Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 56 / IX / 2010

EINE SPÄTKLASSISCHE STATUE MIT SCHULTERBAUSCH IM MUSEUM VON DELPHI*

Im Sommer 1894 kam im Zuge der französischen Grabungskampagnen im Heiligtum von Delphi oberhalb der nordöstlichen Tempelterrasse eine etwas überlebensgroße Marmorstatue eines jungen Mannes zutage. Sie wurde mit der Inventarnummer 1793 versehen und von den Ausgräbern um Th. Homolle als Sisyphos II der bekannten Daochos-Weihung zugerechnet [1]. Nachdem die Figur jedoch in einem abwertenden Artikel E.M. Gardiners und K.K. Smiths [2] von der illustren Plattform der thessalischen Prinzen gestoßen worden war, blieb sie in der weiteren Forschung wenig beachtet. Gerade aber in drei neueren Artikeln von M. Flashar und R. von den Hoff sowie W. Geominy wird die Figur in Zusammenhang mit einer anderen delphischen Weihung gebracht und in diesem Zuge etwas eingehender behandelt. Dass mir die damit einhergehende gleichzeitige Datierung für die Figur Inv. 1793 nicht ganz schlüssig erscheint, möchte ich hier kurz ausführen. Zuvor soll jedoch die trotz ihres vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrades im Museum von Delphi recht prominent ausgestellte Figur kurz vorgestellt und auf ihre kompositorische und stilistische Behandlung untersucht werden.

Bei der Statue Inv. 1793 (Abb. 1) handelt es sich um eine männliche Figur mit rechtem Stand- und linkem Spielbein, die bis auf einen an der linken Seite drapierten Mantel nackt ist. Sie stützt sich mit dem linken Ellbogen auf einen schmucklosen Pfeiler, der vom Mantel fast gänzlich verdeckt wird. Die Statue aus feinkörnigem weißem Marmor ist 2,02 m hoch erhalten (ohne der ca. 54 x 49 cm großen und 3-3,5 cm hohen Plinthe). Es fehlt der Kopf; von den Armen, die beide separat gefertigt und über Metallstifte (im Loch an der Innenfläche des linken Armstumpfes sind davon noch Reste zurückgeblieben) angestückt waren, sind vom rechten der Ansatz des Oberarmes und vom linken der Oberarm und Ellbogen erhalten. Die Statue wurde in mehrere Teile gebrochen gefunden und zeigt heute entsprechende Nahtstellen.


