Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 80 / IX / 2016

ARCHÄOLOGIE DER SCHWEIZ
Trendig und ästhetisch präsentiert im neuen Anbau des Schweizerischen Nationalmuseums in Zürich – Ein Ausstellungsbesuch [*]

Das Landesmuseum, einer der Standorte des Schweizerischen Nationalmuseums, prominent zwischen dem Züricher Hauptbahnhof und dem Zusammenfluss von Limmat und Sihl gelegen, ist das meistbesuchte kulturhistorische Museum der Schweiz. Es vereint eine Vielzahl von Sammlungen unter einem Dach, beispielsweise Kostüme, Möbel, Waffen, Werke der bildenden Künste und auch das archäologische Erbe der Schweiz. Da eine Sanierung des vom Architekten Gustav Gull im historistischen Stil erbauten und 1898 eröffneten alten Museumsbaus immer dringender wurde und zudem neue, mit moderner Technik ausgestattete, Ausstellungsfläche benötigt wurde, nahm man vor über 15 Jahren die Planung eines Anbaus und die Renovierung des ‚Märchenschlosses' in Angriff. Den Architekturwettbewerb gewann 2002 das Basler Architektenbüro Christ & Gantenbein. Bis zur Grundsteinlegung 2013 mussten allerdings noch etliche bürokratische Hürden genommen werden, zu denen in der Schweiz natürlich auch eine Volksabstimmung zählt.

Nun wurde passend zum Nationalfeiertag der Helvetier am 1. August der neue, von der Züricher Bevölkerung hinsichtlich seiner ästhetischen Qualitäten höchst unterschiedlich bewertete, Erweiterungsbau (Abb. 1–2) mit einem großen Volksfest eröffnet. Die ambitionierte Schau „Europa in der Renaissance. Metamorphosen 1400–1600“ macht den Anfang bei den Wechselausstellungen.
Mein besonderes Interesse galt jedoch der völlig neu konzipierten Präsentation der archäologischen Bodenfunde der Schweiz, die zuvor in den Räumen des historistischen Schlosses ausgestellt waren. Zuletzt hatte ich die Ausstellung 2009 besucht, bevor sie für den Umbau geschlossen wurde.
Der erste Eindruck war überwältigend: eine Raumkombination aus drei abgeteilten Bereichen bildet die architektonische Hülle für rund 1400 ausgestellten Exponate. Die Farbgebung der Wände, die Beschriftung und die Beleuchtung sorgen für ein ausgesprochen ästhetisches Erlebnis und erzeugen die Ruhe, die man braucht, um in der Vergangenheit auf Entdeckungsreise zu gehen.

