Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 21 / XII / 2001

NEUDATIERUNG EINER MARMORKLEINPLASTIK IN AQUILEIA

Im Museo Nazionale in Aquileia befindet sich eine kleine Statuette einer Tänzerin oder Mänade [1], die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen soll (Abb. 1). Gemäß den Angaben in einer Publikation von 1991 [2] besteht die Statuette aus weißem Marmor, ist 49 cm hoch, hat eine Breitenerstreckung von 18,5 cm und eine Tiefenerstreckung von 12 cm. Es fehlen der rechte Arm, ein Teil der linken Hand und die Basis. Die Statuette wurde ohne nähere Erklärung in die Zeit des 1.Jhs. v.Chr. bis ins 1.Jh. n.Chr. datiert.
Trotz der drei Bruchstellen im Bereich der Knie, am Halsansatz und unterhalb des linken Arms sowie einer Zerstörung im Bereich des Kinns, des Mundes bis unterhalb der Nase, und mehrerer fehlender Teile (rechter Arm, Teil der linken Hand, Basis, Teil der Stütze) bietet sich insgesamt eine äußerst reizvolle Darstellung. Hinzu kommt die sehr qualitätvolle technische Ausführung. Aufgrund der Stege, die sich am linken Vorderarm und an der rechten Schulter befinden, kann zu Recht auf ein sich hinter der Gestalt blähendes Velum geschlossen werden. Auffallend sind die raffinierte Bewegtheit und die raumerobernde Haltung, die durch das leichte Heranschweben der Figur und durch die ausgreifende Armbewegung erzeugt wird.
Das Motiv des Heranschwebens ist bei der im 3.Jh. v.Chr. geschaffenen Nike von Samothrake erstmals verwendet worden [3]. Das von der Schulter gleitende Gewand, die hohe Gürtung sowie ein Stoff, bei dem die Körperformen durchscheinen, sind ebenfalls in hellenistischer Zeit weitverbreitete Elemente [4]. Daraus eine Datierung der Aquileienser Statuette in hellenistische Zeit abzuleiten wäre vorschnell, da das Gewandschema auch in der Kaiserzeit auftritt: beispielsweise bei Mänaden auf dionysischen Sarkophagen in der 2. H. des 2.Jhs. bis zur 1. H. des 3.Jhs. n.Chr. (Abb. 2) [5] und bei der sich dem schlafenden Endymion nähernden Selene von einer Tischfußgruppe im Kunsthistorischen Museum in Wien aus der 2. H. des 3.Jhs. n.Chr. (Abb. 3) [6].