Für die Statue wird folgende Rekonstruktion vorgeschlagen: Die entlang des Halsansatzes verlaufende Bruchstelle des Kopfes liegt auf der linken Seite knapp über dem Schlüsselbein, während rechts noch ca. 5 cm vom Hals erhalten sind - gerade genug, um an der Spannung der Muskeln eine Drehung des Kopfes zur Spielbeinseite erahnen zu können. Obwohl der rechte Arm schon ab der Mitte des Bizeps fehlt, sprechen die darunterliegende, auf der gesamten Länge geglättete Seite ohne erkennbare Abbrüche oder sonstige Hinweise auf anstoßende Arm-/Handpartien bzw. Stege, dafür, dass sich dieser Arm bis zu einem gewissen Grad vom Körper löste (Abb. 2). Der linke Arm ist bis zu einer Länge von ca. 10 cm unterhalb des aufgestützten, vom Mantel verdeckten Ellbogens erhalten und wies gerade nach vorn. Die Pickung auf der Ansetzfläche ist nicht auf den eigentlichen Armstumpf beschränkt, sondern greift auch auf die darüber gebauschten Mantelfalten aus. Aus diesem Grund können diese nicht sichtbar gewesen sein - entweder weil sich der Mantel fortsetzte oder weil hier ein Gegenstand auflag [3].
Das Spielbein steht in einem deutlichen Abstand zum Standbein und setzt etwas weiter vorn und ebenfalls mit der gesamten Fußsohle voll auf den Boden auf. Diese Umstände verringern die optische Entspanntheit des Spielbeins, ein Eindruck, der durch die kompositorische Nebenrolle der Stütze noch verstärkt wird, die von Fuß, Bein und Mantel fast gänzlich verdeckt wird, und im übrigen auch viel zu weit hinten liegt, um als bequeme Stütze fungieren zu können (Abb. 1) [4]. Eine weitere Auffälligkeit sind die sehr schräggestellten Hüften mit der extrem nach außen und oben verschobenen Standbeinseite. Trotzdem wirkt die Figur lebendig und in ihrem Stil authentisch. Die Schultern und die zu diesen parallel liegenden Brustmuskeln, sind entsprechend dem Prinzip des Kontraposts geneigt. In der Vorderansicht lässt sich an der Figur eine doppelt S-förmig geschwungene Linie von der rechten Schulter über die rechte Hüfte bis zum linken Knie und von dort zum Boden durchziehen. An der rechten Seite lässt sich gut beobachten, wie sich der Rücken, mit durchgedrücktem Kreuz, zuerst stark nach hinten biegt um dann wieder nach vorne, (jedoch nicht ganz auf derselben Höhe) zurückzustreben und die Schultern in einem bis nach vorne durchgezogenen Bogen auszuformen (Abb. 2). Zu guter letzt bewegt sich die Figur auch um die eigene Achse, wofür die nach vorne verschobene rechte Hüfte Zeugnis ablegt. Es wurde also mit verschiedenen Mitteln versucht, einem starren Eindruck entgegen zu wirken.
An den Partien, die von den unterschiedlich stark ausgeprägten Verfärbungen und Versinterungen verschont blieben (so z. B. die linke Flanke), lässt sich erkennen, dass die Statue sehr fein geglättet wurde. Bei wenig einsichtigen Körperstellen, wie etwa der Innenseite der Schenkel, wurde jedoch auf diese letzte Bearbeitungsmaßnahme verzichtet. Dies betrifft auch den Mantel, der jedoch auf seiner gesamten Oberfläche feine Meißelspuren trägt, was gut zur stofflichen Textur des Kleidungsstückes passt. Er ist als ganzes eher einfach strukturiert und von wenigen Faltenzügen gegliedert. Sein oberes Viertel ist so umgeschlagen, dass sich ein flacher, länglicher Bausch bildet, dessen Rundung auf der linken Schulter zu liegen kommt und bis knapp über die untere Wölbung der Brustmuskel reicht. In der Armkehle treffen die Stoffbahnen, die vom auf der Schulter gebauschten Saum und von den Stoffpartien am Rücken nach vorne gezogen werden, zusammen und werden auf verschiedenen Ebenen geschichtet und von in verschiedene Richtungen laufenden Faltenkanälen gegliedert. Aus der Umschlingung am Unterarm hängt der, an dieser Stelle am differenziertesten gestaltete Teil des Mantels in zwei vertikalen, durch eine tiefe Bohrung voneinander getrennten Stoffbahnen herab, die unten in gezierten Zickzack-Fältelungen gelegt sind und am Ende ein unauffällig gearbeitetes Gewicht tragen.
Bei der stilistischen Behandlung der Oberfläche wurde auf eine klare Abgrenzung von Muskeln und sich unter dem Karnat abzeichnenden Knochen zugunsten von weichen schwellenden Formen verzichtet. Die Angabe geschieht nicht durch die scharfe Abfolge von tiefen Einschnitten und knapp hervorspringenden Wölbungen, oder als angespannt wirkende harte Muskelpakete, sondern die sich vorwölbenden Muskelpartien entwickeln sich immer allmählich. Die Meißellinie ist verwischt, von ihr ausgehend steigen die Schwellungen sacht und abgeschrägt an. Das Knochengerüst ist unter dem weichen Karnat kaum fassbar und tritt oft erst im Spiel von Licht und Schatten hervor, wofür etwa die Rippenbögen Zeugnis ablegen (Abb. 3).

