Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 64 / IX / 2012

DAS NEMESIS-HEILIGTUM VON RHAMNOUS

Im äußersten Nordosten Attikas – ca. 53 km von Athen entfernt – lag der Demos Rhamnous, direkt der Insel Euboia gegenüber. Eine antike Straße von Athen aus, führte anhand der sog. „Gräberstraße“ an einem monumentalen Heiligtum der Göttin Nemesis aus dem ausgehenden 5.Jh. v.Chr. vorbei. Im frühen 19.Jh. unserer Zeitrechnung geriet das Heiligtum in den Fokus erster wissenschaftlicher Untersuchungen durch die „English Society of Dilettanti“, die gegen Ende des Jahrhunderts durch die „Greek Archaeological Society“ fortgeführt wurden. Dabei zeichnete sich schnell ein – die Wissenschaft bis heute sehr prägendes – Bild des Heiligtums ab: Der ab der Spätantike stark zerstörte und fragmentierte Tempel aus lokalem Marmor konnte nach und nach rekonstruiert werden und fällt dabei besonders durch seinen „unfertigen“ Look auf, der bis in die aktuellsten Publikationen gerne mit dem Ausbruch des Pelopennesischen Krieges und dem darauf folgenden Abbruch der Bauarbeiten gesetzt wird. Doch widmen wir uns zuerst dem vorliegenden Befund und einiger, auch althistorischer, neuer Erkenntnisse, die dem Heiligtum eine neue Geschichte verleihen können:

Der Kult der Nemesis an diesem Ort (Abb. 1) lässt sich archäologisch bis in das 6. vorchristliche Jahrhundert zurückdatieren und erlebte im 5. und 4.Jh. v.Chr. eine regelrechte Blütezeit, die auch von aktueller Forschung mit einem überregionalen Kult der Nemesis im Bezug auf die Perserkriege gesetzt wird. So habe die Göttin Nemesis, nachdem die Perser im Jahre 490 v.Chr. ihren Tempel bei Rhamnous geschändet hatten, bei der Schlacht von Marathon tatkräftig dem griechischen Heer geholfen, da sie als Bestraferin der Frevler galt. Kaiserzeitliche Autoren, allem voran Pausanias, dienen uns als wichtigste Quelle für diese Legende. Die zentrale Funktion der Nemesis bei der Schlacht von Marathon habe so dem monumentalen Baudrang ihres Heiligtums im 5.Jh. v.Chr. beflügelt und zum Ausbau dessen geführt, so die Lehrmeinung. Auffallend ist bei dieser Erklärung der Bauinitiative, dass – so legt M. Jung in seiner jüngsten Monographie dar – diese Legende eher unwahrscheinlich nach den Perserkriegen von überregionaler Bedeutung war: So sieht er von epigraphischen Quellen, die uns etwas über die Finanzierung des Tempels sagen können, dass es sich um einen eher mittelmäßigen Bau gehandelt habe, der nur für den Demos von größerem Interesse sein konnte. Auch dass die antiken Autoren des 5. und 4.Jhs. v.Chr., soweit wir sie greifen können, eine Verbindung zwischen Nemesis und der Marathon-Schlacht nicht erwähnen, spricht dafür, dass die Legende erst später entstanden, bzw. überregionale Relevanz gewonnen hatte. Jung spricht sich für eine Bildung der Legende ab dem späten 5.Jh. v.Chr., gleichzeitig mit dem Bau der Grenzfestung von Rhamnous, aus, als der Demos so an militärischer Präsenz für Athen gewann.
Stilistisch wird der dorische Peripterostempel – der dem Poseidonion von Sounion, dem Hephaiston von Athen und dem Arestempel, der ursprünglich wohl in Acharnae stand und von den Römern auf die Athener Agora transportiert wurde, sehr nahe steht – mit den unkanonischen 6 zu 12 Ringhallensäulen, dessen Stufenumbau (Maße: 21,38 x 9,95m), Fundamente für Cella und einige Säulentrommeln heute noch sichtbar sind, in den letzten Jahrzehnten vermehrt zwischen 430 und 420 v.Chr. gesetzt und nicht mehr, wie zuvor, zwischen 440 und 431 v.Chr. Hilfreich für diese Datierung ist auch das noch in vereinzelten, stark verriebenen Fragmenten erhaltene, Kultbild der Nemesis, das im Tempel aufgestellt wurde. Auch dieses wird in das Jahrzehnt zwischen 430/420 datiert und allgemein dem Schüler des Phidias, Agorakritos von Paros, zugeschrieben. Ikonographisch, soweit es sich fassen lässt, besteht auch hier keine direkte Verbindung zwischen Kultbild und Marathon-Legende, was sich im Falle einer gewollten, verstärkten Verehrung in dieser Richtung doch gerade zu angeboten hätte.
Die Heiligrumsterrasse, die eine rechteckige Form gen Norden annahm und im Süden im natürlichen Geländeverlauf belassen wurde, wurde zum Norden hin gegen das Ende des 5.Jhs. v.Chr. erweitert. Im Allgemeinen setzt man diese Vergrößerung im Bezug auf den Bau des Monumentaltempels.

