Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 60 / IX / 2011

"DA STEH I DRAUF" - DIE AUSGRABUNGEN AM DOMPLATZ VON ST. PÖLTEN

Der Domplatz ist mit seinen knapp 5700m2 der zweitgrößte Platz der Stadt St. Pölten. Die Sanierung und Neugestaltung des Domplatzes gilt als eines der Schlüsselprojekte der Weiterentwicklung der Altstadt. Als Voraussetzung für dieses Vorhaben müssen aber flächendeckend archäologische Grabungen durchgeführt werden, will man den sich aus dem Bodendenkmalschutz ergebenden gesetzlichen Anforderungen genügen. Da sich aber das Österreichische Archäologische Institut nach einem Direktionswechsel und der damit verbundenen wissenschaftlichen Neuorientierung nach mehr als 20-jähriger Forschungstätigkeit im Herbst 2009 aus St. Pölten zurückgezogen hat, richtete die Stadtgemeinde St. Pölten im Frühjahr 2010 innerhalb des Fachbereichs Kultur und Bildung die Funktion eines Stadtarchäologen ein, dem als Hauptaufgabe die Organisation und Abwicklung der archäologischen Arbeiten am Domplatz zugeteilt wurde. Die Gesamtprojektleitung liegt in Händen des Baudirektors der Stadt, Dipl.-Ing. Kurt Rameis. Die archäologischen Grabungen starteten Anfang August 2010.
Aus dem historischen Quellenmaterial, einer Georadaruntersuchung (Abb. 1) sowie kleineren Sondierungsgrabungen war bekannt, dass am Domplatz mit zwei mittelalterlichen Kirchenbauten (ehemalige Pfarrkirche und eine Doppelkapelle) sowie einer unbekannten, aber sicherlich in die Tausende gehenden Anzahl von Bestattungen zu rechnen sei, da sich hier mindestens ab der Mitte des 11. Jahrhunderts bis 1779 der Stadtfriedhof befunden hat. Zudem liegt der heutige Domplatz im bebauten Areal des römischen municipium Aelium Cetium.


Die erste Grabungskampagne am Domplatz lief vom 2. August bis zum 26. November 2010. Die untersuchte Fläche lag an der Ostseite des Platzes, entlang des ehemaligen barocken Klosters, heute Sitz der Diözese St. Pölten. Eine der wesentlichen Zielsetzungen lag darin, durch die Abklärung der Befunddichte eine bessere Basis für die weitere Planung zu schaffen. Insgesamt wurde eine Fläche von ca. 300 m² untersucht, aber nicht bis zum gewachsenen Boden, sondern nur bis zu der für die Aufbringung der neuen Platzbefestigung notwendigen Tiefe von maximal einen Meter ab heutigem Niveau. Allerdings konnte stellenweise zur Klärung wichtiger wissenschaftlicher Fragen tiefer gegangen werden.
Obwohl man also durch schriftliche und bildliche Quellen über die Historie des Platzes relativ gut Bescheid wusste, brachte bereits die erste Grabungskampagne des Jahres 2010 zahlreiche Überraschungen ans Tageslicht (Abb. 2).
