Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 56 / IX / 2010

ZENTRALISIERUNG UND DEZENTRALISIERUNG - DIE EVOLUTION DES SIEDLUNGSMUSTERS IN ATTIKA VON KLASSISCHER BIS HELLENISTISCHER ZEIT

Einführung
Der vorliegende Beitrag versucht die Änderungen in der Landnutzung und Besiedlung der ländlichen Gebiete Attikas zwischen dem 5. und dem 1. Jahrhundert v.Chr. zu fassen und zu erklären. Er basiert auf den Ergebnissen meiner archäologischen Geländebegehungen im Gebiet von Oropos.

Dezentralisierung und Zentralisierung
Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie kann durch die räumliche Anordnung und die natürlichen Landschaftsmerkmale von archäologischen Stätten, besonders durch die Untersuchung der Prozesse der Zentralisierung und Dezentralisierung, erklärt werden.
Zentralisierung ist definiert als "ein Muster von wenigen, dicht bebauten und verhältnismäßig weit voneinander entfernt liegenden Anlagen, unabhängig von deren Größe" und Dezentralisierung als "eine größere Anzahl von gleichmäßiger verteilten Anlagen" [1]. Diese zwei Begriffe werden in archäologischen Studien zu Siedlungsmustern allgemein verwendet, aber nun können anhand der archäologischen Geländebegehungen im Gebiet von Oropos die besonderen Verhältnisse, unter denen sie erscheinen, genauer überprüft werden und dadurch erstmals zwei Typen von Zentralisierung und Dezentralisierung [2] unterschieden werden.
a) Dezentralisierung: Typ a. Ist die Besiedlung eines Gebietes rezent erfolgt, so zeigt die Dezentralisierung ein Muster, nach dem kleine Ansiedlungen so angeordnet sind, dass sie die regionalen landwirtschaftlichen Ressourcen umfassend nutzen.
b) Dezentralisierung Typ b. Es handelt sich um kleinere ländliche Siedlungen, die von einer ursprünglichen Siedlung abgeleitet sind. Dies kann die Folge eines Bevölkerungsanstieges in der ursprünglichen Siedlung sein oder an dem Druck einer erhöhten landwirtschaftlichen Produktion liegen.
c) Zentralisierung: Typ a. Dieser Typ von Zentralisierung bildet sich in Fällen aus, in denen die ersten Einwohner ein ursprüngliches Zentrum bewohnen und die in seinem unmittelbaren Umland liegenden landwirtschaftlichen Ressourcen nutzen.
d) Zentralisierung: Typ b. Vom zweiten Typ von Zentralisierung ist in den Fällen zu sprechen, in denen sich die ländliche Bevölkerung infolge von Finanzrezession oder Wandel der sozialen Strukturen in einem städtischen Zentrum ansammelt.

Wandel im Siedlungsmuster
Nach den Daten des Survey von Oropos (Abb. 1-2) [3] scheint das Siedlungsmuster in Attika im fünften Jahrhundert v.Chr. aus wenigen um die Zentren der Demen gelegenen Gehöften bestanden zu haben (Zentralisierung Typ b).
Im 4.Jh. v.Chr. fand eine Expansion in die weiter entfernten Gebiete statt, die einer Dezentralisierung vom Typ b entspricht. Ähnliche Entwicklungen treten nach der Mitte des 4.Jhs. v.Chr. auch in anderen Gebieten Griechenlands auf, z.B. in der südlichen Argolis, in Böotien, auf einigen Inseln (Tenos, Rhenia und Delos), und auf der Peloponnes (Megalopolis, Nemea, Lakonien, Methana) [4].
Im Laufe des 3. Jahrhunderts v.Chr. kehrt dieser Trend um: Die vorliegenden Daten weisen darauf hin, dass während des dritten Jahrhunderts allmählich ein Prozess der Zentralisierung von statten geht und die Zahl der ländlichen Siedlungsanlangen abnimmt. Dieser Rückgang prägt sich im 2. und besonders im 1.Jh. v.Chr. noch stärker aus [5].
Die Aufgabe der ländlichen Gebiete lässt sich in dieser Zeit auch in anderen Teilen Griechenlands beobachten: in der Ebene von Skourta wird Panakton zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts verlassen [6]; im südwestlichen Böotien werden reihenweise Stätten aufgegeben und gleichzeitig gibt es eine Tendenz zur Zentralisierung, die vielleicht ein Ergebnis der allgemeinen Rezession und der Aufgabe von kleinen Gehöften ist [7]. Auf der Peloponnes zeigen sich ähnliche Entwicklungen in der südlichen Argolis [8], im Tal von Nemea [9], auf der Halbinsel von Methana [10] und in Arkadien [11]; dasselbe gilt für die ägäischen Inseln [12].


