Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 40 / IX / 2006

ERNST SELLIN: EIN PIONIER DER BIBLISCHEN ARCHÄOLOGIE IN WIEN
100 Jahre "Nachlese auf dem Tell Ta'annek in Palästina"

Am Ende des 19. Jahrhunderts tat die Biblische Archäologie den Schritt von der Landes- und Altertumskunde hin zur modernen systematischen Ausgrabungswissenschaft. Zu den Pionieren der Grabungsarchäologie in Palästina, damals Teil des osmanischen Reiches, gehörte der aus Deutschland stammende Ernst Sellin, der seit 1897 als "Professor für Alttestamentliche Exegese und Biblische Archäologie" an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien lehrte.
In den Jahren 1902 bis 1904 führte Sellin erste Ausgrabungen auf Tell Ta'annek/Taanach durch, deren sensationelle Abschlussergebnisse er in zwei Teilen 1904 und 1906, letzteren also vor nunmehr 100 Jahren, an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien vorlegte. Aus diesem Anlass gedachten Fakultät und Universität dieser Pionierleistung mit dem "Wiener Ernst-Sellin-Gedächtniskolloquium 2006: 100 Jahre Nachlese auf dem Tell Ta'annek in Palästina".

Tell Ta'annek/Taanach liegt auf einem nördlichen Ausläufer des samarischen Berglandes am Südrand der fruchtbaren Jesreel-Ebene; diese erstreckt sich von der Bucht zwischen Akko und Haifa in südöstlicher Richtung bis nach Beth-Shean am Jordan und war in der Antike eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen zwischen Mittelmeer und Ostjordanland. Neben dem benachbarten Megiddo kontrollierte Taanach einen der zentralen Pässe dieser Querverbindung und findet sich daher schon in den ältesten historischen Quellen zur Geschichte des Raumes wieder.
Nach Sellins Grabungen Anfang des 20. Jahrhunderts folgten US-amerikanische Grabungen unter der Leitung von Paul W. Lapp in den 1960er Jahren, die vor allem dazu dienten, die Ergebnisse Sellins zu überprüfen und zu differenzieren; seitdem ruht die Feldforschung. Politisch liegt Taanach heute auf palästinensischem Autonomiegebiet. Der an der palästinensischen Universität von Bir Zeit tätige, aus den USA stammende Albert E. Glock beschäftigte sich lange mit Taanach, eine ausführlichere Publikation seiner Erkenntnisse kam jedoch infolge seiner mysteriöser Ermordung im Jahr 1992 nicht mehr zustande.


Sellins Funde auf Taanach, die in verschiedene Phasen der Bronze- und Eisenzeit datieren, waren - und sind - sensationell. Zum einem erregten die Tontafeln mit Keilschrift allergrößte Aufmerksamkeit. Es handelte sich um das erste - und bis heute einzige - Keilschriftarchiv, das in Palästina gefunden wurde! Die in babylonischer Sprache abgefassten Briefe datieren in das 15. Jahrhundert v. Chr. und handeln von verschiedenen regionalen und familiären Angelegenheiten. Zum anderen entdeckte Sellin einen eisenzeitlichen Kultständer (oder Räucheraltar) aus Ton mit figürlichen Appliken sowie die Reste eines weiteren, die - zusammen mit etwa zwei Duzend nackten Göttinnenfiguren - wichtige Erkenntnisse zur Religionsgeschichte des alten Israel geliefert haben.
Bereits in kanaanäischer Zeit war Taanach eine wichtige Stadt, eine Art regionales Zentrum wohl im Schatten Megiddos gewesen. Ihr Name ist in den Annalen des Pharao Tutmose III. in Karnak sowie in der Korrespondenz von Amarna, der Stadt des berühmten Pharao Echnaton, bezeugt. Im Alten Testament ist Taanach als eine jener kanaanäischen Städte erwähnt, welche die Israeliten bei ihrer "Landnahme" zunächst nicht einnehmen konnten (Ri 1,27). Die berühmte Deboraschlacht fand "in Taanach an den Wassern von Megiddo" statt (Ri 5,19). Unter König Salomo wurde Taanach in das israelitische Verwaltungssystem eingegliedert (1 Kön 4,12), zur Geschichte davor und danach schweigen die biblischen Texte fast gänzlich.