Der „unfertige Look“ des großen Nemesistempels wird seit einigen Jahrzehnten – entgegen der bisher gängigen Meinung – nicht als bloßer Abbruch des Bauvorhabens gesehen, sondern als bewusstes Stilmittel. Ein Fehler der Forschung sei es, so A.T. Hodge und R.A. Tomlinson in ihrem Aufsatz 1969 im American Journal of Archaeology, dass glattpolierte Steinflächen als selbstverständliches Endstadium der Außenverkleidung eines Steintempels gesehen würden. Dies müsse aber wesentlich individueller von Bau zu Bau entschieden werden. Beim Nemesistempel von Rhamnous würden ästhetische Eindrücke durchaus für eine Absicht sprechen, manche Stellen ein unbearbeitetes Aussehen zu verpassen: So ist es doch auffällig, dass der sog. „Bossenstreifen“, der zudem aus lokalem grauem Marmor besteht, an der vorletzten Stufe einen maßgenauen Abstand zur Stufenlippe und Unterkante aufweist. Zwar wird in der Forschung häufig betont, dass bei der Fertigstellung der Tempelteile scheinbar erst auf besonders wichtige Flächen geachtet wurde; doch muss man der Gesamtkomposition einen durchaus ansprechenden Gesamteindruck zusprechen. Möglich, dass der Architekt von wirklich unfertigen Bauten, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat und geben wird, zu solchen Stilmitteln inspiriert wurde.
Auch die großteils unkannelierten Säulen stoßen in der Forschung auf verschiedenartige Interpretationen: Während sie von der Masse zunächst als bloß unfertig angesehen werden, da es gängig sei, erst die oberste und unterste Säulentrommel zu kannelieren und von dort aus den Rest, sprechen sich Stimmen auch dafür aus, dass die so dickeren Säulentrommeln dem Tempel einen lebendigen Eindruck verpassen würden und zudem wesentlich weniger anfällig gegen Beschädigungen seien.
Die aber vielleicht größte Besonderheit am ganzen Befund des Heiligtums stellt der kleine südliche Tempel dar, der in der Forschung meist als Ersatztempel des im Perserkrieg zerstörten gehandelt wird und später als Schatzhaus genutzt worden wäre. Er sei somit älter als der große Monumentaltempel. Da in dessen Fundamenten Reste von Kalksteinbauteilen gefunden wurden, die dem alten Bau zugeordnet werden, geht man allgemein davon aus, dass der große Monumentaltempel als richtiger Ersatz für den Zerstörten galt. Der Antentempel misst 9,90m in der Länge und 6,15m in der Breite und wurde wohl im Laufe der Zeit als Kulthaus der Göttinnen Nemesis und Themis, der Personifikation der Gerechtigkeit, genutzt. Darauf deuten zumindest Funde aus dem Tempel.
Entgegen vieler Stimmen datierte W. Zschietzschmann den kleinen Tempel jedoch jünger als den Großen. So läge der kleinere Tempel eindeutig auf einem höheren Niveau als der große, so dass die Oberkante seines obersten Fundamentquaders auf selber Höhe wie die Unterstufe des Nemesistempels rage. Außerdem, und das finde ich besonders beachtenswert, könne es doch eigentlich gar nicht sein, dass die Kante der Unterstufe des großen Nemesistempels der ganzen Länge nach abgetreten sei, wenn der kleine Tempel älter wäre und dann so enorm dicht an diesem dran stehe. Die Nordost-Ecke des kleinen Tempels komme sogar bis auf wenige Zentimenter an die Unterstufe des großen heran (Abb. 2). Diese Abnutzungsspuren müssen entstanden sein, als der große Bau noch ohne Nebengebäude existierte. Zudem möchte Zschietzschmann das Mauerwerk am Stil ins 4.Jh. v.Chr. datieren, da in diesem Zeitrahmen eine Steinsetzung in Schachtelung der großen Fugen mit kleinen Steinen geprägt gewesen sei. Ein Punkt, dem ich Zschietzschmann einfach glauben müsste, wenn ich auch einer solchen Mauerwerk-Datierung kritisch gegenüber stehe. In nachklassischer Zeit sei der kleine Tempel als bewusst archaisierendes Bauwerk, da der Antentempel zweifelsohne zu den archaischen Grundformen gehörte, auf die Stelle des vorpersischen gesetzt worden. Im Tempel wurde ebenfalls eine stark archaisierte Korenstatue (Abb. 3), die als Kultstatue gedeutet wird, geborgen, die den archaischen Charakter des Heiligtums bekräftigt. Möglich, dass dieser bewusste Rückgriff auf vorpersische Tempelbauten mit dem Entstehen bzw. Verbreiten der Marathon-Legende ab hellenistischer Zeit zusammenhängt.

Literatur
A.N. Dinsmoor, Rhamnous (Athen 1972).
H.R. Goette, Athen – Attika – Megaris. Reiseführer zu den Kunstschätzen und Kulturdenkmälern im Zentrum Griechenlands (Köln, Weimar, Berlin 1993).
A.T. Hodge – R.A. Tomlinson, Some notes on the temple of Nemesis at Rhamnous, AJA 73, 1969, 185-192.
M. Jung, Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als „lieux de mémoire“ im antiken Griechenland (Göttingen 2006).
T.E. Kalpaxis, Hemiteles. Akzidentelle Unfertigkeit und „Bossen-Stil“ in die griechischen Baukunst (Mainz 1986).
B. Knittlmayer, Kultbild und Heiligtum der Nemesis von Rhamnous am Beginn des Peloponnesischen Krieges, JdI 114, 1999, 1-8.
M.M. Miles, A reconstruction of the temple of Nemesis at Rhamnous, Hesperia 58, 1989, 133-249.
M. Pergialis, Rhamnous. Die antike Stadt Attikas – Das Heiligtum der Nemesis (griechische-kultur.eu; 28.04.2012).
V. Petrakos, Rhamnous (Athen 1991).
W. Zschietzschmann, Die Tempel von Rhamnous, AA 44, 1929, 441-451.


© Kevin Spathmann
e-mail: Kevin.Spathmann@ruhr-uni-bochum.de

This article should be cited like this: K. Spathmann, Das Nemesis-Heiligtum von Rhamnous, Forum Archaeologiae 64/IX/2012 (http://farch.net).



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