Die bis dato geäußerten Datierungsvorschläge der Figur umspannen einen Zeitrahmen von der späten Klassik bis in die Kaiserzeit. Die beiden jüngsten [5] Publikationen, die sich zur Figur äußern, weisen die Schulterbauschstatue einer Figurengruppe zu, die im Zuge derselben Grabungskampagne wie Inv. 1793 gefunden wurde [6]. Dabei handelt es sich um drei Marmorfiguren - einen bärtigen alten Mann in Himation, Inv. 1819 (der bekannte 'Delphische Philosoph' Abb. 4), eine Frau in Chiton und Mantel, Inv. 1817 (Abb. 5), und einen die beiden Sterblichen mit einer ursprünglichen Höhe von 2,40 m (heute fehlt wie bei der Frau der Kopf sowie beide Arme) um Haupteslänge überragenden Gott, Inv. 1820, der als Dionysos identifiziert wurde (Abb. 6) [7].
In ihrem richtungweisenden Artikel zur Gruppe [8], die den Autoren als Familiengruppe ('Philosoph' und Frau) mit göttlichem Patron (Dionysos) im Stile der Weihung des Thessaliers Daochos [9] möglich erscheint, legen sich Flashar und von den Hoff auf eine einheitliche Datierung der drei Statuen in die Jahre zwischen 310 und 290 v.Chr. fest, und zwar "fehlen für eine zeitliche Einordnung bislang äußere Anhaltspunkte, sie ist infolgedessen nur durch eine stilistische Betrachtung zu gewinnen" [10].
Eine andere Meinung vertritt Geominy [11], der die Schulterbauschfigur als Hermes enagonios anspricht. Dadurch sieht er die Deutung Cains der Gruppe als Stiftung dionysischer Techniten bestätigt [12], da für ihn eine Verknüpfung von Theater - repräsentiert über die Dionysosfigur - mit gymnischem Agon - mit Schutzparton Hermes enagonios - nur auf der Plattform der sog. Soterien möglich erscheint [13]. Und zwar postuliert Geominy für die Entstehung der Gruppe einen terminus post quem von 246 v.Chr., einem Jahr für das eine Neugestaltung der Soterien unter Hinzufügung gymnischer Wettkämpfe überliefert ist [14].


M.E. sind jedoch die stilistischen Charakteristika, die Inv. 1817, 1819 sowie 1820 bzw. Inv. 1793 auszeichnen, zeitlich unvereinbar, und somit eine Zugehörigkeit der Schulterbauschfigur zur Gruppe nicht möglich. Die Behandlung des Gewandes, sowie die generelle Auffassung der Figuren im Raum, unterscheiden sich sehr stark voneinander.
Die Falten am Gewand der Dreiergruppe sind generell viel tiefer und scharfgratiger als am Mantel des Jünglings. Auch die Gliederung voluminöser, "schwerer" Stoffpartien, wie etwa der um den Bauch des 'Philosophen' und der Frau gestaute Mantel, oder der auf der Schulter des 'Philosophen' liegende Abschnitt ist anders als die Faltenwiedergabe am Mantel der Schulterbauschfigur. Dort gibt es nicht diese sich dem Auge entziehenden Faltengründe wie beim 'Philosoph', der Frau und dem Dionysos. Gerade an dieser Figur, die um einiges flüchtiger gearbeitet ist als der 'Philosoph' und die Frau, und deren Gewand wenig Gliederung erfährt, zeigt sich die unterschiedliche Auffassung der Wiedergabe von Stoff an der Dreiergruppe im Verhältnis zu Inv. 1793 und die stilistischen Unterschiede auch bei minimalistischer Gestaltung und der Konzentration auf einige wenige Stoffpartien, wie die vom Rücken über die rechte Seite über die Brust geführte Mantelbahn, werden umso bezeichnender! In diesem Sinne ist die Schulterbauschfigur den Gewandfiguren des Daochos-Anathems (s. etwa die Mäntel von Sisyphos I und II) näher als diesen drei Figuren.
Auch die von Geominy konstatierte Ähnlichkeit der Dübellöcher zur Anbringung der Anstückelungen von Gliedmaßen oder Gewandteilen erscheint mir nicht nachvollziehbar [15]. Denn die rechten Arme von Frau und Dionysos sind direkt unter der Schulter in ungewöhnlicher Art und Weise durch einen rechteckigen Dübel am Rumpf und nicht im Armquerschnitt fixiert, eine Eigenart, die die Schulterbauschfigur nicht besitzt.
Im Unterschied zur S-förmigen Schwingung und zum ponderierten Stand des Jünglings wirkt die Dreiergruppe blockhaft und starr. Das führt wieder der am flüchtigsten gestaltete Dionysos vor Augen, der von den breiten geraden Schultern bis zum genauso breiten am Boden aufliegenden Chitonsaum wie ein rechteckiger Riegel erscheint. Das Standbein ist völlig unsichtbar, die Körperkontur wird allein vom Gewand bestimmt, die geometrisch ausgebreitete Fläche der Front ist bis auf das (sehr tief liegende) Spielbeinknie nicht gegliedert, und würde man von der Seite nicht den weit nach hinten ausgreifenden Spielbeinunterschenkel sehen, käme man nur schwer auf die Idee, man habe es mit einem anthropomorphen Wesen zu tun.
In diesem Sinne ist auch ein Vergleich der Frau Inv. 1817 etwa mit der 'Themis von Rhamnous' [16] aufschlussreich. Während der Künstler der 'Themis' bemüht ist, die Schwingung des Körpers sowie eine verbindende Körperkontur und die Relation einzelner Körperpartien nachvollziehbar zu machen, wirkt der Stand der Frauenfigur in Delphi starr und unübersichtlich. Die Standbeinhüfte ist stark nach außen verschoben, der daraus resultierende Knick wird jedoch durch die über den Körper gezogene Stoffbahn kaschiert. Die Position der Spielbeinhüfte bleibt gänzlich unklar - das Gewand übernimmt hier die Funktion der Umrisslinie des Körpers. Das Spielbein scheint in einer geraden Linie bis an den unter den Brüsten über den Körper gezogenen Mantelbausch zu führen. Der Unterleib hat die Form eines aufgestellten Rechtecks, auf dem dann der, nicht nur in der Höhe, sondern auch in der Breite im Vergleich dazu verschwindende Oberkörper sitzt. Versucht man hingegen den 'Philosophen' Inv. 1819 in Beziehung zu den recht gut datierbaren Ehrenstatuen des Sophokles im Vatikan (noch vor 336 v.Chr.) [17] sowie des Demosthenes (280 v.Chr.) [18] zu setzen, so ist der 'Philosoph' in Delphi dem frühhellenistischen Standbild des attischen Redners mit seinen den Kontrapost negierenden eklektischen Formen und seinem blockhaften Unterleib mit gerade nach oben strebendem Spielbein und durch die Mantelkontur ersetztem Standbein viel näher als der Statue des 4. Jahrhunderts, an der der Mantel bewusst so drapiert wird, dass die gesamte, ausgewogen ponderiert und gegliederte Figur mit dem Schwerpunkt in der Körpermitte, für das Auge nachvollziehbar bleibt.

