Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 8 / IX / 1998

Edith Trnka
Überlegungen zur ‘Reizwirkung’ der altägäischen Frauen- und Männertracht

Kleidung ist ein Ausdruck der Lebens- und Denkweise einer Gruppe von Individuen. Sie bedeutet eine ‘Erweiterung des Körpers’, wobei Höhe und Art der Kultur ihre Formensprache bestimmen[34]. Kleidung erfüllt verschiedene Funktionen. Neben einer schützenden besitzt sie auch symbolische und ästhetische Funktion, sodaß sie in ständiger Wechselbeziehung zu Geschlecht, Status und Handlungsrahmen des Trägers steht[35]. Die Form der Kleidung wiederum ist vom Zweck, den ästhetischen Anforderungen und dem technischen Stand der Textilproduktion abhängig.

Die Tracht der ägäischen Bronzezeit - als Überbegriff für die Kleidung einer ethnischen Gruppe mit einem gemeinsamen Form- und Stildenken - zeigt einen komplexen Formenreichtum an Gewandtypen, deren Aussagewert bezüglich ihrer Verwendung zu bestimmten Anlässen, aber auch in Hinblick auf das Körperbewußtsein nicht zu unterschätzen ist. Zu unterscheiden ist generell zwischen primärer und sekundärer Reizwirkung, wobei unter primärer Reizwirkung „eine bewußte Gestaltung der Geschlechtsanziehung", also eine Betonung der Geschlechtsunterschiede, und unter sekundärer eine Nebenerscheinung davon, d.h. „die Folge der ästhetischen Formung der Kleidung" verstanden wird[36].

Abb. 13: Sog. ‘Elfenbein-Trio’ aus Mykene (nach S. Marinatos, Kreta, Thera und das mykenische Hellas2 (München 1973) Abb. 243)
Eine primäre Reizwirkung kann durch Steigerung oder Kontrast der Formen erreicht werden, wie etwa durch das Verhüllen des Körpers, das in der bronzezeitlichen Männertracht durch die Trachttypen ‘Chiton’, ‘Volantkleid’, ‘Mantel’, ‘Wickelkleid’ sowie ‘Fellmantel’ und in der Frauentracht durch die Typen ‘Chiton’, ‘Mantel’ und ‘Wickelkleid’ belegt ist. Als Gegensatz dazu ergibt sich das Enthüllen und Entblößen von einzelnen Körperstellen und Körperteilen, das eine kontrastierende Wirkung zwischen blanker Haut, Körperformen und Gewandstoff zur Folge hat. Dieses Phänomen läßt sich in der Frauentracht etwa beim Trachttypus des dreiteiligen Kleides beobachten (Abb. 13). Eine primäre Reizwirkung kann aber einfach auch durch die Betonung der Geschlechtsmerkmale, wie durch eine Phallustasche in der Männertracht oder durch den unbedeckten Brustbereich sowie die Taillen- und Hüftbetonung mit Hilfe eines Gürtels und des weiten Volantrocks beim Typus des dreiteiligen Kleides in der Frauentracht ab der Jüngeren Palastzeit Kretas, erreicht werden.

Eine sekundäre Reizwirkung kann durch Kontraste der Farben und Formen ausgeübt werden[37], was bei den Trachttypen ‘dreiteiliges Kleid’, ‘Chiton’ und ‘Schurz’ in Form von Bandverzierungen, üppigen Stoffmustern und reicher sowie unterschiedlicher Farbverwendung beobachtet werden kann; und dies ist eine äußerst subtile Variante der Reizwirkung.

Die Reizwirkung, sowohl primärer als auch sekundärer Natur, ist in der altägäischen Frauen- und Männertracht somit äußerst häufig zu beobachten, wobei die primäre Variante mit der Betonung der Geschlechtsmerkmale vorrangig ist und folglich ein sehr ausgeprägtes Körpergefühl widerspiegelt.

[34] Dieser Beitrag beruht auf der unpublizierten Dissertation der Verfasserin: E.I. Trnka, Tracht und Textilproduktion in der ägäischen Bronzezeit (phil. Diss. Wien 1998).
[35] Vgl. M. Mills, Greek Clothing Regulations: Sacred and Profane?, ZPE 55 (1984) 255; J. Petraschek-Heim, Die Sprache der Kleidung. Wesen und Wandel von Tracht und Mode, Kostüm und Uniform (Wien 1966) 9.
[36] Petraschek-Heim a.O. 47.
[37] Ebenda, 50.

© Edith Trnka



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