Die römerzeitlichen Schichten wurden nur an wenigen Stellen oberflächlich angeschnitten. Der aufgrund der Regelhaftigkeit des römischen Stadtplanes im Vorfeld in der Grabungsfläche zu vermutende römerzeitliche Nord-Süd-verlaufende innerstädtische Straßenzug mit den ihn begleitenden Mauerzügen konnte jedenfalls verifiziert werden. Die Breite des gesamten Straßenbereichs inklusive eventuell vorhandener Straßengräben und unbefestigter Randbereiche betrug ca. 12m. Die Belagsoberfläche bestand wie bei allen anderen bisher entdeckten Straßenabschnitten aus mehreren Schotterbelägen, stellenweise angereichert mit Mörtel. Innerhalb der weiter unten beschriebenen spätmittelalterlichen Mauerstrukturen zeigte sich, dass der östliche Bereich des ursprünglichen Schotterbelages der Straße von einer spätantiken Planierung überdeckt war, in die eine aus Lehm und Rundhölzern errichtete Konstruktion eingesetzt war – eine Fundamenttechnik, die quer durch alle Zeiten vor allem bei instabilen Bodenverhältnissen zur Anwendung gelangte. Die Überbauung der ehemaligen Randbereiche der Straßen im 4. Jahrhundert n.Chr. konnte in Aelium Cetium bereits mehrfach beobachtet werden. Unter dem geborgenen Fundmaterial sind auch zahlreiche Münzen und Gegenstände des täglichen Gebrauchs der römischen Epoche zuzuschreiben.
Völlig überraschend und den Ergebnissen der Georadaruntersuchung in diesem Bereich widersprechend kamen mehrere Mauerzüge direkt unter der Asphaltdecke zu Tage, die als Bestandteil des mittelalterlichen Klosters angesprochen werden können (Abb. 3). Der etwas schräg von Norden nach Süden laufende Mauerzug (Nr. 1) kann als Grenzmauer zwischen Kloster und Friedhofsbereich interpretiert werden. Zu einem derzeit noch nicht bekannten Zeitpunkt – hier ist die Aufarbeitung des Fundmaterials abzuwarten – hat man durch die Errichtung zweier weiterer Mauern (2–3) das ursprünglich unverbaute Areal dreigeteilt. Im Süden wurde ein weiterer großer Raum an die ursprüngliche Grenzmauer angesetzt (Raum 1).
Über die Funktion der freigelegten Baulichkeiten können nur bedingt Aussagen getroffen werden. An den tief fundamentierten, saalartigen Raum im Süden grenzen offene Hofbereiche (Hof 1 und 2) an, an die im Norden ein weiterer Innenraum (Raum 2) anschloss. In der Nordostecke des so genannten Hofes 1 wurde ein von Trockenmauern eingefasster 1,7x1,46m großer nach unten offener Latrinenschacht mit einer Tiefe von 3,85m entdeckt (Abb. 4). Die einzelnen Mauern waren teilweise miteinander verzahnt und unterschiedlich breit. Aufgrund des an der Nordmauer des Hofes erhaltenen Fundamentvorsprungs kann die Gesamttiefe mit 4,5m angegeben und das ursprüngliche Fassungsvermögen mit 11m3
berechnet werden. Darüber war eine hölzerne Sitzbank mit ein oder vielleicht auch zwei Öffnungen angebracht. Spuren eines Wetterschutzes in Form eines Daches oder eines hölzernen Toilettenhäuschens – wie auf manchen Bildquellen dargestellt – konnten keine festgestellt werden.