Diese Vergleiche sollen deutlich machen, dass die Schulterbauschstatue Inv. 1793 und die drei Figuren um den 'Delphischen Philosophen', deren Kreis er m.E. nach ungerechtfertigter Weise zugewiesen wurde, von der in absoluten Chronologien schwer, in Bezug auf Ausstrahlung und Stil jedoch sehr wohl fassbaren "Kluft" zwischen Spätklassik und Frühhellenismus getrennt werden [19]. Der Jüngling besitzt noch nicht das frühhellenistische Missverhältnis zwischen Unter- und Oberkörper, die im Vergleich zu den (nun gerne nach hinten gestellten) Unterschenkeln überlangen Oberschenkel, die oft in einer geraden Linie bis an die Brust zu reichen scheinen, wie es auch an den drei Figuren beobachtet werden kann. Er ist in seinem grundsätzlichen Aufbau dem klassischen Prinzip des Kontraposts und der organischen Wechselwirksamkeit der einzelnen Körperteile verpflichtet, ein Grundzug, der durch das Aufbrechen von Gestaltungsnormen, die ihren Einfluss auf die gesamte Figur geltend machen, in der Kunst des Hellenismus immer mehr verloren geht [20].
Die ponderierte Figur mit Schulterbauschmantel Inv. 1793 im Museum von Delphi ist demnach aufgrund ihrer stilistischen Merkmale noch vor die Jahrhundertwende, in die letzten Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts v.Chr. zu setzen.

Abgekürzte Literatur
Bol 2007: P.C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der griechischen Bildhauerkunst III: Hellenistische Plastik (Mainz 2007).
Flashar - von den Hoff 1993: M. Flashar - R. von den Hoff, Die Statue des sog. Philosophen Delphi im Kontext einer mehrfigurigen Stiftung, BCH 117, 1993, 408-433.
Geominy 1998: W. Geominy, The So-called Delphi Philosopher and his Context, in: Regional Schools in Hellenistic Sculpture. Proceedings of an International Conference held at the American School of Classical Studies at Athens, March 15-17, 1996 (Athen 1998) 61-68.