Die Hauptdatierungsmethode für griechische und römische Idealplastik ist und bleibt die Einordnung anhand von stilistischen Merkmalen [7]. Mehrere jüngere Studien haben ein neues Fundament für die Untersuchung von Idealplastik geschaffen, dessen hypothetischen Modell nicht die Abfolge "ein meisterhaftes Original - viele Kopien", sondern einen vielschichtigen Rezeptionsprozess annimmt [8]. Die ständige kreative Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen, manchmal jahrhundertealten Bildelementen und ganzen Bildschemata gewährleistet die ständige Tradierung klassischer und hellenistischer Formen. Da das Figuren- und Gewandschema der Aquileienser Statuette durch dieses Phänomen bedingt für eine Datierung nicht ausreicht, muß nach anderen Anhaltspunkten Ausschau gehalten werden.
Den wichtigsten und überzeugendsten Datierungshinweis vermag die Gestaltung des Kopfes zu geben. Die charakteristische Art der Augenbohrung [9] mit der kleinen runden Pupillenbohrung, die länglich ovale Kopfform, die vollen glatten Wangenflächen, der Mittelscheitel, die unregelmäßigen, z.T. mit dem Meißel z.T. mit dem Bohrer gearbeiteten Strähnen des Haares und die winzige oberhalb der Stirn sich aus dem Haar lösende Locke zeigen exakte Übereinstimmungen bei einem Köpfchen aus dem gallischen Dijon (Abb. 4). Dieses Köpfchen wird einstimmig ins 4.Jh. n.Chr. datiert [10]. Der Vergleich hat insofern weitreichende Folgen, als er zur Auseinandersetzung mit einer Reihe von kleinformatiger idealer Marmorrundplastik führt, welche erst in den 90-er Jahren eingehender untersucht und in überzeugender Weise dem 4.Jh. n.Chr. zugewiesen wurde [11].
Manche Details der Aquileienser Kleinplastik können isoliert gesehen nicht exakt datiert werden, stehen aber in ihrem Zusammenspiel durchaus in Einklang mit der späten Datierung. Ein sich hinter der Person blähendes Gewandstück, ein Velum, scheint in der antiken Bildsprache frühestens im 1.Jh. v.Chr. aufzutreten [12]. In der kaiserzeitlichen und spätantiken Kunst wird es häufig zur Rahmung und Inszenierung mythologischer Personen eingesetzt [13]. Die auffallend sorgsam und glatt polierte Oberfläche mit dem besonderen Glanz tritt in der kaiserzeitlichen Porträtplastik ab antoninischer Zeit auf [14] und kann ab dieser Zeit bis in die Spätantike an Marmorskulpturen beobachtet werden [15]. Am linken Unterarm und an der linken Hand der Statuette befinden sich kleine Stützstege. Derartige Stützkonstruktionen ermöglichen einen gewagteren Figuren- und Gruppenaufbau mit abstehenden Gewandteilen oder Extremitäten. Das Vorhandensein von zahlreichen kleinen Stützstegen ist ein ab der mittleren Kaiserzeit bis zur Spätantike bei Marmorkleinplastik vorkommendes Merkmal [16].
Die Binnengestaltung der Falten unterstützt die Datierung ins 4.Jh. n.Chr.: Bei der Aquileienser Kleinplastik sind die Falten im Bauchbereich als teigige Rundbögen gestaltet, die von seitlichen Falten gerahmt werden. Diese seitlichen Falten beginnen unter der Gürtung und nehmen einen relativ starren, parallelen Verlauf, bis sie im unteren Drittel plötzlich knicken und schließlich mäanderförmig enden. Zwar besteht bereits bei der Mänade des antoninischen Sarkophags (Abb. 2) hinsichtlich der Falten und des Wegstehens des Gewandes beim Fuß eine Ähnlichkeit, aber der typische Knick der Gewandfalten findet den besten Vergleich in dem Gewanddetail einer reitenden Amazone auf einem Relief des 4.Jhs. n.Chr. aus der südgallischen Villa von Chiragan [17]. Die Gestaltung der Falten an der Bauchplatte als teigige Rundbögen hat die Aquileienser Statuette mit einer ebenfalls ins 4.Jh. n.Chr. datierten Frauenfigur aus Nérac [18] gemeinsam.
Trotz des "hellenistisch" anmutenden Gepräges [19] der Aquileienser Statuette weisen Kopfgestaltung und Gewandfaltenführung die größten Übereinstimmungen mit den in Gallien gefundenen kleinformatigen Marmorskulpturen des 4.Jhs. n.Chr. auf. Da das Material, aus dem die in Gallien gefundene Marmorkleinplastik gefertigt ist, nicht vor Ort vorhanden war, mußte es importiert worden sein [20]. Verantwortliche bzw. impulsgebende Werkstätten sind am ehesten in Kleinasien denkbar. Da der für die spätantike Idealskulptur insgesamt erschlossene "Kunstkreis" [21] keinen tatsächlich einheitlichen Stil aufweist, sondern jeweils unterschiedliche Kombinationen einzelner Charakteristika festzustellen sind und die geographische Verbreitung sehr weit ist, konnte noch keine sicherer Nachweis über den/die Herstellungsort(e) erbracht werden. Als Zentren wurden die in der Bildhauerei traditionsreichen Stätten Ephesos, Aphrodisias und Konstantinopel in Erwägung gezogen [22] bzw. eine von Aphrodisias ausgehende das Kunstschaffen in Konstantinopel beeinflussende Schule angenommen, die im weiteren auf die Anfertigung von Idealplastik in Rom und anderswo wirkt [23]. Die Herkunftsfrage ist bei weitem nicht geklärt. Durch die Marmorkleinplastik aus Aquileia kann vorerst nur der Denkmälerbestand an kleinformatiger Marmoridealplastik des 4.Jhs. n.Chr. erweitert werden.