Diskussion
Die für das 5. vorchristliche Jahrhundert in Oropos zu beobachtende Zentralisierung kann in erster Linie aufgrund sozialer Faktoren erklärt werden. Erstens bedurften die Gemeinschaften der Solidarität und dem Zusammenhaltsgefühl (Osborne 1985). Zweitens wurde das ländliche Leben während des überwiegenden Teiles der klassischen Zeit von Gehöften von einzelnen Familien beherrscht, denen kleine oder mittelgroße Parzellen des Landes gehörten. Die sozialen Schichten wurden noch von den ausgleichenden Mechanismen ("levelling mechanisms") [13] der griechischen Polis kontrolliert, die sicherstellten, dass keine Elite zu viel Macht erwarb.
Die sich im vierten Jahrhundert vollziehende Dezentralisierung kann aus dem Bedürfnis nach gesteigerter landwirtschaftlicher Produktion entstanden sein, die mit der Intensivierung der Landwirtschaft erreicht wurde. Letztere gelang durch die Erschließung neuer, fruchtbarer Gebiete. Diesen Prozess haben vermutlich eine Vielzahl von Faktoren ausgelöst: 1) Soziale Faktoren, die den Niedergang der traditionellen sozialen Strukturen der Polis betrafen und damit zum Aufkommen einer Klasse von Großgrundbesitzern und dem Verschwinden der Kleinbauern führte. 2) Demographische Faktoren, die den gut belegten Bevölkerungsanstieg in den Stadtstaaten einschließen, der in der frühhellenistischen Zeit seinen Höhepunkt erreichte. Der so entstandene Bevölkerungsdruck, zwang einen Teil der Bevölkerung zur Umsiedlung auf das Land. 3) Zu den politischen Faktoren zählt der Prozess bei dem sich kleinere Stadtstaaten politisch stärkeren unterordneten: So trug beispielsweise die Anschließung von Oropos zunächst an Athen und später an Theben zur Dezentralisierung der Siedlungen im nordöstlichen Attika bei [14]. Die Intensivierung der landschaftlichen Produktion könnte daher das Gesamtresultat des Versuches sein, eine größere Bevölkerung zu ernähren und die Finanzforderungen der dominierenden Mächte zu befriedigen. 4) Zu den religiösen Faktoren gehört die Existenz mehrerer Heiligtümer (z.B. Eleusis, Amphiareion, Brauron) als Zentren wirtschaftlicher Tätigkeit und Nutzung landwirtschaftlicher Ressourcen [15].


Auch die erneute Zentralisierung im dritten Jahrhundert resultierte aus einer Reihe von Faktoren. Aufgrund der Hinweise aus dem ländlichen Nordosten Attikas scheint der Niedergang der ländlichen Stätten nicht auf einen demographischen Rückgang zurückzuführen zu sein, sondern eher auf Instabilität im System der Landnutzung, denn letztere hatte die Konzentration der Bevölkerung in den städtischen Zentren zur Folge. Die Gründe für diese Instabilität könnten mit Krieg und dem aus ihm resultierenden Bedürfnis nach Sicherheit in Zusammenhang stehen [16], sowie mit dem Druck auf die landwirtschaftlich produzierende Bevölkerung des hellenistischen Griechenlands, der zu einem generellen wirtschaftlichen Niedergang führte. Soziale Faktoren könnten ebenfalls eine Rolle gespielt haben: So etwa die Übertragung von Landeigentumsrechten an wohlhabende Personen und die Umsiedlung von Kleinbauern in Städte. Es gilt als communis opinio bei Historikern, dass in der hellenistischen Zeit solche Phänomene infolge von erhöhter sozialer Schichtung und sozialer Ungleichheit aufgetreten sind, die sich in der Anhäufung von Reichtum in den Händen einiger mächtiger Personen und dem Verbreitern der Kluft zwischen arm und reich widerspiegeln [17]. Römisches Eingreifen, das sich bereits im 2.Jh. v.Chr. bemerkbar macht, scheint kein entscheidender Faktor in diesen Entwicklungen gewesen zu sein, denn es gibt keinerlei Belege für Unruhen der Bevölkerung gegen die Römer derart wie sie andernorts gut dokumentiert sind [18]. Obwohl die Anzahl der archäologisch belegten Siedlungsstätten keinen direkten Rückschluss auf die Intensität der landwirtschaftlichen Produktion zulässt (besonders eingedenk der extensiven landwirtschaftlichen Strategien der Großgrundbesitzer), gibt es literarische Hinweise sowie Inschriften, die auf Getreidemangel in Athen und anderen Stätten Attikas, wie beispielsweise in Oropos hindeuten. Dieser Mangel wird dem Niedergang der landwirtschaftlichen Produktion zugeschrieben, der durch eine größere Bevölkerungsdichte in der Stadt noch verschlechtert worden wäre. Auch politische Faktoren spielten eine Rolle: In Zeiten der Unabhängigkeit der peripheren Stadtstaaten (wie etwa Oropos in mittel- und späthellenistischer Zeit), erlitten die Stadt und ihr Umland Finanzrezession, die sich in der Aufgabe der Bewirtschaftung des Umlandes und der aus literarischen und epigraphischen Quellen gut belegten Unfähigkeit der Stadt ihre Bürger mit Nahrungsmitteln zu versorgen, offenbarte. Die Ursachen für diese Prozesse waren sowohl interner als auch externer Natur, da die langen Zeiträume der Unterordnung unter externe Mächte jene Städte ihrer Infrastruktur und politischer Erfahrung beraubten, die notwendig sind, um wirtschaftliche Langzeitsstrategien zu entwickeln und aufrecht zu erhalten; mit dem Ergebnis, dass ihr Schicksal sogar zu Zeiten von Unabhängigkeit nah mit den wirtschaftlichen Bedingungen des hellenistischen Griechenlands verknüpft war.