[*] Dieser Beitrag zieht seine Informationen aus einer von der Autorin im Sommer 2008 an der Universität Wien vorgelegten Diplomarbeit, die eine umfassende Aufarbeitung dieser Figur, ausgehend von einer detaillierten Autopsie mit Fotodokumentation (für die dazu erteilte Erlaubnis und die zuvorkommende Unterstützung vor Ort bedanke ich mich herzlich bei Museumsdirektorin E. Skorda sowie Ephorin E. Partida), Recherchen bezüglich Fundort und Fundumständen, stilistische Betrachtungen und eine zeitliche Einordnung sowie ikonographische Überlegungen und den Versuch einer Benennung zum Ziel hatte. Aufgrund des eingeschränkten Platzes können hier nur zwei Teilaspekte vorgestellt werden: eine knappe Beschreibung der Figur sowie eine Diskussion ihrer jüngsten Interpretationsvorschläge mit implementierter Datierung. Ein ausführlicher Artikel befindet sich in Vorbereitung zum Druck.
[1] Th. Homolle, Lysippe et l'ex-voto de Daochos, BCH 23, 1899, 421-485; bes. 426-427. 437. 460-462; Taf. 9. Einen Überblick über die Forschungsgeschichte des Daochos-Monuments mit Lit. bis 1968 sowie eine genaue Behandlung der Skulpturen findet sich bei T. Dohrn, Die Marmor-Standbilder des Daochos-Weihgeschenks in Delphi, AntPl 8 (München 1968); s. a. zuletzt A. Jacquemin, Le monument de Daochos ou le trésor de Thessaliennes, BCH 125, 2001, 305-332.
[2] E.M. Gardiner - K.K. Smith, The Group dedicated by Daochos at Delphi, AJA 13, 1909, 447-457; bes. 454-455. 457-459; Abb. 8f.
[3] Könnte darauf auch die kleine Ausbruchstelle, die dazu in schräger Verlängerung läuft, hindeuten? Ein Bruchstück im Depot des delphischen Museums weist an eben dieser Stelle einen muldenförmigen Ausbruch auf und hat überdies noch den unteren Teil eines Kerykeions erhalten, kann hier also zweiffellos mit dem nach oben weisenden Schaft in Verbindung gebracht werden. Im Vergleich dazu ist die Ausbruchstelle am Arm von Inv. 1793 jedoch deutlich kleiner und vermutlich überhaupt zu klein um mehr zu sein als eine sekundäre Bestoßung des Materials.
[4] Das wird z.B. im Vergleich mit der (heute) als Daochos-Sohn Sisyphos II. angesehenen Figur (Delphi Inv. 1551+1435+11785) umso deutlicher, dessen Körper entsprechend schräg zu seiner Stütze gestellt ist und auch darauf lastet (zum Daochos-Anathem s. Anm. 1).
[5] Die eigentlich letzte Erwähnung der Schulterbauschfigur Inv. 1793 erfolgt durch W. Geominy, Die allmähliche Verfertigung hellenistischer Stilformen (280-240 v. Chr.), in: Bol 2007, 43-102; bes. 44. 59. Tafelband Abb. 57. Der Autor wiederholt dort allerdings nur kurz seine Thesen aus Geominy 1998.
[6] Zu den Fundumständen s. Flashar - von den Hoff 1993, 409-414.
[7] Die Benennung stammt von H.-U. Cain, der die Dreiergruppe als Stiftung dionysischer Techniten interpretiert und sie (evtl. noch um andere Figuren erweitert) für das früheste bekannte Beispiel einer solchen Techniten-Weihung hält (Datierung um 300); H.-U. Cain in: ders. (Hrsg.), Dionysos - "Die Locken lang, ein halbes Weib?..." Ausstellungskatalog Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München (München 1997) 67.
[8] Flashar - von den Hoff 1993.
[9] Dort wird den Familienmitgliedern des Stifters in der Rekonstruktion ein sitzender Apoll zur Seite gestellt (vgl. Anm. 1).
[10] Flashar - von den Hoff 1993, 418. Vergleichsbeispiele sind die Figuren des Maussoleons von Halikarnass, die Themis von Rhamnous, eine Mädchenstatue in München, "der" Demosthenes, ein Kyniker in den Kapitolinischen Museen u. a. (vgl. bes. 418-425).
[11] Geominy 1998.
