Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 40 / IX / 2006

DIE ENTWICKLUNG DER agorà VON KYRENE ALS BEISPIEL FÜR DIE MONUMENTALISIERUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMS

Die Studien zum öffentlichen Raum diverser griechischer poleis erlauben seit längerer Zeit, die Entwicklung der agorà von der archaischen zur hellenistischen Zeit zu bestimmen [1]. Es wurde also möglich zu belegen, dass aus einem von Grenzsteinen oder in einigen Fällen auch von natürlichen Grenzen definierten primitiven Raum, an dessen Rändern sich sowohl religiöse Bauwerke für Helden-, Götter- oder Bestattungskulte als auch Gebäude für politische Aktivitäten befinden, ein Raum entsteht, der durch große stoà-Konstruktionen geformt wird, wodurch der öffentliche Bereich eine größere architektonische Einheit erhält [2].
Wie die archäologische Dokumentation belegt, liegen solche Entwicklungen - wie bei anderen bekannten agorai z.B. in Megara Iblea und Poseidonia - auch beim öffentlichen Raum in der Stadt Kyrene vor. Es wird somit deutlich, dass sich der der agorà gewidmete Raum zur Zeit der Gründung von Kyrene (631 v.Chr.) als eine große unbebaute Fläche präsentiert, abgeschlossen durch natürliche Grenzen auf der nördlichen und südlichen Seite sowie durch zwei Bauwerke: das temenos von Apollo Archegeta im Westen und der oikos von Opheles im Osten des Platzes weisen beide auf die mythische Geschichte der Stadt. Ersteres ist der Sitz der Schutzgottheit von Kyrene, die die öffentlichen Institutionen wahrt; Opheles ist ein gutartiger Dämon, der Reichtum bereitet und Gesundheit schenkt [3] (Abb.1).


Zu diesen frühen Bauwerken kommen im Verlauf des 6. Jahrhunderts v.Chr. weitere hinzu, die sowohl vom politischen Leben als auch von der Geschichte der Stadt zeugen. Hierzu zählen das heroon von Batto aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts im Norden des oikos von Opheles, das so genannte Sanktuarium von Demetra und Kore auf der westlichen Seite, das aus dem dritten Viertel des Jahrhunderts stammt, und das Pritaneo, das im letzten Viertel des Jahrhunderts errichtet wurde und sich östlich des temenos von Apollo befindet [4] (Abb. 2). Aus dieser Periode stammt ebenfalls die erste Strukturierung des agorà-Raumes sowohl mittels der Errichtung der stoà A1 als auch durch die im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts v.Chr. erweiterte Stützmauer, die beide an der Nordseite gebaut wurden [5] (Abb. 2).


Ebenfalls im 6. Jahrhundert v.Chr. scheinen sich zwei Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen zu entwickeln: die westliche Seite wandelt sich in den politischen Teil des Platzes, d.h. den Ort, an dem die öffentlichen Komplexe für die Stadtverwaltung errichtet werden, wie mitunter offensichtlich der Bau des Pritaneos selbst auf der Seite, auf der auch das temenos der Schutzgöttin der Gesetze (Apollo) steht, beweist; die östliche hingegen wird zur heiligen Seite, also dem Raum, wo die temenoi und die Sanktuarien von Helden und Göttern, die die Stadt beschützen (z.B. der oikos von Opheles und das heroon von Batto), erbaut werden.
Diese Zweiteilung wird in Folge des Sturzes des monarchischen Regimes in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. (440 v.Chr.), im Verlaufe derer sich in Kyrene ein demokratisches System etabliert, akzentuiert. Auf der westlichen Seite werden das gheronteion und nördlich davon das Gebäude der Parasceni, das wahrscheinlich der Sitz verschiedener öffentlicher Institutionen ist, errichtet. Dies geht aus der Analyse verschiedener Befunde hervor wie z.B. der Platzierung des Bauwerkes (im Norden des gheronteion), des Fundes von ostraka in dessen unmittelbarer Umgebung und der Periode, in der es errichtet wurde (nämlich in den Jahren, als in Kyrene eine Demokratie nach athenischem Modell eingerichtet wird) [6] (Abb. 3).


