Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 60 / IX / 2011

WIEDERMAL EINE HETÄRE?

In einer deutschen Privatsammlung in Würzburg befindet sich die 24 cm große Tonstatuette einer weiblichen stehenden Figur auf zugehöriger schmaler Plinthe aus der böotischen Nekropole von Ritsona [1] (Abb. 1). Die Statuette ist mittels zweier Matrizen hergestellt. Aus der einen Matrize wurden die Vorderseite und der massive Kopf gezogen, aus der anderen wurde die Rückseite der Figur gebildet. Die Vorderseite ist sorgfältig gearbeitet, die Rückseite dagegen sehr einfach modelliert. Die Innenseite ist hohl. Auf der Unterseite (Abb. 2) bleibt eine große, rechteckige Öffnung als Luftloch für den Brand offen.


Die Figur ist an der gesamten Oberfläche mit Farbe überzogen: die Haut im Gesicht, am Hals, an der Schulter, der Brust und den Armen ist rot, die Haare tragen Spuren von gelber, die Gewänder von blauer und der Spiegel von orange-brauner Farbe. Die Figur zeigt eine leichte kontrapostische Haltung, wobei der Kopf wenig gesenkt und zur rechten Schulter hin geneigt, das rechte Bein als Spielbein locker zur Seite gestellt und das linke Standbein hinter dem Gewand versteckt ist. Beide Arme sind wenig zurückgenommen und in Hüfthöhe an den Körper angelegt. Die Frau hält in der rechten Hand einen runden Spiegel, an dem noch orange-braune Farbspuren erhalten sind und so die metallene Oberfläche des Geräts anzeigt. Mit der Linken hält sie den Saum des Himations.
Das Haar ist in einzelnen dicken Rollen nach hinten gekämmt und in einem Doppelzopf am Hinterkopf geknotet (Abb. 3). Diese Frisur nennt man in der archäologischen Forschung „Melonenfrisur“. Spuren von gelber Farbe sollen darauf hinweisen, dass die Haare ursprünglich blond waren. Die Figur trägt einen kurzen Mantel. Dieser hängt von der rechten Schulter nach vorne, bedeckt den halben Rücken, lässt die linke Schulter und den linken Oberarm frei, ist um den linken Unterarm gewickelt und fällt locker zur linken Körperseite herab. Unter dem Mantel trägt die Frau einen langen, hochgegürteten, ärmellosen Chiton, der die linke Brust frei lässt (Abb. 4).

Farbige Terrakotten von weiblichen Figuren hellenistischer Zeit sind schon seit den ersten Jahren des vorletzten Jahrhunderts aus böotischen Gräbern bekannt. Eine große Zahl davon stammt aus der Nekropole von Ritsona bei Tanagra, weshalb man die gesamte Gattung der hellenistischen Terrakotten von weiblichen Figuren Tanagräerinnen nennt. Inzwischen sind solche sog. Tanagräerinnen in fast allen Nekropolen von Böotien gefunden worden. Eine hohe Anzahl wurde zuletzt bei den Grabungen der Griechischen Bahn in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Tanagra entdeckt; allerdings steht die Publikation noch aus. Solche Terrakotten stammen aber nicht nur aus Böotien, sondern aus unterschiedlichen Landschaften, vor allem aus dem kleinasiatischen Myrina, aus Pergamon, aus Priene, aber auch aus Euböa und Attika sowie aus Centuripe in Italien und vielen anderen Orten.

