Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 76 / IX / 2015

FASHION VICTIMS – LE DERNIER CRI
Rezension zu Klaus Junker – Sina Tauchert, Helenas Töchter. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2015

Spielfilme wie „Dior und ich“, „Lagerfeld Confidential“, „Valentino: The Last Emperor“, „Diana Vreeland: The Eye Has to Travel“ sowie „Der Teufel trägt Prada“ und noch viele weitere gewähren uns populäre Einblicke in die heutige Modeszene. Aber was haben wir uns darunter vorzustellen, wenn die Autoren von „Helenas Töchter“, S. Tauchert und K. Junker, von „fashion victims“ (S. 85) sprechen? Sie beziehen sich mit dieser angeblich vom Modeschöpfer Oscar de la Renta [1] geprägten Wortschöpfung auf die sog. Lyon-Kore (Abb. 1), vor allem im Bezug zu der nur wenig älteren Mantelkore 593 (Abb. 2). Das Autorenduo kehrt den wenig schmeichelhaften Ausspruch von de la Renta ins Positive, indem es die innovativen Elemente in der Bekleidung der beiden Statuen herausstreicht. Durch die bewusste Kontrastierung von glatt belassenen und durch Falten akzentuierte Stoffpartien wird bei der Lyon-Kore erstmals „in der Kleidung ein stark erotisch aufgeladenes Moment fassbar“ (S. 87). Vor allem auch der hier zum ersten Mal belegte Schrägmantel avancierte im letzten Viertel des 6.Jhs. v.Chr. zum „fashion highlight“ (S. 88), zumeist kombiniert mit einem gegürteten Chiton mit halblangen Ärmeln.