In der Verfüllung dieses Latrinenschachtes fanden sich mehr als 80 teilweise unversehrte, manche sogar als sensationell zu bezeichnende Fundstücke aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert n. Chr. Das Spektrum umfasst Ofenkacheln (Abb. 5), Küchengeschirr, vor allem Kannen und Töpfe, und Trinkbecher. Einzigartig und als eines der Prunkstücke hervorzuheben ist ein Beleuchtungsgerät in Form einer weiblichen Figur aus gebranntem Ton, deren Physiognomie stark an heutige Teufels- oder Hexendarstellungen erinnert (Abb. 6). Durch die in mühsamer Arbeit aus der Verfüllung herausgeschlämmten Speisereste, wie diverse Knochen, Fischgräten, Kerne von Obst und Beeren oder dergleichen, lässt sich ein lebendiges Bild des Klosterlebens im ausgehenden Mittelalter zeichnen.


Nach Abriss des spätmittelalterlichen Vorgängerbaus hat man im Zuge der Errichtung des barocken Klosters in den als Höfen angesprochenen Bereichen einen Teil der damaligen Baustelleneinrichtung angelegt. Zu diesem Zweck wurde das ursprüngliche Bodenniveau abgesenkt und mehrere große Wannen, entweder mit Holz verschalt oder aus Ziegeln errichtet, eingebaut, die zum Sumpfen des Löschkalks dienten. Ein massives Fundament, bestehend aus waagrecht in Mörtel verlegten Holzbalken, deren Zwischenräume ebenfalls mit Mörtel ausgefüllt wurden, könnte als Standfläche für einen Baukran oder Ähnliches gedient haben. Abdrücke von Holzbrettern und Pfostenlöcher von Baugerüsten verdeutlichen noch den Baustellencharakter.
Bereits für das 11. Jh. ist die Nutzung des Domplatzes als Friedhof nachgewiesen. Unter anderem wurde Imma, die Amme Heinrichs IV., im Jahre 1058 vor den Toren des Klosters bestattet. In der Sondage von 1994 konnte ein Sonderbestattungsareal für Kleinkinder festgestellt werden, das ebenfalls in das 11. Jahrhundert zu datieren ist. 1779 wurde der Friedhof aufgelassen und in den Bereich des ehemaligen Siechenspitals, heute Europaplatz, verlegt. Das Friedhofsareal nahm ursprünglich den gesamten heutigen Domplatz ein und erstreckte sich nach Süden und Südosten unter die heutige Verbauung. Hochgerechnet kann über diese Belegungszeit mit ca. 25000 Bestattungen gerechnet werden. Die seichte Lage, knapp unter der Asphaltschicht, ist mit Planierungsmaßnahmen im 19. Jahrhundert zu erklären, bei denen die oberste Friedhofsschicht mit einer zu vermutenden Stärke von 0,7 bis 1 m abgetragen wurde.
Friedhöfe von solcher Dimension stellen sowohl den Bauherrn als auch den Archäologen vor eine nicht leicht lösbare Aufgabe. Wie geht man mit dieser in die Tausende gehende Anzahl an Bestattungen um? Da der Friedhof mitten in der Stadt liegt und Vorfahren vieler einheimischer Familien hier bestattet sind, kommt eine Beseitigung mittels Bagger nicht in Frage – aus Denkmalschutzgründen, aber auch aus Pietät den Verstorbenen gegenüber. Aufgrund der Dichte konzentrieren sich die Arbeiten auf diejenigen Bereiche, die durch die Baumaßnahmen für die Platzgestaltung betroffen sind. Die seitens des Denkmalamtes vorgeschriebene Dokumentation erfolgt mit Hilfe der Photogrammetrie, da sich diese Methode, und zwar nicht nur in zeitlicher Hinsicht, als die effektivste erweist. Um einen pietätvollen Umgang zu gewährleisten, ist geplant, diese sterblichen Überreste nach Abschluss des Projektes in einem Sammelgrab am heutigen Friedhof unter Wahrung des Individuums beizusetzen.
2010 wurden knapp mehr als 500 Individuen dokumentiert, geborgen und untersucht (Abb. 7). Sie waren allesamt beigabenlos. Nur bei wenigen ließ sich die Beerdigung in einem Holzsarg nachweisen, der Großteil wurde wahrscheinlich nur in ein Leichentuch verhüllt begraben. Auch Trachtbestandteile wie Gürtelschnallen oder metallene Gewandhäkchen kamen überraschend wenige zum Vorschein.
Nach der vorsichtigen Bergung der Skelette erfolgt die Untersuchung jedes einzelnen Knochens durch Ass.-Prof. Dr. Fabian Kanz und Ass.-Prof. Dr. Karl Grossschmidt von der Medizinischen Universität Wien vor Ort. Die Bestimmung der im Vorjahr geborgenen 508 Individuen ergab 60% Erwachsene und 40% Kinder und Jugendliche. Unter den Erwachsenen waren 62% Männer und nur 37% Frauen, nur 1% war nicht mehr bestimmbar. Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Bereich, der gezielt nur zur Bestattung von Männern genutzt wurde, denn normalerweise wäre eine 50-zu-50-Verteilung der Geschlechter zu erwarten. Männer erreichten ein durchschnittliches Alter von 34 Jahren und eine Körperhöhe von 170cm, Frauen starben im Durchschnitt um 3 Jahre früher und erreichten eine Körperhöhe von 158cm. Eine Vielzahl von krankhaften bzw. traumatischen Veränderungen konnte bestimmt werden. Veränderungen an den Knochen aufgrund von Blutkrankheiten wie Anämien waren bisher nur selten zu finden. Neben möglichen Seuchen konnten auch andere infektiöse Erkrankungen, wie z. B. Syphilis, Osteomyelitis (Knochenmarkentzündung) oder Periostitis (Beinhautentzündung) nachgewiesen werden. Eine Vielzahl von Knochenbrüchen und verheilte oder auch tödliche Schädeltraumata, verursacht durch scharfe Gewalt, belegen Aggressionshandlungen und interpersonelle Konflikte.
Bis Mitte August 2011 sind am Domplatz bereits mehr als 1600 Individuen freigelegt, dokumentiert und wissenschaftlich untersucht worden. Erstmals werden nach Abschluss der Grabungen aufgrund der vorliegenden Basisdaten aus einer Siedlungskammer (Traisental) Veränderungen von Lebensbedingungen und Lebensumstände der Menschen lückenlos von der Steinzeit bis ins Mittelalter rekonstruiert werden können.