[12] s. Anm. 7. Wobei Geominy das Paar (?) aus 'Philosoph' und Frau eher als Geldgeber denn als selbst Aktive sieht (Geominy 1998, 63). Er nennt eine Parallele aus Korkyra, wo ein Stifterpaar die Dionysien von Korkyra finanziert (IG IX 1, 694).
[13] Geominy hängt der These an, dass sich die Dionysos-Artisten erst nach dem Einfall der Gallier in Delphi etablieren konnten, und zwar durch Einrichtung von Fest-Spielen, den sog. soteria, die die Befreiung von den Galatern feiern sollten. Während Flashar - von den Hoff, die auch schon an diese Möglichkeit gedacht hatten, eine Entstehung der Gruppe nach 280/279 (dem Jahr des Galliersturms) aufgrund ihrer stilistischen Beobachtungen ausgeschlossen hatten, meint Geominy "that it would perhaps be better to question their proposed dating rather than the attractive theory which sees the 'Philosopher' and the woman as benefactors of the artists, thus enabling the celebration of the Soteria" (Geominy 1998, 63).
[14] G. Nachtergael, Les Galates en Grèce et les Sôtéria de Delphes, Académie Royale de Belgique, Mémoires de la classe des lettres 63, 1 (Brüssel 1977) 399.
[15] Geominy 1998, 66.
[16] Die 'Themis' befindet sich im Nationalmuseum Athen, Inv. 231. Die jüngere Forschung datiert die Figur in die Jahre 320/310. Auf einen terminus ante quem von 316 v.Chr. für die Entstehung der 'Themis' aufgrund epigraphischer Zeugnisse kommen P. Themelis, Attic Sculpture from Kallipolis (Aitolia): a Cult Group of Demeter and Kore, in: Regional Schools in Hellenistic Sculpture. Proceedings of an International Conference held at the American School of Classical Studies at Athens, March 15-17, 1996 (Oxford 1998) 47-59, bes. 55f. und J. Frel, GettyMusJ 6-7, 1978-79, 76-82. Weitere Literatur zur 'Themis von Rhamnous' und Abbildungen finden sich bei Bol 2007, Abb. 22 a-c (Lit. in Bd. I, S. 378).
[17] Rom, Vatikanische Museen, Museo Gregoriano Profano Inv. 9973. Zur Datierung nach Angaben bei Pseudo-Plutarch s. J.A. Overbeck, Über einige Apollonstatuen berühmter griechischer Künstler, in: Berichte der philos.-historischen Classe der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften (Leipzig 1886) Nr. 1411 und C. Maderna, Die letzten Jahrzehnte der spätklassischen Plastik, in: P.C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der griechischen Bildhauerkunst II: Klassische Plastik (Mainz 2004) 303-382; Abb. und Lit. Zum Sophokles ebd., 546; Abb. 389a.
[18] Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptothek Inv. 2781. s. R. von den Hoff, Die Plastik der Diadochenzeit, in: Bol 2007, 1-39, bes. 26; Ch. Kunze, Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation (München 2002) 78; weitere Lit. und Abb. bei Bol 2007, 378f. Abb. 26a-b. 58.
[19] Zur heiklen "Übergangsphase" zwischen (Spät)klassik und (Früh)hellenismus s. z.B. von den Hoff (supra Anm. 18) 1f. 4 und Geominy 1998, 62.
[20] Auch die jüngst von Kunze (supra Anm. 18) 135-142, angestellten Beobachtungen zur für die Spätklassik typischen "statisch repräsentierenden Darstellungsweise, die in betonter Form auf "äußerliche" Handlungselemente und eindeutig situationsgebundene Schilderungen verzichtet" (ebenda 136), treffen für den ruhig stehenden delphischen Jüngling mit seiner repräsentativ-unbewegten Manteldrapierung und der situativ unspezifischen Haltung der Arme zu.

© Agnes Nordmeyer
e-mail: Agnes.Nordmeyer@oeaw.ac.at


This article should be cited like this: A. Nordmeyer, Eine spätklassische Statue mit Schulterbausch im Museum von Delphi, Forum Archaeologiae 56/IX/2010 (http://farch.net).



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