Sofort fällt mir auf, dass die Ausstellung mit wenig Platz auskommt. Im Kernbereich, der unter dem Begriff „Homo“ die Menschheitsgeschichte chronologisch nachzeichnet – mehr zum theoretischen Hintergrund der Dreiteilung (Abb. 3) weiter unten – sind die Artefakte der verschiedenen Kulturepochen von der Steinzeit bis zum Frühmittelalter in sechs großen, fast bis zur Decke reichenden Vitrinen an den Längswänden aufgereiht. Ich erinnere mich daran, in der alten Ausstellung viele Säle durchwandert zu haben, bis ich schließlich bei den bunten Fisch-Fibeln des frühen Mittelalters ankam und frage mich bange, wie all diese Objekte wohl in einem einzigen Raum Platz haben können. Mein Blick schweift von den ersten Faustkeilen und anderen Werkzeugen der Steinzeit über Tongeschirr, Bronzebeile und -schwerter zu den Hinterlassenschaften römischer Zeit bis ich schließlich besagte Gewandspangen (Abb. 4) wiederentdecke. Von meinem Standpunkt aus erfasse ich die ungeheuren Umwälzungen, die sich in der Entwicklung der Menschheit abgespielt haben und die sich in den Geräten, den Kultobjekten und den Kunstgegenständen, welche die Jahrtausende überstanden haben, widerspiegeln.
Ich trete also vor die der älteren Steinzeit gewidmeten Vitrine und lese den kurzen Einführungstext, dann betrachte ich die verschiedenen Faustkeile und die vielen zum Teil sehr filigranen Klingen, die mit dünnen Stäben an der Rückwand befestigt sind und mich an Insektensammlungen des 19. Jhs. erinnern, im Besonderen an auf dünnen Nadeln aufgespießte Schmetterlinge. Dass diese Assoziation durchaus gewollt ist, erfahre ich erst bei einem erneuten Besuch mit dem Kurator Luca Tori, da diese Art der Anbringung Bezug nehmen soll zu den Anfängen der Sammlungstätigkeit und der Ausstellungsgeschichte des Landesmuseums.
Vergebens suche ich nach den Beschriftungen der einzelnen Artefakte. Nun wird mir auch klar, warum so viele Objekte auf so engem Raum Platz haben. Auf eine Beschilderung – die in der Schweiz viersprachig sein müsste! – wurde vollkommen verzichtet. Während ich also noch etwas hilflos nach mehr Information suche, kommen zwei jüngere Museumsbesucherinnen, die sofort den an Schienen befestigten und horizontal beweglichen Bildschirm entdecken, den sie auch zu nutzen wissen. Ich mache es ihnen nach und entdecke, dass sich mit Hilfe des Monitors ein beliebiges Objekt auswählen lässt und per Fingerdruck ein Infofenster erscheint. Nun sind der Wissbegier keine Grenzen mehr gesetzt. Neben den üblichen Katalogangaben zum Fundort, zur Datierung und zum Material finden sich Hinweise zur Funktion des ausgewählten Gegenstandes. Bei manchen, für eine Epoche besonders charakteristischen, Fundstücken (durch eine Lichtaureole hervorgehoben) findet man außerdem Fotos verwandter Artefakte und in manchen Fällen sogar eine kleine Animation. Bald beginnt mir die Sache Spass zu machen und ich wähle gezielt Objekte an, die mich interessieren. Der/die Museumsbesucher/in entscheidet selber, wie viel Informationen er/sie aufnehmen will und kann. Die Entdeckungsreise ist sehr kurzweilig und ich wähle auf meinem Gang durch die Epochen unter anderem die Holztür einer Pfahlbauhütte, bronzezeitliche Radanhänger und Münzen aus der Eisenzeit aus. In dem Schaukasten mit den römischen Ausstellungsstücken interessieren mich besonders die Beschläge einer Kline, die 2003 in Avenches, dem römischen Aventicum, gefunden wurden und als Leihgabe im Landesmuseum zu bestaunen sind (Abb. 5).
Ergänzend zu den großen Schaukästen an den Längswänden sind in den Vitrinen in der Mitte des Raumes (vgl. Abb. 3) kulturhistorisch besonders wertvolle Exponate ausgestellt, die jeweils einen speziellen Aspekt einer Epoche aufgreifen. So steht beispielsweise die Grabstele aus der neolithischen Begräbnisstätte Sion/Sitten (Kanton Wallis. Leihgabe Musées cantonaux du Valais) mit einer der ersten – in der Schweiz sehr seltenen – Menschendarstellung stellvertretend für den Ahnenkult in der Steinzeit. Der bedeutende Goldschatz von Erstfeld (Kanton Uri), bei dem es sich wahrscheinlich um ein Weihopfer für eine Gottheit handelt, welche die sichere Überquerung der Alpen gewähren sollte, nimmt Bezug auf die Religiosität der Kelten.
Mein Blick wird von einem im Boden eingelassenen Band aus Wörtern in verschiedenen Sprachen zu einer leeren Vitrine in der Stirnwand des Saales gezogen (Abb. 6). An dieser sind in Reih und Glied Figuren und Gesichter befestigt, welche die/den sich nähernde/n Besucher/in herausfordernd ansehen. So wird der/die Betrachtend/e selbst zum Objekt, indem er/sie sich in der verglasten Nische niederlässt und einen sowohl poetischen als auch philosophischen Text des bekannten Züricher Intellektuellen Stefan Zweifel hört, der zum Nachdenken über die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart anregt. Zweifel fragt sich, ob das Zeitalter, in welchem wir leben, wohl dereinst das „Silikonzeitalter“ heissen könnte.
Amüsiert und nachdenklich verlasse ich die Nische und trete in den Raum mit dem Namen „Natura“ ein, an dessen abgeschrägter Stirnwand eine Art Zeichentrickfilm mit Episoden aus der Menschheitsgeschichte abläuft. So mache ich beispielsweise einen Jäger aus, der einen Auerochsen erlegt, ein Kind, das mit einem Hund spielt, eine Gämse, die per Zufall eine Kupferader freilegt und eine Biene, die um die Blüten eines Obstbaumes schwirrt. An sieben ‚hands-on' Stationen werden die Domestizierung von Rind, Hund, Pferd und die Nutzbarmachung von Getreide, Äpfel und Kupfer sowie die Verwendung von Holz erfahrbar gemacht.