Die diesjährige Grabungskampagne startete am 14. März. Das Hauptaugenmerk gilt dabei der Erforschung der ehemaligen Pfarrkirche (Abb. 8). Bereits 1133 befand sich in der Einmündung der Domgasse in den Platz eine der hl. Maria geweihte Kirche. Nach deren Zerstörung durch Brände in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde 1365 unter Propst Ulrich Feyertager ein dreischiffiger Bau errichtet. Diese spätgotische Kirche zeichnete sich bereits unmittelbar nach Abtrag der Asphaltoberfläche im Planum ab. Die Mauerzüge sind unterschiedlich hoch erhalten, stellenweise aber zur Gänze ausgerissen. Der Ostabschluss konnte bereits in der Grabungsfläche von 2010 festgestellt werden. Damit ist die Kirche mit mehr als 40m Länge um einiges größer, als bisher anhand der Darstellung von 1653 vermutet worden war. Offenbar hat man den Chor bereits früher abgetragen als den Rest der Kirche, der um 1690 dem Boden gleichgemacht wurde. Dabei wurde auch der Boden im Langhaus vollständig entsorgt. Von der romanischen Kirche ist bisher nur die – allerdings sehr gut erhalten gebliebene – Apsis in der Grabungsfläche sichtbar. Im Grabungsbefund zeichnen sich in jeden Fall mehr als die bisher zwei bekannten Bauphasen ab.
Im Friedhofsbereich kamen einige auffällige Bestattungen zutage, unter anderem ein Sammelgrab mit mindestens 18 Personen, die offenbar gleichzeitig begraben wurden. Um der Todesursache auf die Spur zu kommen müssen aber noch weitere anthropologische Untersuchungen abgewartet werden.

Die Öffentlichkeitsarbeit ist von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtprojektes. Seit 17. Juni 2011 kann im Stadtmuseum die Sonderausstellung „Da steh i drauf. St. Pölten – Domplatz 2010. Eine archäologische Zwischenbilanz“ besichtigt werden, die in sehr anschaulicher Weise die Ergebnisse der letztjährigen Grabungskampagne präsentiert. Nach einer kurzen Zeitreise durch die Geschichte des Domplatzes (Abb. 9) und einem kleinen Einblick in den ausgegrabenen Teil des ehemaligen Stadtfriedhofes (Abb. 10) werden erstmals die zum Teil einmaligen Fundobjekte aus der Latrine, aber auch die Auswertung der archäozoologischen und archäobotanischen Untersuchungen gezeigt.
Um interessierten Besuchern das Geschehen noch näher zu bringen, wurde am Domplatz neben zwei Informationstafeln eine Aussichtsplattform errichtet (Abb. 11), die unabhängig vom Grabungsbetrieb betreten werden kann. Der erhöhte Standort bietet nicht nur die Möglichkeit, die Archäologen bei der Arbeit zu beobachten, sondern gewährt auch einen besseren Überblick auf die freigelegten Baureste.
Kostenlose Führungen werden zu festgesetzten Terminen angeboten, aber auch am Tag des Denkmals am 25. September oder bei der Langen Nacht der Museen am 1. Oktober wird die Grabung präsentiert. Gruppen können sich auch außerhalb der festgelegten Termine für Führungen anmelden. Für Schulklassen gibt es ein speziell abgestimmtes Programm, das Einblick in die Arbeitsmethode der Archäologen gewährt.


Info:
Stadtmuseum St. Pölten
Prandtauerstraße 2
3100 St. Pölten

Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr
Tel.: +43 2742 333-2643 bzw. -2602
www.stadtmuseum-stpoelten.at
Führungen auch außerhalb der Öffnungszeiten möglich!

Aktuelle Sonderausstellung bis 27. November 2011
Da steh i drauf. St. Pölten – Domplatz 2010. Eine archäologische Zwischenbilanz

Kontakt:
Mag. Dr. Ronald Risy
Stadtarchäologe
Magistrat St. Pölten
Email: Ronald.Risy@st-poelten.gv.at


© Ronald Risy
e-mail: Ronald.Risy@st-poelten.gv.at


This article should be cited like this: R. Risy, „Da steh i drauf“ – Die Ausgrabungen am Domplatz von St. Pölten, Forum Archaeologiae 60/IX/2011 (http://farch.net).



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