Dem Motiv der entblößten Brust begegnet man schon seit dem 4.Jh. v.Chr. relativ häufig auf Terrakotten [2], deren Vorbild ein Aphroditebild, aller Wahrscheinlichkeit nach eine Bronzestatue des berühmten Bildhauers Kallimachos aus den Jahren um 410 v.Chr., war [3]. Die literarisch überlieferte Originalstatue des Kallimachos ist nicht erhalten, aber zahlreiche Marmorkopien und Variationen des Typus Louvre-Neapel, bekannt auch als Venus Genetrix oder als Aphrodite von Fréjus, geben mehr oder weniger treu das verlorene Werk wieder. Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Motiv weiter entwickelt bzw. vereinfacht, und die Eleganz des Urbilds geriet dabei zum Manierismus.
Von dem Original des Kallimachos ist wohl nicht nur das Motiv der linken entblößten Brust und der Verlauf des Himations, sondern auch der Stand der Figur gleich geblieben. Inwieweit dies auch für die Kopf- und die Armhaltung, die Frisur und die Attribute gilt, ist anhand der unterschiedlichen Wiederholungen des Originals nicht zu sagen. Das Original hätte wohl eine im späten 5.Jh. gängige Frauenfrisur gehabt, nämlich in gleichmäßigen Strähnen nach hinten gekämmtes und hoch im Nacken gebundenes Haar. Dagegen hat die Statuette der Privatsammlung in Würzburg eine Melonenfrisur mit einem Nackenzopf. Die Melonenfrisur hatte ihren Ursprung wohl in Thrakien und wurde in Griechenland erst kurz nach der Mitte des 4.Jhs. v.Chr. bekannt und anfangs nur von Mädchen getragen [4]. Die frühesten Beispiele sind auf Münzen aus der makedonischen Stadt Orthagoria mit der Kopfdarstellung der jungfräulichen Göttin Artemis zu sehen. Ihrer Verbreitung verdankte diese Frisur in Griechenland wohl den Makedonen. In der hellenistischen Zeit bleibt sie die typische Mädchen- und Frauenfrisur in allen griechischen Regionen.
Zwischen dem Vorbild und der Terrakotta in der deutschen Privatsammlung liegen wohl mehr als zweihundert Jahre, denn die Terrakotta wird an den Anfang des 2.Jhs. v.Chr. datiert. Zwar ist dieser Terrakottentypus schon im 3.Jh. belegt und manche Elemente, wie z.B. die Frisur und die Spiegelform, bleiben gleich, aber die Beziehung des Gewands zum Körper ändert sich. Diese Entwicklung ist in der zeitgleichen Reliefkunst zu sehen, die auch als Vergleich für die Terrakotten herangezogen wird [5]. In der ersten Hälfte des 3.Jhs. existiert eine organische Verbindung zwischen Gewand und Körper. Ein typischer Vertreter dieser Zeitstufe ist die gut erhaltene Statuette einer weiblichen Figur aus dem reich ausgestatteten Grab makedonischen Typus einer Frau aus Eretria, die aller Wahrscheinlichkeit nach Verbindungen zu der makedonischen Oberschicht hatte [6]. Die für Terrakotten erstaunliche Größe von 39 cm bildet eine Besonderheit innerhalb der Gattung der Tanagräerinnen und hat wenige Parallelen [7]. Die Drapierung folgt der Körperhaltung, die klaren Konturen des fülligen Körpers treten deutlich in Erscheinung.
Aber in der zweiten Hälfte des 3.Jhs. nimmt allmählich das Gewand an Bedeutung zu, die Glieder bleiben aber noch unter den schweren Tüchern zu erkennen. Im frühen 2.Jh. werden Körper und Gewand jedoch zu einer einheitlichen Masse geformt, das Gewand dominiert, der Körper ist darunter verschwunden. Auch bei der hier besprochenen Terrakotta hat man eine vage Vorstellung der Haltung des rechten Beins, aber das Gewand funktioniert wie eine Stütze für die gesamte Figur, und die Konturen des Unterkörpers bleiben im Großen und Ganzen verdeckt.