Literaturverzeichnis
Alcock 1989: S. Alcock, Archaeology and Imperialism: Roman Expansion and the Greek City, JMA 2, 1989, 87-135.
Alcock 1993: S. Alcock, Graecia Capta. The Landscapes of Roman Greece (Cambridge 1993).
Alcock 1997: S. Alcock, Changes on the ground in early Imperial Boeotia, in: J. Bintliff (Hrsg.), Recent Developments in the History and Archaeology of Central Greece. Proceedings of the 6th International Boeotian Conference, BAR International Series 666 (Oxford 1997) 287-303.
Alcock 2000: S. Alcock, Classical order, alternative orders, and the uses of nostalgia, in: J. Richards, M. van Buren (Hrsg.), Order, Legitimacy, and Wealth in Early States. New Directions in Archaeology. Cambridge University Press (Cambridge 2000) 110-119.
Bintliff 1985: J. Bintliff, Greece: the Boeotia Survey, in: S. Macready, F.H. Thompson (Hrsg.), Archaeological Field Survey in Britain and Abroad. The Society of the Antiquaries, Occasional Paper 6 (London 1985) 196-216.
Bintliff 1991a: J. Bintliff, The contribution of an Annaliste/structural history approach to archaeology, in: J. Bintliff, J., (Hrsg.), 1997: Recent Developments in the History and Archaeology of Central Greece. Proceedings of the 6th International Boeotian Conference. BAR International Series 666, Oxford, 1-33.
Bintliff 1991b: J. Bintliff, The Roman Countryside in Central Greece: Observations and Theories about the Boeotia Survey (1978-1987), in: G. Barker, J. Lloyd (Hrsg.), 1991: Roman Landscapes: Archaeological Survey in the Mediterranean Region. Archaeological Monographs of the British School at Rome 2 (London 1991) 122-132.
Bintliff - Snodgrass 1985: J. Bintliff - A.M. Snodgrass, The Cambridge/Bradford Boeotian Expedition: the First Four Years, JFA 12, 1985, 123-161.
Bintliff - Snodgrass 1988a: J. Bintliff - A.M. Snodgrass, The End of the Roman Countryside: A View from the East, in: R. Jones u.a. (Hrsg.), 1988: First Millennium Papers: Western Europe in the First Millennium A.D., BAR-International Series 401 (Oxford 1988) 175-217.
Bintliff - Snodgrass, 1988b: J. Bintliff - A.M. Snodgrass, Mediterranean Survey and the City, Antiquity 62, 1988, 57-71.
De Polignac 1995: F. De Polignac, La naissance de la cité grecque. Cultes, espaces et société, VIIIe-VIIe siècle av. J.-C. La Decouverte (Paris 1995).
Cosmopoulos 2001: M.B. Cosmopoulos, The Rural History of the Greek City-States. Oropos and the Oropos Survey Project, BAR-International Series 1001 (Oxford 2001).
Foxhall 1990: L. Foxhall, The dependent tenant: land leasing and labour in Italy and Greece, JRS 80, 1990, 97-114.
Jameson u.a. 1994: M.H. Jameson - C.N. Runnels - T.H. van Andel, A Greek Countryside. The Southern Argolid from Prehistory to Present Day (Stanford 1994).
Keller 1985: D.R. Keller, Archaeological Survey in Southern Euboia, Greece: a Reconstruction of Human Activity from Neolithic Times through the Byzantine period (Ph.D. Diss., Universität von Indiana 1985.
Keller - Wallace 1986: D.R. Keller - M. Wallace, The Canadian Karystia Project, EMC/CV 30, 1986, 155-159.
Keller - Wallace 1987: D.R. Keller - M. Wallace, The Canadian Karystia Project, 1986, EMC/CV 31, 1987, 225-227.
Lloyd 1991: J. Lloyd, Forms of rural settlement in the early Roman empire, in: G. Barker - J. Lloyd (Hrsg.), Roman Landscapes: Archaeological Survey in the Mediterranean Region, Archaeological Monographs of the British School at Rome 2 (London 1991) 233-240.
Mee u.a. 1991: C. Mee - D. Gill - H. Forbes - L. Foxhall, Rural Settlement Change in the Methana Peninsula, Greece, in: G. Barker - J. Lloyd (Hrsg.), Roman Landscapes: Archaeological Survey in the Mediterranean Region, Archaeological Monographs of the British School at Rome 2 (London 1991) 223-232.
Munn 1989: M.H. Munn, New Light on Panakton and the Attic-Boiotian Frontier, in: H. Beister - J. Buckler (Hrsg.), Boiotika. Vorträge vom 5. Internationalen Böotien-Kolloquium. Institut für Alte Geschichte Ludwig-Maximilians-Universität München, 13.-17. Juni 1986, Münchener Arbeiten zur Alten Geschichte, Band 2 (München 1989) 231-244.
Munn - Zimmerman-Munn 1989a: M.H. Munn - M.L. Zimmerman-Munn, The Stanford Skourta Plain Project: the 1987 and 1988 seasons of survey on the Attic-Boiotian frontier, AJA 93, 1989, 274-275 (abstract).
Munn - Zimmerman-Munn 1989b: M.H. Munn - M.L. Zimmerman-Munn, Studies on the Attic-Boiotian Frontier: the Stanford Skourta Project, 1985, Boiotia Antiqua I, 1989, 73-127.
Munn - Zimmerman-Munn 1990: M.H. Munn - M.L. Zimmerman-Munn, On the Frontiers of Attica and Boiotia: the Results of the Stanford Skourta Plain Project, in: Essays in the Topography and History of Boiotia, Teiresias Supplement 3 (Montreal 1990) 33-40.
Osborne 1985: R. Osborne, Demos: The Discovery of Classical Attica (Cambridge 1985).
Runnels - van Andel 1987: C.N. Runnels - T.H. van Andel, The evolution of settlement pattern in the Southern Argolid, Greece: An Economic Explanation, Hesperia 56, 1985, 303-334.
Wright u.a. 1985: J.C. Wright - J.F. Cherry - J.L. Davis - E. Mantzourani, Το ερευνητικό αρχαιολογικό πρόγραμμα στην κοιλάδα της Νεμέας κατά τα έτη 1984-1985, AAA 18, 1985, 86-104.
Wright u.a. 1990: J.C. Wright - J.F. Cherry - J.L. Davis, E. Mantzourani, S.B. Sutton, und Robert F. Sutton, Jr., The Nemea Valley Archaeological Project: A Preliminary Report", Hesperia 59, 1990, 579-659.

