Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 8 / IX / 1998

Michael Weißl
Halbrosetten oder Federfächer? Zu Bedeutung und Funktion eines ägäischen Ornamentes

Als ‘Halbrosetten’ werden in der ägäischen Archäologie halbbogenförmige, mit einem Kranz aus ‘Blütenblättern’ umgebene Motive bezeichnet, die in zahlreichen Varianten und schematischen Formen in allen Bereichen der minoischen und mykenischen Bildkunst vorkommen. In der Portal- und Fassadenarchitektur mykenischer Paläste und in Knossos treten Halbrosettenmotive in Form von skulptierten oder gemalten Friesen auf. Ein Alabasterfries mit der Darstellung von Halbrosetten verkleidete den Mauersockel an den Innenseiten der Vorhallenanten des Megarons von Tiryns, und auch in Mykene wurden Reste eines gemalten Halbrosettenfrieses am Mauersockel des Palasthofes freigelegt. Fragmente von Steinfriesen wurden an den Eingängen des Palastes von Knossos gefunden. Ähnliche Fragmente aus Stein stammen aus Mykene, aus dem Propylon des Palastes und von den Fassaden der sogenannten Gräber des Atreus und der Klytaimnestra.

Halbrosettenfriese in gemalten Gebäudedarstellungen, auf Siegelringen und in Elfenbeinarbeiten rezipieren offenbar die skulptierten und gemalten Vorbilder aus der Architektur. In den kleinformatigen Darstellungen kommt es dabei oft zu einer starken Schematisierung des Motives. In den Gebäudedarstellungen kann das Halbrosettenmotiv prinzipiell in zwei Varianten auftreten: entweder mit nach auswärts gerichteten Bögen wie auf einem Fragment des sogenannten ‘Grandstand Fresco’ aus Knossos (Abb. 5) oder mit antithetischen Bögen.

Abb. 5: Dreiteiliges Heiligtum des sog. ‘Grandstand Fresco’ (nach M. Cameron in: R. Hägg - N. Marinatos (Hrsg.), The Function of the Minoan Palaces. Proceedings of the Fourth Intern. Symposium at the Swedish Institute in Athens, OpAth 35 (1987) 326 Abb. 9).
Abb. 6: Wandmalerei im Grab des Amenmose (Nr. 19) (Zeichnung des Verf. nach D. Arnold, Die Tempel Ägyptens (1992) Abb. S. 37 unten).

Stark schematisierte Halbrosetten in Form antithetischer Bögen und Doppelbögen werden in der Literatur fälschlicherweise mit der Silhouette des minoischen Altartypus mit konkav eingeschwungenen Seiten verglichen. Offenbar wurden in kleinformatigen Darstellungen nur die optisch prägnanten Elemente des Motives wiedergegeben, nämlich das innere zungenförmige Feld, das in plastischen Beispielen oft mit einem Wulst eingefaßt wird, und der Rand der Halbrosette, der häufig durch eine Leiste bogenförmig begrenzt wird.

Die Bezeichnung ‘Halbrosette’ ist, wie bereits Karin Moser von Filseck festgestellt hat[23], unzutreffend, denn mit dem Halbrosettenmotiv werden keine Rosetten dargestellt, sondern Federfächer. Das Vorbild für die voll ausgebildete Form der Halbrosette scheinen ägyptische Zeremonialfächer zu sein, die mit einem halbrunden Schirm aus Federn versehen sind. Paarweise werden diese Fächer zusammen mit Prozessionsbarken dargestellt, wie zum Beispiel in einem Wandbild aus dem Grab Nr. 19 in Qurna vor dem Tempel des Thutmosis III. (Abb. 6).

Es ist anzunehmen, daß diese Fächer - ebenso wie spätere Zeremonialfächer der koptischen und orthodoxen Kirche - eine apotropäische Funktion hatten. Vielleicht repräsentierten die ‘Halbrosetten’ ursprünglich, wie die christlichen Rhipidien, schützende Wesen. In schematischen Gebäudedarstellungen dagegen kennzeichnen Halbrosettenpaare an der Fassade den Bau offenbar als Heiligtum. Wenn das Halbrosettenmotiv als Zeichen für die Präsenz einer Gottheit aufzufassen ist, dann ist die Ähnlichkeit zwischen dem hethitischen Schriftzeichen für GOTT und dem Halbrosettenmotiv nicht nur in formaler Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf ihre Bedeutung gegeben.

Halbrosettenpaare sind ein typischer Bestandteil der ornamentalen Ausstattung der ägäischen Palastarchitektur. Die Entwicklung und Verbreitung der ‘Halbrosetten’ läßt sich vorläufig über einen Zeitraum von über 300 Jahren, vom Beginn der jüngeren Palastzeit Kretas bis zum Ende der mykenischen Paläste, nachvollziehen. Das Stierspringerfresko in Tell el-Dab‘a ist bisher der früheste bekannte Beleg für die detaillierte Darstellung des Halbrosetten- bzw. Fächermotives. Der prächtige Alabasterfries von Tiryns dagegen stellt das späteste erhaltene Beispiel dar.

[23] K. Moser von Filseck, Der Alabasterfries von Tiryns, AA 1986, 30 f.

© Michael Weißl



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