Wie bereits oben erwähnt, besuchte ich die Ausstellung ein zweites Mal zusammen mit Luca Tori, der als Kurator des Landesmuseums zusammen mit seinem Team und den Szenografie-Experten/innen des Stuttgarter Ateliers Brückner die Ausstellung realisiert hat. Dabei erfuhr ich auch mehr zum theoretischen Hintergrund des ‚Drei-Raum-Konzepts'. Die Themenschwerpunkte „Terra“, „Homo“ und „Natura“ (Abb. 3) sollen den/die Besucher/in mit dem archäologischen Erbe der Schweiz vertraut machen.
Im Bereich „Terra“ geht es um die landschaftliche Vielfalt der Schweiz, die mit ihren Bergen, den Seen und Flüssen die hier lebenden Menschen unmittelbar beeinflusst hat, sei es durch vorhandene Rohstoffe (z.B. Bergkristalle) oder durch spezielle Siedlungsformen (Pfahlbauten in Ufernähe). Zum Ausdruck gebracht wird das mit einem von der Decke hängenden, stark stilisierten topografischen Modell der Schweiz und darunter befindlichen Vitrinen, in denen sich Ausstellungsstücke finden, die thematisch einen Fundplatz symbolisieren (beispielsweise römerzeitliches Tongeschirr aus Basel für den Fundplatz ‚Stadt'). Die Verbindung zwischen Schaukasten und Landkarte übernimmt die feingliedrige Beleuchtung, die automatisch angeht, sobald man sich nähert. In einer zweiten Ebene geht es aber auch darum zu zeigen, dass topographische Gegebenheiten Funde unterschiedlich konservieren. So werden beispielsweise in einer Vitrine Objekte aus vergänglichen Materialien wie Leder und Holz gezeigt, die sich im Gletschereis erhalten haben.
Der Kernbereich der Ausstellung „Homo“ zeichnet die Epochen der Menschheitsgeschichte von der Steinzeit bis zum Frühmittelalter nach und ist streng chronologisch aufgebaut. Damit trägt man dem Umstand Rechnung, dass es sich beim Landesmuseum um ein historisches Museum handelt, dessen Zielgruppe auch Schüler/innen sind.
Luca Tori verrät mir, dass bei der Verteilung der Objekte in den monumentalen Schaubildern jeweils ein für die jeweilige Epoche typisches Leitmotiv Pate gestanden hat. Die Anordnung der Werkzeuge der älteren Steinzeit soll das Bild einer Tierherde (der die Jäger gefolgt sind) suggerieren, während die in kleinen Feldern angeordneten Artefakte der jüngeren Steinzeit den aufkommenden Ackerbau symbolisieren. Die Bronzezeit brachte tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen, dementsprechend ‚explodieren' die Fundstücke sternförmig in alle Richtungen (Abb. 7). Auch die Vitrinen zur Eisen- und Römerzeit und zum Frühmittelalter folgen dem gleichen Prinzip – es sei jedoch hier nicht alles verraten. Vielleicht möchte ja der/die eine oder andere Leser/in selber auf Entdeckungsreise gehen.
Der Bereich „Natura“ ist dem Zusammenspiel von Mensch und Umwelt gewidmet. Hier betreten die Ausstellungsmacher/innen Neuland. In einer völlig neuen Weise vereinigen sich Erkenntnisse der Archäologie mit jenen der Archäozoologie, -botanik und -metallurgie in einem Erlebnisraum, in dem der/die Besucher/in selber zum/r Forscher/in werden kann.
Die Ausstellung „Archäologie Schweiz“ funktioniert auf so vielen Ebenen, dass ich nicht sicher sein kann, alle Finessen bemerkt und auch verstanden zu haben. Sie berührt durch die ästhetisch ansprechende Präsentation auf einer emotionalen Ebene und befriedigt zugleich wissenschaftliche Neugier. Die vielen Interaktionsmöglichkeiten machen Geschichte (beispielsweise auch für Kinder) erlebbar, technisch affine Besucher/innen kommen durch den Einsatz moderner Medien voll auf ihre Kosten und nicht zuletzt wird man veranlasst, sich in einer philosophischen Weise mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Luca Tori und sein Team haben auf engem Raum eine Erlebniswelt „Archäologie Schweiz“ geschaffen, die ihresgleichen sucht und neue Massstäbe in der Kulturvermittlung setzt.

[*] Die Autorin bedankt sich bei Luca Tori (Landesmuseum Zürich) für die interessante Führung und die Hintergrundinformationen und bei Claudia Luxbacher (Atelier Brückner, Stuttgart) für wichtige Anregungen.

Auf folgenden Websites finden sich noch mehr Informationen und Bilder zum Thema:
https://www.nationalmuseum.ch/d/zuerich/
http://www.atelier-brueckner.com/de/projekte/archaeologie-schweiz-schweizerisches-nationalmuseum
http://www.christgantenbein.com/index.php

© Regina Hanslmayr
e-mail: rhanslmayr@gmail.com

This article should be cited like this: R. Hanslmayr, Archäologie der Schweiz. Trendig und ästhetisch präsentiert im neuen Anbau des Schweizerischen Nationalmuseums in Zürich – Ein Ausstellungsbesuch, Forum Archaeologiae 80/IX/2016 (http://farch.net).



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