[1] Runnels - van Andel 1987, 303.
[2] Cosmopoulos 2001.
[3] Cosmopoulos 2001.
[4] Jameson u.a. 1994, 383-385, 392.
[5] Cosmopoulos 2001.
[6] Munn 1989; Munn - Zimmerman-Munn 1989a; 1989b; 1990.
[7] Bintliff - Snodgrass 1985, 139-149; 1985b, 64-65; 1988a, 177-179; 1988b; 1989, 288; Bintliff 1985; 1991a, 19-26; 1991b, 124-125.
[8] Jameson u.a. 1994, 396.
[9] Wright u.a. 1990, 617; Wright u.a. 1985.
[10] Mee u.a. 1991, 224-227.
[11] Lloyd 1991, 190-191.
[12] Keller 1985; Keller - Wallace 1986; 1987; vgl. Foxhall 1990, 97, 108; und Alcock 1993, 37-49.
[13] Alcock 2000, 110.
[14] Cosmopoulos 2001.
[15] De Polignac 1995.
[16] Alcock 1997, 290.
[17] Alcock 1989, 7 und n. 4.
[18] Alcock 1993, 74.

© Michael B. Cosmopoulos
e-mail: cosmopoulos@umsl.edu


This article should be cited like this: M.B. Cosmopoulos, Zentralisierung und Dezentralisierung - Die Evolution des Siedlungsmusters in Attika von klassischer bis hellenistischer Zeit, Forum Archaeologiae 56/IX/2010 (http://farch.net).



HOME