Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 8 / IX / 1998

Norbert Schlager
Hogarth’s Zakro Sealing No. 130: Phantasiegebilde oder realistische Stadtdarstellung ?

Im Mai 1901 fand David Hogarth in Haus A in Kato Zakros an der Ostküste Kretas einen Hort von Tonplomben mit Siegelabdrücken, die nach der jüngsten beigefundenen Keramik in SM IB datiert werden. Der Großteil der Siegelbilder kann nach den Bildmotiven in zwei Gruppen gegliedert werden:
1. Bilder phantastischer Mischwesen und -formen in unterschiedlichen Varianten, Verkürzungen, Ableitungen und Kombinationen. Die markantesten Typen werden generell einem einzelnen Künstler, dem hypothetischen, manchmal als wahnsinnig bezeichneten ‘Zakro Master’ zugeschrieben. 2. Realistische bzw. naturalistische Darstellungen von Menschen und Tieren, Genre(?)-, Kult- und Kampfszenen sowie Architekturmotive.

Abb. 8: Turmsiedlung auf einem Siegelabdruck (Motiv Nr. 130) aus Kato Zakros (nach CMS II 7 Nr. 218)
Zur zweiten Kategorie gehört das Bildmotiv Nr. 130 (Abb. 8), das der Ausgräber folgendermaßen beschrieben hat: „Five towers built of ashlar masonry on a hill: three shields of the usual Mycenaean type below ... obvious use of the shield as a symbol, probably of divine protection extended to the buildings associated with them. No. 130 would appear to represent a whole city, or at least the castle of a chief."
Vergleichbare Architekturdarstellungen sind vom Silberrhyton mit Stadtbelagerungsszene aus Schachtgrab IV von Mykene, vom Miniaturfries im 'Westhaus' von Akrotiri auf Thera und von den Fayenceplättchen des sog. 'Town Mosaic' aus Knossos, besonders aber vom sog. 'Master Impression' aus Chania (Kastelli) bekannt. Dem überdimensionierten Stadtherrscher oder -gott dort entsprechen die übernatürlich vergrößerten Schilde als 'Schutzzeichen' auf dem Siegelbild aus Zakros, die in betontem Kontrast zu der natürlich proportionierten, nahezu perspektivisch gezeichneten Architekturdarstellung stehen. Gibt es dafür zeitgleiche oder wenig ältere, auch im archäologischen Befund faßbare Bauwerke, die als real existierende Vorbilder für die Darstellungen in der Kleinkunst, zumal die beiden Siegelbilder, gedient haben können?

Noch bis vor kurzem war es ein allgemein verbreiteter Topos in der ägäischen Altertumswissenschaft, das bronzezeitliche Kreta des frühen und mittleren zweiten Jahrtausends v. Chr. habe zwar schon großartige Paläste, dichtverbaute Städte und aufwendige Landhäuser gekannt, aber keine Befestigungsanlagen vergleichbar den mykenischen Burgen der Peloponnes oder den ummauerten Akropolen und Städten des klassischen und hellenistischen Griechenland. Die Feldforschungen der jüngsten Zeit auf Kreta haben jetzt aber den unwiderlegbaren Nachweis palastzeitlicher, d.h. primär mittelminoischer Bauwerke der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. erbracht, die nicht anders denn als Festungswerke interpretiert werden können. Metaxia Tsipopoulou hat in den letzten Jahren in Petras bei Sitia nicht nur einen neuen minoischen Palast gefunden, sondern gleichzeitig massive Befestigungsmauern mit vorspringenden, turmartigen Bastionen, die zum einen die Hügelkuppe mit dem dortigen Palast, zum anderen auch den Hügelfuß mit den Häusern der minoischen Unterstadt einfassen. Die Untersuchungen zum minoischen Straßennetz durch Giannis Tzedakis und Stella Chrysoulaki seit den 80er Jahren wiederum konnten vor allem an der Ostküste Kretas zwischen Palekastro im Norden und Xerokampos im Süden minoische Routen und Straßenzüge nachweisen, die in geringen Abständen von Wachtürmen, Ausguckposten und komplexeren Zentralstationen aus ‘kyklopischem’ oder megalithischem Mauerwerk gesichert werden.

Schließlich haben die Geländearbeiten des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien ebenfalls in Ostkreta eine minoische Festung am Rand eines über 40 m hohen, senkrecht abbrechenden Kalksteinkliffs lokalisiert und dokumentiert. Die extrem exponierte Anlage am Ort [stou] Paletsi in Aspro Nero besteht aus mindestens drei Bastionen und Resten einer doppelten Wehrmauer dazwischen. Nordbastion und Südbastion weisen je einen zweiflügeligen Grundriß mit dazwischenliegendem, engem Korridor oder Zwinger auf und sind besonders an der dem Steilabbruch zugewandten Außenseite durch mächtiges, kyklopisches Mauerwerk charakterisiert. Von Bedeutung erscheint zudem eine weiter hangaufwärts gelegene, die Befestigungsmauer an der Kliffkante überblickende, natürliche Kalksteinformation, die - vielleicht geringfügig bearbeitet - eindeutig die Form eines 2 m hohen Doppelhorns aufweist. Ist diese auffällige Landmarke in Form von ‘Horns of Consecration’ als Emblem und ‘Schutzzeichen’ zu werten, unter dessen Ägide die Befestigung von Aspro Nero stand?

Die Gruppe turmartiger Bauwerke in felsigem Terrain mit überdimensionalen Schilden auf Hogarth’s ‘Zakro Sealing No. 130’ erklärt sich am besten als der Versuch eines begabten, seine Umwelt genau beobachtenden minoischen Gemmenschneiders, eine in der Realität existierende minoische Festung in naturalistischer Weise im Miniaturformat des Siegelbildes künstlerisch wiederzugeben. Vielleicht hat gerade die unfern von Kato Zakros gelegene, weithin die Landschaft dominierende Befestigung von Aspro Nero mit dem dahinter aufragenden Doppelhorn das imposante Vorbild dafür abgegeben.

© Norbert Schlager



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