In dieser Periode entwickelt sich zudem durch den Bau der stoà B1 an der nördlichen Seite der agorà eine größere architektonische Homogenität. Gemeinsam mit der in L-Form errichteten Stützmauer, die die östliche Seite des Platzes schließt, formt die stoà eine Einheit mit dem östlichen Teil [7] (Abb. 3). Der westliche Bereich ist dabei noch nicht in diese architektonische Vereinheitlichung integriert; die vollständigste Einheitlichkeit wird erst im 4. Jahrhundert v. Chr. erreicht, als auf der westlichen Seite die Heterogenität der vorherigen Gebäude durch die Konstruktion der stoà O1, die von Norden nach Süden ausgerichtet ist und mit der stoà B3 einen rechten Winkel bildet, verschwindet, wodurch, wie bereits hervorgehoben, eine größere architektonische Einheitlichkeit des der agorà gewidmeten Raumes entsteht (Abb. 4).
Die Expansion des Platzes an der südlichen Seite (Terrazza Superiore) im ptolemäischen Zeitalter führt zu einer zusätzlichen Akzentuierung dieser Einheitlichkeit. Es ist festzustellen, dass ein großer Teil der von der Stadtverwaltung beanspruchten Gebäude - wie das nomophylakeion und das Pritaneo - axial zu den übrigen Komplexen der nördlichen Seite (Terrazza Inferiore) in diesen Bereich transferiert werden [8] (Abb. 4).


Auf diese Weise entsteht eine "neue" agorà, in der die Gebäude - im Kontrast zur archaischen und klassischen Zeit - ihre eigene Autonomie verlieren und sich in die umliegenden geschlossenen und vereinheitlichten Strukturen eingliedern: die monumentalen Bauwerke stehen innerhalb des streng begrenzten Raumes in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis (Abb. 4). Der Platz wird also von mehreren stoai sowie Gebäuden umfasst, die einen als einheitliche Konstruktion geschaffenen Raum begrenzen.
Im gleichen Sinne stärken die Eingriffe des 2. Jahrhunderts v.Chr. mit der Verwirklichung der so genannten Copertura Monumentale del Pozzo die architektonische Einheitlichkeit zwischen der nördlichen und westlichen Seite des öffentlichen Raumes [9] (Abb. 4).
Die detaillierte Analyse der archäologischen Dokumentation zur agorà von Kyrene erlaubt es daher, die Entwicklung des öffentlichen Raumes zu skizzieren. Eine solche Untersuchung führt zur Behauptung, dass die agorà von Kyrene Objekt einer langsamen und progressiven Strukturierung ist, die den Übergang eines offenen zu einem durch stoai und öffentliche Gebäude abgeschlossenen Raum markiert. Die im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts v.Chr. konzipierte Strukturierung wird im 2. Jahrhundert v.Chr. perfektioniert (Abb. 4).

Diese oben beschriebene Bauentwicklung kontrastiert mit der bisherigen, von der Literatur unkritisch angenommenen Hypothese, es hätte einen Übergang von einer kleinen zu einer großen agorà gegeben; im Gegensatz zur vorliegenden Untersuchung betrachtete man den öffentlichen Ort seit der Gründung der Kolonie nicht als einen einheitlichen Raum. Formuliert wurde diese Theorie von S. Stucchi, der den Übergang von einem öffentlichen Platz, der sich auf den Bereich rund um das temenos von Apollo begrenzt, zu einem Platz, der auch die östliche Seite umfasst, wo der heroon von Batto und der oikos von Opheles emporragen, dokumentiert [10].
Stucchis Hypothese basiert insbesondere auf zwei Daten: einerseits auf dem Fehlen des Kalksteinestrichs vor dem Grab des Gründers sowie vor dem oikos und andererseits auf der östlich der stoà A1 errichteten Stützmauer, die, da sie im Gegensatz zur Praxis des letzten Viertels des 6. Jahrhunderts v.Chr. nicht bis zum östlichsten Punkt reicht, diese Seite der agorà ausgrenzt [11].
Diese Theorie beruht jedoch auf zwei Fakten, die sich einer tieferen Untersuchung zufolge als schwach erweisen: zum Einen ist es nicht möglich, in der gesamten aulè, die von der Gründung der Kolonie bis zur byzantinischen Epoche genutzt wurde, den Kalksteinestrich des 6. Jahrhunderts v.Chr. anzutreffen, da der Bereich mehreren Umgestaltungen, die die ursprüngliche Schicht verändert haben, unterzogen wurde [12]. Die im dritten Viertel des 6. Jahrhunderts v.Chr. errichtete Stützmauer ist zudem das Ergebnis einer ersten Monumentalisierung des Platzes, die eine leichte Erhöhung der aulè bewirkt. Diese Erhöhung betrifft nicht die Seite östlich der Mauer, da dieser Bereich der agorà höher liegt als der Rest des Platzes: dort besteht also eine natürliche Stufe, die keine Stütze zur Befestigung der aulè verlangt. Eine Mauer wird erst dann errichtet, als im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts v.Chr. das Niveau der natürlichen Stufe infolge einer zusätzlichen Erhöhung des Platzes um etwa einen Meter überragt wird [13].
Eine weitere archäologische Tatsache, die die Widerlegung der Hypothese des Überganges von einer kleinen zu einer großen agorà stützt und die gesamte dem öffentlichen Raum gewidmete Fläche betrifft, findet sich im in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v.Chr. errichteten heroon des Gründers der Kolonie, der als Held vergöttert wird und Objekt eines öffentlichen Kultes ist, der in der agorà ausgeübt wird und der - im Einklang mit der Praxis anderer griechischer Kolonien - eine der realia darstellt, die den Platz abgrenzen [14]. Auf Grund dieser Tatsache kann daher ausgeschlossen werden, dass die westliche Seite bis zum letzten Viertel des 6. Jahrhunderts v.Chr. nicht Teil des öffentlichen Raumes war.