[1] Aquileia, Museo Archeologico Nazionale, Inv. Nr. 2620.
[2] Aquileia Romana. Vita pubblica e vita privata. Museo Archeologico Nazionale e Museo Civico di Aquileia, 13 luglio - 3 novembre 1991 (1991) 93 Kat. Nr. 5 (M. R. Mezzi).
[3] Zur Nike von Samothrake, Louvre MA 2369, vgl. R.R.R. Smith, Hellenistic Sculpture (1991) 77. 241 Abb. 97.
[4] LIMC VI (1992) s.v. Nike 469* - 476* (A. Moustaka, A. Goulaki Voutira, U. Grotte).
[5] Z.B. die Mänade auf einem Sarkophag im British Museum, ehemals Rom, Santa Maria Maggiore: F. Matz, Die dionysischen Sarkophage II (1968) Nr. 88 Taf. 113, oben; Mänaden auf einem Wannensarkophag in Blenheim Oxfordshire: F. Matz, Die dionysischen Sarkophage I (1968) Nr. 45 Taf. 47.
[6] Vgl. besonders die Selene von einem Marmortischfuß in Wien, Kunsthistorisches Museum I 1161, ehem. Catajo D 475: LIMC III (1986) s. v. Endymion 34* (H. Gabelmann).
[7] Zu einer Standortbestimmung der Stilforschung in der Archäologie s. A. H. Borbein, Formanalyse, in: A.H. Borbein - T. Hölscher - P. Zanker (Hrsg.), Klassische Archäologie. Eine Einführung (2000) 109ff.
[8] S.F. Schröder, Römische Bacchusbilder in der Tradition des Apollon Lykeios (Archaeologica 77, 1989) 1-10; E. Bartman, Ancient Sculptural Copies in Miniature (1992) 187ff.; A. Klöckner, Poseidon und Neptun. Zur Rezeption griechischer Götterbilder in der römischen Kunst (Saarbrücker Studien zur Archäologie und Alten Geschichte 12, 1997); C. Landwehr, Die römischen Skulpturen von Caesarea Mauretaniae I, Idealplastik (AF 18 [1993]) 14-16; C. Landwehr, Konzeptfiguren - Ein neuer Zugang zur römischen Idealplastik, JdI 113, 1998, 139ff.
[9] Das bloße Vorhandensein einer Augenbohrung bei Marmorskulpturen ist kein ausschließliches Datierungskriterium: K. Parlasca, AA 1967, 547ff. bes. 550ff. Bereits die marmornen Masken der Casa degli Amorini Dorati, die mit Sicherheit vor 79 n.Chr. entstanden sind, haben gebohrte Augen: F. Seiler, Casa degli Amorini Dorati VI, 16,7,36 (Häuser in Pompeji 5 [1992]) Abb. 594. 600-601. 603. 608 (Masken).
[10] Dijon, Archäologisches Museum: L.M. Stirling, Late Antique Goddesses and Other Statuary at the Villa of La Garenne de Nérac (Lot-et-Garonne), EchosCl 41 n.s. 16, 1997, 149ff. Taf. 12; M. Bergmann, Chiragan, Aphrodisias, Konstantinopel. Zur mythologischen Skulptur der Spätantike, Palilia 7, 1999, 53 Anm. 349 Taf. 56,2; M. Bergmann, La Villa di Chiragan, in: S. Ensoli (Hrsg.), Aurea Roma. Dalla città pagana alla città cristiana (Ausstellung Rom) (2000) Kat. Nr. 60. Vgl. weiters einen Kopf eines Apollon Kitharodos (Privatbesitz) mit in enganliegenden Streifen geführtem Haar und glattem Gesicht: L. Valensi, Deux Sculptures romaines de la Villa de St.-Georges-de-Montagne, RLouvre 23, 1973, 7ff. Abb. 5; Bergmann a.O. (1999) 53f. Taf. 56, 4.
[11] Bergmann (1999): M. Bergmann, Chiragan, Aphrodisias, Konstantinopel. Zur mythologischen Skulptur der Spätantike, Palilia 7, 1999. Dies ist umso bedeutender, zumal noch bis vor ca. zehn Jahren angenommen worden war, daß ideale Kleinplastik nur bis in die 1. Hälfte des 3.Jhs. n.Chr. produziert worden sei. So z. B. bei S.F. Schröder, Römische Bacchusbilder in der Tradition des Apollon Lykeios (Archaeologica 77, 1989) 1-10.
Bergmann (2000): M. Bergmann, La Villa di Chiragan, in: S. Ensoli (Hrsg.), Aurea Roma. Dalla città pagana alla città cristiana (Ausstellung Rom) (2000) 168ff. Kat. Nr. 51-59.
Bonfante - Carter (1987): L. Bonfante - C. Carter, An Absent Herakles and a Hesperid: A Late Antique Marble Group in New York, AJA 91, 1987, 247ff.