Sellins Ausgrabungen von Taanach waren als eine der ersten Ausgrabungen eines Tells in Palästina eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Biblischen Archäologie bzw. der Palästinaarchäologie. Sie waren die erste Ausgrabung eines deutschsprachigen Archäologen und die erste und bis dato einzige rein österreichische Grabung vor Ort. Sellins Arbeit war methodisch auf der Höhe der Zeit und wurde allen damals möglichen Standards gerecht. Die Schnelligkeit seiner Publikation ist beeindruckend und bis heute beispielgebend; Sellin sandte sogar Zwischenberichte in Briefform bereits aus dem "Barackenlager bei Ta'annek" nach Wien, die sofort in den Mitteilungen und Nachrichten des Deutschen Palästina-Vereins abgedruckt wurden, als er selbst noch in Palästina weilte - dem würden heute nur noch archäologische Weblogs im Internet entsprechen, was aber nach wie vor eher die Ausnahme ist. Der erste Teil des Endberichts erschien wenige Wochen nach Abschluss der letzten Kampagne 1904, der zweite und letzte Teil des Endberichts, die "Nachlese" bereits 1906. Zur Finanzierung seines Projekts trieb Sellin höchst erfolgreich Gelder sowohl vom Kultusministerium, als auch von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften sowie von Privatpersonen und auch von Firmen auf - als hätte er nach den Regeln des modernen Fundraising gearbeitet. Alles in allem: ein tadelloses Projektmanagement.
Sellin hatte später im Zuge seiner Ausgrabungen in Jericho, der "ältesten Stadt der Welt", und Schechem/Sichem, die er von verschiedenen Lehrstühlen in Deutschland aus führte (Rostock, Kiel und zuletzt Berlin), sehr schwer mit Intrigen und übler Nachrede zu kämpfen. Im Jahr 1945 ausgebombt und seiner archäologischen Sammlung verlustig, starb Sellin wenige Monate nach Kriegende. Nachdem Sellins (spätere) archäologische Arbeit längere Zeit im Schatten einseitiger Kritik gestanden hatten, wurde erst in den letzten Jahren deutlich, dass ihm auf Grund seiner Leistungen ein beachtlicher Platz in der Geschichte der archäologischen Erforschung des palästinischen Raumes sowie der Biblischen Archäologie gebührt.

Primärliteratur:
Sellin, Ernst: Tell Ta'annek. Bericht über eine mit Unterstützung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und des K.K. Ministeriums für Kultus und Unterricht unternommene Ausgrabung in Palästina, nebst einem Anhange von Dr. Friedrich Hrozný: Die Keilschrifttexte von Ta'annek. (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Bd. 50/4), Wien 1904.
Ders.: Eine Nachlese auf den Tell Ta'annek in Palästina, nebst einem Anhange von Friedrich Hrozný: Die neuen Keilschrifttexte von Ta'annek. (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Bd. 52/3), Wien 1906.

Weiterführende Literatur:
Kreuzer, Siegfried: Palästinaarchäologie aus Österreich - Ernst Sellins Ausgrabungen auf dem Tell Ta'annek in Israel (1902-1904). In: Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät in Wien 1821 - 1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Bd. 10), Wien 1997, S. 257-276.
Ders.: Die Ausgrabungen des Wiener Alttestamentlers Ernst Sellin in Tell Ta'annek (Taanach) von 1902 bis 1904 im Horizont der zeitgenössischen Forschung. In: Protokolle zur Bibel 13, 2004, S. 107-130.
Ders. (Hg.): Taanach/Tell Ta'annek - 100 Jahre Ausgrabungen und Forschungen zum Tell und zu den Texten. Mit einem Nachdruck des Grabungsberichtes von Ernst Sellin und der Textedition von Friedrich Hrozný (Wiener Alttestamentliche Studien, Bd. 5a), Wien 2006.
Sauer, Georg: Ernst Sellin in Wien. In: Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät in Wien 1821 - 1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Bd. 10), Wien 1997, S. 247-256.

© Friedrich Schipper
e-mail: friedrich.schipper@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Schipper, Ernst Sellin: ein Pionier der Biblischen Archäologie in Wien. 100 Jahre "Nachlese auf dem Tell Ta'annek in Palästina", Forum Archaeologiae 40/IX/2006 (http://farch.net).



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