Die hier besprochene Figur hat zweifellos einen aphrodisischen Charakter. Ihre erotische Ausstrahlung wird nicht nur durch die entblößte Brust, sondern auch durch die dunkelrot gefärbte Haut betont, die in Kontrast zu den hellen Haar- und Gewandfarben steht. Die nackte Brust der hier vorgestellten Figur führt auf den ersten Blick zu ihrer Deutung als Hetäre. Diese Interpretation ist trotzdem voreilig [8].
Die rote Hautfarbe und der Spiegel in der Hand der Figur deuten nicht unbedingt auf einen Status als Hetäre sondern auf die Vorbereitung für die Hochzeit hin [9]. Bekanntlich waren die Frauen für ihre Hochzeit geschminkt. Das Schminken gehörte nicht zum täglichen Auftritt einer jungen Frau, sondern wurde nur bei bestimmten Anlässen verwendet, beispielsweise bei der Hochzeit. Durch die Hochzeit ging das Mädchen in die Altersstufe der Frau über. Da in der Antike die legitime Eheschließung ein Privileg der Mädchen und der Männer aus Familien mit Bürgerrecht bildete, war die Hochzeit nicht nur der Höhepunkt im Leben eines Mädchens sondern auch ihr Lebenstraum und ihr Ideal. Dieses Ideal versinnbildlichten die Tonstatuetten, wie die in der deutschen Privatsammlung in Würzburg, die sowohl in Heiligtümern als Votive, in Gräbern als Beigaben und in Privathäusern als Dekor aufgestellt wurden.

[1] Die Angabe zum Fundort stammen von dem Besitzer der Sammlung.
[2] Karlsruhe, Badisches Landesmuseum B 393, aus Italien, Centuripe, drittes Viertel des 3.Jhs. v.Chr.: W. Schürmann, Katalog der antiken Terrakotten im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Göteborg 1989) 209 Nr. 767 Taf. 127. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum B 1874, böotisch, letztes Viertel des 4.Jhs. v.Chr.: Schurmann ebenda 168 Nr. 614 Taf. 102.
[3] Vgl. A. Delivorrias in: LIMC 2 (1984) 2-151 s.v. Aphrodite, bes. 34f.; H. Büsing in: Künstlerlexikon der Antike 1 (2001) 393-396 s.v. Kallimachos.
[4] E. Lopes, Ethinicity Reconsidered: the Melon Coiffure from the Hyperboreans to Central Greece, Numismatica e Antichità Classiche, Quaderni Ticinesi 38, 2009, 27-48.
[5] Tonstatuette aus Eretria, Grab der Eroten MFAB 98.893: C. Huguenot, La tombe aux érotes et la Tombe d'Amarynthos. Architecture funéraire et présence macédonienne en Grèce centrale, Eretria. Fouilles et recherches 19 (Gollion 2008) II 179 Taf. 31, 1. 80. Dies., Das makedonische Eroten-Grab, in: C. M. Pruvot – K. Reber – T. Theurillat (Hrsg.), Ausgegraben! Schweizer Archäologen erforschen die griechische Stadt Eretria. Eine Ausstellung der Schweizerischen Archäologischen Schule in Griechenland in Zusammenarbeit mit dem Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, 22. September 2010 – 30. Januar 2011 (Basel 2010) 279-285.
[6] S. Schmidt, Hellenistische Grabreliefs. Typologische und chronologische Beobachtungen (Köln 1991).
[7] Vgl. Terrakotta einer Kybelestatuette ebenfalls aus Eretria, allerdings aus einem mehrräumigen Gebäude, das sog. Mosaikenhaus, wo auch weitere Tonstatuetten mit geringeren Maßen gefunden wurden.
[8] Die Nacktheit der Frauen in der attischen sf. und rf. Vasenmalerei wurde in der älteren Forschung als Kennzeichen der Hetären betrachtet. Die Untersuchungen von U. Kreilinger haben bewiesen, dass die Nacktheit sehr oft durch die Vorbereitungen für die Hochzeit bedingt ist. Die zukünftige Braut sollte schön und sauber neben ihrem Bräutigam sein: U. Kreilinger, Anständige Nacktheit. Körperpflege, Reinigungsriten und das Phänomen weiblicher Nackheit im archaisch-klassischen Athen (Rahden 2007).
[9] Vgl. J.H. Oakley, Death and the Child, in: J. Neils – J. H. Oakley (Hrsg.), Coming of Age in Ancient Greece. Images of Childhood from the Classical Past, Ausstellungskatalog Hood Museum of Art (New Haven 2003) 163-194.

© Maria Xagorari-Gleißner
e-mail: m.xagorari@gmx.net


This article should be cited like this: M. Xagorari-Gleißner, Wiedermal eine Hetäre?, Forum Archaeologiae 60/IX/2011 (http://farch.net).



HOME