Stirling (1994): L.M. Stirling, Mythological Statuary in Late Antiquity: A Case Study of Villa Decoration in Southwest Gaul (1994).
Stirling (1996): L.M. Stirling, Gods, Heroes and Ancestors: Sculptural Decoration in Late-Antique Aquitania, Aquitania 14, 1996, 209ff.
Stirling (1997): L.M. Stirling, Late Antique Goddesses and Other Statuary at the Villa of La Garenne de Nérac (Lot-et-Garonne), EchosCl 41 n.s. 16, 1997, 149ff.
Kiilerich-Torp (1994): B. Kiilerich - H.Torp, Mythological Sculpture in the Fourth Century A.D.: The Esquiline Group and the Silahtaraga Statues, IstMitt 44, 1994, 307ff.
Siehe weiters: J. Dresken-Weiland, Reliefierte Tischplatten aus theodosianischer Zeit (1991) 8ff. Nr. 179-187 Taf. 97-101; A. Filges, Marmorstatuetten aus Kleinasien, IstMitt 49, 1999, 377ff., bes. 406ff.; M. Sapelli in: S. Ensoli (Hrsg.), Aurea Roma. Dalla città pagana alla città cristiana (Ausstellung Rom) (2000) Kat. Nr. 362.
[12] s. die Darstellung der beiden Luftgöttinnen am Tellus-Relief der Ara Pacis: E. Simon, Augustus. Kunst und Leben in Rom um die Zeitenwende (1986) Abb. S. 40f.; "Polis" am Zoilosfries in Aphrodisias: LIMC II (1984) s.v. Aphrodisias 1* (K.T. Erim).
[13] Bergmann (1999) 57; A. Schmidt-Colinet, Velum und Kolpos. Ein paganer Bildtopos und seine interpretatio Christiana, MSpätAByz 1, 1998, 29ff. bes. 30 Anm. 6.
[14] Vgl. das Porträt des Mark Aurel aus Ephesos (M. Aurenhammer, Römische Porträts aus Ephesos. Neue Funde aus dem Hanghaus 2, ÖJh 54, 1983, Beibl. 105ff., bes. 125ff. Abb. 9-11) und eine spätseverische Frauenbüste aus Ephesos (J. Inan - E. Alföldi-Rosenbaum, Römische und frühbyzantinische Porträtplastik aus der Türkei. Neue Funde (1979) 134f. Nr. 163 Taf. 95. 101, 1).
[15] Stirling (1994) 61.
[16] Vgl. K. Rhomiopoulou, Ellenoromaike glupte tou Ethnikou Archaiologikou Mouseiou, ArchDelt 61, 1997, Nr. 102 (Tischfuß mit Dionysosgruppe aus dokimenischem Marmor, 170-180 n.Chr.). Vgl. die Statuette der Artemis im Louvre: Stirling (1994) 194ff. Abb. 17-20; Stirling (1996) Abb. 6; Stirling (1997) Abb. 3; Bergmann (1999) Taf. 26-28; ; L. Valensi, Deux Sculptures romaines de la Villa de St.-Georges-de-Montagne, RLouvre 23, 1973, 7ff. Abb. 3-4; F. Braemer, L´ornamentation des établissements ruraux de l´Aquitaine méridionale pendant le Haut-empire et la Basse Antiquité, in: Actes 104e Congrès National des Sociétés savantes, Bordeaux 1979, archéologie, Paris, 1982, 103-146 Abb. 18-21; Bonfante - Carter (1987) 247ff. Abb. 8. Vgl. die Beliebtheit zahlreicher kleiner Stege bei den römischen Diaträtgläsern.
[17] Bergmann (1999) Taf. 71, 2.
[18] Stirling (1997) 151 Abb. 1-2.
[19] "Revival" der hellenistische Formensprache in der Spätantike: bei Mosaikböden vgl. Bergmann (1999) 68, bei Elfenbeinarbeiten vgl. R.M. Bonacasa Carra, Ossi e avori "alessandrini" a Roma, in: S. Ensoli (Hrsg.), Aurea Roma. Dalla città pagana alla città cristiana (Ausstellung Rom) (2000) 353ff.
Dasselbe gilt auch für literarische, religiöse und mythologische Strömungen: G. W. Bowersock, Hellenism in Late Antiquity (1990).
[20] Stirling (1994).
[21] Bergmann (1999) 57.
[22] Stirling (1994) 84ff.
[23] Bergmann (2000) 170.

© Eva Christof
e-mail:
eva.chr@gmx.net

This article will be quoted by E. Christof, Neudatierung einer Marmorkleinplastik in Aquileia, Forum Archaeologiae 21/XII/2001 (http://farch.net).



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