Die archäologischen Befunde zeigen also, dass der politische Raum von Kyrene Objekt einer progressiven Strukturierung ist, die den Übergang eines offenen Raumes, der von Süden nach Norden von natürlichen Grenzen (die Terrassenkonstruktion am nördlichen sowie die Straßenachse am südlichen Ende) und von Osten nach Westen von künstlichen Grenzen (dem temenos von Apollo und dem oikos von Opheles) vorgegeben wird, zu einem geschlossenen Raum mit stoai und anderen Gebäuden entlang der Außenseiten ermöglicht.

[1] Martin R., Recherces sur l'Agorà grecque, Paris 1951, 149-201. 225-273. - Torelli M., Storia dell'urbanistica. Il mondo Greco, Roma - Bari 1983, 95-99; Ampolo C., Il sistema della polis. Elementi costitutivi e origini della città greca, in S. Settis (Hrsg.), I Greci. Storia, Cultura, Arte, Società II, 1, Torino 1996, 297-343; Longo F., Poseidonia, in E. Greco (Hrsg.) La Città Greca Antica, Roma 1999, 365-385; Greco E., Definizione dello spazio urbano: architettura e spazio pubblico, in S. Settis (Hrsg.), I Greci. Storia, Cultura, Arte, Società II, 2, Torino 1997, 619-655; Gras M. - Trèziny H., Megara Iblea, in E. Greco (Hrsg.), La Città Greca antica, Roma 1999, 251-269.
[2] Martin op. cit.
[3] Stucchi S., L'Agorà di Cirene, I, 1. I Lati nord ed est della platea inferiore, Roma 1965.; Bacchielli L., L'Agorà di Cirene, II, 1. L'area settentrionale del lato ovest della Platea Inferiore, Roma 1981; Purcaro V., L'Agorà di Cirene, II, 3: L'area meridionale del lato ovest dell'agorà, Roma 2001.
[4] Stucchi op. cit.; Bacchielli op. cit.; Purcaro op. cit.
[5] Stucchi op. cit.
[6] Bacchielli op. cit.. Es ist zu betonen, dass die Veränderung des Regimes den Bau neuer Komplexe, die geeignet sind, neue Institutionen (Tribunale, Versammlungen, etc.) zu beherbergen, nötig macht.
[7] Stucchi op. cit.
[8] Bonacasa N. - Ensoli S., Cirene, Milano 2000.
[9] Stucchi op. cit.
[10] Stucchi op. cit.; Bacchielli op. cit.; Purcaro op. cit.
[11] Stucchi op. cit.
[12] Es gilt zu beachten, dass die Eingriffe der Römer in die agorà sehr zahlreich waren und dass der Platz in byzantinischen Zeit als Wohnviertel genutzt wurde. Diese Eingriffe haben sicherlich die Bewahrung des ursprünglichen Estrichs beeinflusst. Stucchi op. cit.; Bacchielli op. cit.; Purcaro op. cit.
[13] Stucchi op. cit.
[14] Longo op cit.; Gras - Trèziny op. cit.

© Alberto Giudice
e-mail: alberto.giudice@yahoo.de

This article should be cited like this: A. Giudice, Die Entwicklung der agorà von Kyrene als Beispiel für die Monumentalisierung des öffentlichen Raums, Forum Archaeologiae 40/IX/2006 (http://farch.net).



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