (Zwölfaxing), Nr. 3 (Parndorf), Nr. 9 (Loretto); CSIR Österreich I, 3, Nr. 249 (Potzneusiedl), Nr. 254 (Weiden am See), Nr. 260-261 (Margarethen am Moos), Nr. 266-267 (Zwölfaxing), Nr. 312 (Bruckneudorf), Nr. 320 (Au am Leithagebirge), Nr. 325 (Göttlesbrunn); PAR 23, 1973, 22f (Zwölfaxing); A. Diebold, Die römerzeitlichen Steindenkmäler des Eisenstädter Landesmuseums und ihre Bedeutung für den nordwestpannonischen Raum (unpubl. Diss. Univ. Wien 1993) 57 Taf. 23 (Jois).
[3] Zwei ebenfalls nur innen reliefierte, offenbar zum selben Denkmal gehörige Seitenwandteile (oben bzw. unten gerade abgebrochen) mit Attisfiguren an der vorderen Schmalseite, mit den Porträts der Verstorbenen auf der Innenseite (3 stehende bzw. 2 sitzende [?] Personen) sind im Museum von Tata aufbewahrt, sie stammen aus Almászfüzito (Azaum) im Gebiet der Azaler, also westlich der nun folgenden Fundorte; unpubliziert (?).
[4] Vgl. G. Erdélyi, A római köfaragás és köszobrászat Magyarországon. Die römische Steinmetzarbeit und Skulptur in Ungarn (1974) Nr. 104b, 106b, 107b (Intercisa), Nr. 109 (Zsámbék), Nr. 110 (Csakvar), Nr. 118 (Aquincum); Intercisa I, Nr. 148-161a (Intercisa); CSIR Ungarn VII. Die Skulpturen des Stadtgebietes von Sopianae und des Gebietes zwischen der Drau und der Limesstrecke Lussonium - Altinum (1991) Nr. 91ab, Nr. 92 (Bölcske).
[5] s. z.B. Intercisa I, 201.
[6] s. Teposu-Marinescu 205-218.
[7] s. Teposu-Marinescu 198-222.
[8] AEM 1894, 24 Abb. 3; Teposu-Marinescu 33f. Taf. XXXIV, AE 1.
[9] Teposu-Marinescu 34.
[10] A. Schober, Die römischen Grabsteine von Noricum und Pannonien, SoSchrÖAI 10 (1923) 195 Abb. 203.
[11] Vgl. CSIR Österreich I, 3.
[12] Vgl. zusammenfassend RE Suppl. 14 (1974) 626-647 s. v. Sarmizegethusa (C. Daicoviciu).

© Martin Mosser
e-mail:
mos@gku.magwien.gv.at


This article will be quoted by M. Mosser, Die Architektur boischer Grabbauten zwischen Wienerwald und Leithagebirge, Forum Archaeologiae 25/XII/2002 (http://farch.net).



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