Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 8 / IX / 1998

Jörg Weilhartner
ásty und pólis im spätbronzezeitlichen Griechenland und bei Homer

Seit Wiederaufnahme der Ausgrabungen in Troia im Jahre 1988 ist unser Wissen bezüglich der spätbronzezeitlichen Stadt grundlegend erweitert worden. Der kleine befestigte Hügel von Hisarlik war von einer großen, ummauerten Wohnstadt umgeben, die sich über ein Areal von ungefähr 20 ha erstreckte. Mit dem neu gewonnenen Bild des spätbronzezeitlichen Troia stellt sich von neuem auch die Frage, inwiefern die Beschreibung der Stadt in der Ilias mit den archäologischen Tatsachen übereinstimmt. Ganz grundsätzlich läßt sich bemerken, daß der bei Homer verwendete Ausdruck ásty méga Priámoio jetzt wesentlich besser erklärt werden kann, da „die große Stadt des Priamos" nun auch in ihrer flächenmäßigen Ausdehnung greifbar wird.

pólis, der zweite gebräuchliche Ausdruck für ‘Stadt’, scheint in den Epen Homers vollkommen synonym verwendet worden zu sein. Gilt diese Synonymität der beiden Begriffe und ihr allgemeiner Bedeutungsinhalt ‘Stadt’ schon für die späte Bronzezeit? Oder muß von einer der späteren Verallgemeinerung vorausgehenden Differenzierung ausgegangen werden, die sich mit dem äußeren Erscheinungsbild einer bronzezeitlichen Stadt vereinbaren läßt?

Aufgrund der Etymologien von ásty und pólis kann prima facie die Hypothese aufgestellt werden, daß pólis ursprünglich den Aspekt der Befestigung (des oberen Teils) einer Stadt bezeichnet hat und somit im klaren Gegensatz zu ásty stand, welches den Aspekt des Wohnens im (unteren) Teil einer Stadt zum Inhalt hatte. Können diese Bedeutungen für ásty und pólis auch für die Bronzezeit als wahrscheinlich angenommen werden?
Die Linear B-Tafeln dokumentieren zunächst die Existenz der beiden Wörter für die mykenische Zeit. Darüber hinaus scheint wa-tu den Siedlungsbereich bezeichnet zu haben, der außerhalb des Palastgebietes lag. Da aber aufgrund des spärlichen Auftretens beider Begriffe auf den Linear B-Tafeln in der Frage, ob ásty und pólis in der späten Bronzezeit entsprechend ihrer Etymologie verwendet worden sind, keine Gewißheit zu erlangen ist, müssen wir auf die homerischen Epen zurückgreifen, da der formenkonservative Charakter der griechischen Heldenepik gestattet, den Gebrauch beider Wörter, wie er in mykenischer Zeit gehandhabt wurde, zumindest in Resten ausfindig zu machen.

Eine zu diesem Zweck durchgeführte Gesamtanalyse erbrachte ein divergentes Bild bezüglich des Gebrauchs von ásty und pólis. Einerseits konnte eine synonyme Verwendung festgestellt werden, die nur dadurch zu erklären ist, daß zu der Zeit, in der die Epen schriftlich fixiert worden sind, keine scharfe Trennung der beiden Ausdrücke bestanden haben kann. Andererseits hat der ursprüngliche Bedeutungsinhalt beider Begriffe, vor allem bei jenen Stellen, bei denen eine sehr lange mündliche Tradierungsphase vorauszusetzen ist, klar erkennbare Spuren hinterlassen. Hinter dem Terminus pólis ist die Vorstellung des befestigten Burgberges, der bei einer Eroberung vernichtet werden muß, zu erkennen; ásty hingegen bildet einen Gegensatz zur pólis ákre und findet vornehmlich dann Verwendung, wenn es um alltägliche Handlungen bzw. um die zivile Bevölkerung geht.
Die auf sprachlicher Ebene festgestellte Differenzierung von ásty und pólis kann nicht nur anhand von Troia mit archäologischen Ausgrabungen in Einklang gebracht werden. Auch die mykenischen Zentren Griechenlands zeigen deutlich, daß die herrschaftlichen Palastburgen von zivilen Wohnstädten umgeben waren, die beachtliche Ausdehnungen erreichten.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß mit Hilfe aller bezüglich des Gebrauchs der Begriffe ásty und pólis innerhalb der späten Bronzezeit relevanten Wissenschaftsgebiete - nämlich Etymologie, Linear B-Forschung, Homer-Philologie und Archäologie - eine derart große Übereinstimmung erzielt werden kann, daß einer Verwendung im Sinne von ásty = untere Wohnstadt und pólis = befestigte Oberstadt eine große Wahrscheinlichkeit nicht abzusprechen ist.

© Jörg Weilhartner



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