Doch wie kam es dazu? K. Junker und S. Tauchert zeichnen in ihrem Buch – gemäß des Untertitels „Frauen und Mode im frühen Griechenland“ – die Entwicklung vor allem der weiblichen Bekleidung von der Zeit Homers bis in die frühe Klassik nach, etwa vom 8. bis in die erste Hälfte des 5.Jhs. v.Chr. Sie stützen ihre Untersuchung überwiegend auf künstlerische Darstellungen, zumeist auf Plastik und Vasenbilder (denen sie aber eine gewisse Skepsis entgegenbringen, vgl. S. 118). Die Materialbasis ist hier jedoch nicht für jede Epoche gleich dicht, wie Junker/Tauchert selbst bedauern, weswegen auch literarische Quellen in die Überlegungen miteinbezogen werden (aber auch den Dichtern müsste man gewisse Übertreibungen zugestehen, S. 25), wenn auch den „Bildern der Vorrang“ (S. 18) gegeben wird.
Ziel der Autoren ist es, auf die „gestalterische Seite des Phänomens Kleidung und Mode“ (S. 13) zu fokussieren und gleichzeitig die Veränderung der Kleidung als soziales Phänomen begreifbar zu machen. Kleidung kann bekanntermaßen gleichzeitig als Mittel der Integration und der Abgrenzung fungieren. Gerade in den Texten kommt die mittels der Kleidung geübte „starke soziale Differenzierung“ (S. 23) immer wieder zum Ausdruck, es wird aber auch die ästhetische Wirkung der Gewänder hervorgehoben.
Der Band erschien im Rahmen zweier für die Altertumswissenschaften prominenter Serien: „Zaberns Bildbände zur Archäologie“ und „Sonderbände der Antiken Welt“. Entsprechend wendet sich der Text an eine an Kulturgeschichte bzw. Altertumswissenschaften interessierte Leserschaft. In diesem Zusammenhang sind auch die kulturgeschichtlichen Überblicke und kurzen Exkurse, die den Hintergrund für die Darstellung der textilen Entwicklungen bilden, zu sehen; z.B. zum Samos der ersten Hälfte des 6.Jhs. (S. 50), zur Polychromiedebatte (S. 62–66), zur (natur-)wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den farblichen Fassungen vor allem der Akropoliskoren (S. 69–72) und zu den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen im Athen der Peisistratiden (S. 78).
Der Text liest sich angenehm und flüssig. Er ist in sieben, lose verbundene, chronologisch aneinander gereihte Kapitel unterteilt. Er beginnt mit einer kurzen Beschreibung der Ausgangssituation und der Formulierung der Ziele des Buches (S. 6–16). Im folgenden Kapitel wird die homerische Zeit behandelt, in dessen Rahmen natürlich auch die literarischen Quellen besprochen werden (S. 17–28), danach werden nach der Einführung in manche technische Details relevante früharchaischen Darstellungen und Bildwerke vorgestellt (S. 29–49). Die richtungsweisenden Erfindungen der samischen Künstler des 6.Jhs. v.Chr. sind Thema des folgenden Kapitels (S. 50–61). Der Exkurs zu den antikisierenden Kreationen des Modeschöpfers Mariano Fortuny ist an dieser Stelle etwas unerwartet, stellt aber eine Bereicherung für den Leser dar und gibt ein illustratives Beispiel für die Antikenrezeption am Anfang des 20.Jhs. (Abb. 3). Der wissenschaftlichen Erforschung der antiken Plastik, insbesondere deren Farbigkeit, und den rezenten Untersuchungen der Polychromie mit u.a. naturwissenschaftlichen Methoden sind die nächsten Seiten gewidmet; die daraus entwickelten Rekonstruktionen (Abb. 2) waren und sind eine wichtige Unterstützung, um das antike Erscheinungsbild nachzuempfinden (S. 62–77) [2].
Das folgende ist das umfassendste Kapitel: Es widmet sich vorrangig den spätarchaischen Koren Athens, an denen allgemeine Trends, textile Konventionen und modische Innovationen beschrieben werden. Die Autoren versuchen den Unterschied zwischen Tracht und Mode herauszuarbeiten. Sie orten auch in der Bekleidung der Koren revolutionäre und retrospektive Tendenzen und suchen nach Erklärungen in den historischen Rahmenbedingungen (S. 78–106). Das abschließende Kapitel beleuchtet modische Tendenzen der Frauenkleidung am Beginn der Klassik mit einem abschließenden Exkurs über den sog. persischen Ärmelchiton, dessen Inhalt sich aber relativ unkompliziert in die Besprechung der Textilien des 5.Jhs. v.Chr. hätte einfügen lassen. Auch hier werden wieder Überlegungen angestellt, ob die historische Situation Einfluss auf die Bekleidung hat; und falls ja, wie dieser Umstand zum Ausdruck kommt (S. 107–125). Die erste Frage wird mit einem klaren „ja“ beantwortet: Durch ihre Veränderungen würden Kleidung und Mode „seismographische Qualitäten“ (S. 120) beweisen. Junker und Tauchert beschließen folglich den Band mit der Aussage, dass das Bedürfnis der individuellen Trägerinnen nach Abwechslung und der Wandel der äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse zu den Veränderungen in der griechischen Kleidung führten (S. 125).
Das überwiegend farbige Bildmaterial ist zum Teil formatfüllend und zum Teil in den Text einbindend gesetzt. Die Abbildungen sind von hoher Qualität, so dass man einen guten Eindruck von den Objekten bekommt.
Die Anmerkungen sind spärlich gesetzt. Durch die Platzierung als Endnoten sind sie unaufdringlich und lenken den Leser nicht ab; sie reichen aber aus, um zu einem vertieften Studium anzuregen und einzuladen. Etwas kurz ist die Liste mit allgemeinen Literaturangaben ausgefallen. Es fällt hier eine deutschsprachige Dominanz auf, abgesehen von den beiden ‚Klassikern‘ von E. Barber und G.M.A. Richter. Die Publikationen und innovativen Ansätze des Kopenhagener Textilforschungsinstituts (Centre for Textile Research, CTR, http://ctr.hum.ku.dk/) finden hier beispielsweise keinen Eingang, was ich ein wenig bedauerlich finde. Natürlich stehen griechische Textilien nicht in erster Linie im Fokus der in Dänemark kanalisierten umfangreichen Textil-Studien, diese haben aber in den letzten Jahren vor allem viele technische Erkenntnisse erbracht, die auch auf die griechische Kleidung anwendbar sind.
Drei Druckfehler (die Stelle verlor ihr Schluss-„e“ auf S. 85, hingegen ein „e“ zuviel bei gleichzeitig auf S. 102 und ein verdoppelter Satz auf S. 123) fielen mir auf und belegen dadurch das im Allgemeinen sauber redigierte Buch.
Der Exkurs zu den Frisuren der Arethusa auf den Münzen von Syrakus (S. 117 mit Abb. 83–84) macht deutlich, dass das letzte Wort zum Thema Mode noch keinesfalls gesprochen ist. Man könnte überlegen, zwei weitere Bände unter denselben Fragestellungen zu produzieren: Der eine, der die der Frühklassik folgenden Epochen behandelt, der andere, der nun über die Textilien hinaus jene Objekte thematisiert, ohne die die Mode eben nicht auskommt: Accessoires, wie z.B. Gürtel, Schmuck, Kopfbedeckungen, Schuhwerk, Haarschmuck und Frisuren, etc. Nicht zuletzt sprechen Junker und Tauchert selbst von der „Einbindung des gesamten Körpers in das Bekleidungssystem“ (S. 85) und von der Miteinbeziehung der „anderen schmückenden Bestandteile der äußeren Erscheinung der Frauen“ (S. 117). Auch für diese Einzelobjekte sind – wie bei der Mode im Allgemeinen – die ästhetischen und soziologischen Perspektiven zu untersuchen.

Die Publikation von Klaus Junker und Sina Tauchert stellt einen soliden Einstieg in die Welt des frühen Griechenlands dar und zeigt uns anschaulich, dass sie von uns weniger weit entfernt ist als man auf Grund der trennenden Jahrtausende annehmen möchte.

Klaus Junker, Sina Tauchert
Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland
Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2015
136 Seiten, ca. 100 Abb.
24 x 30 cm, geb. mit Schutzumschlag
€ 29,95 (D), € 30,80 (A)
ISBN 978-3-8053-4858-4

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Oscar_de_la_Renta; https://en.wikipedia.org/wiki/Fashion_victim.
[2] Dass die Akropoliskore 593 mit „ein kleines, bauchiges Gefäß“ in der Hand haltend beschrieben wird, erstaunt. Meines Wissens scheint sich die Forschung doch darüber verständigt zu haben, dass sie einen Granatapfel hält, der der Statue auch ihren ‚Spitznamen‘ gab: Granatapfelkore/Pomegranate Kore. Vgl. u.a. W. Fuchs – J. Floren, Die griechische Plastik: Die geometrische und archaische Plastik (München 1987) 264; J. M. Hurwit, The Art and Culture of Early Greece, 1100-480 B.C. (New York 1985) 244.

© Elisabeth Trinkl
e-mail: elisabeth.trinkl@uni-graz.at

This article should be cited like this: E. Trinkl, Fashion Victims - le dernier cri. Rezension zu Klaus Junker – Sina Tauchert, Helenas Töchter. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2015, Forum Archaeologiae 76/IX/2015 (http://farch.net).



HOME