Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 32 / IX / 2004

EIN AUßERGEWÖHNLICHES KOPFFRAGMENT DES TYPUS ARES BORGHESE IM DEPOT DER ANTIKENSAMMLUNG DES WIENER KUNSTHISTORISCHEN MUSEUMS

Im Depot der Antikensammlung des Wiener Kunsthistorischen Museums befindet sich ein Kopffragment vom Typus des Ares Borghese (Abb. 1-2) [1], welcher eines der Hauptwerke des Phidiasschülers Alkamenes in seinen Grundzügen widerspiegelt [2]. Dieses ist jedoch von der Kopienkritik weitgehend unbeachtet geblieben [3]. Obwohl der Erhaltungszustand nicht mit dem der übrigen Kopfrepliken dieses Typus vergleichbar ist, sind an ihm einige interessante Details zu beobachten, die einen interessanten Einblick in die Arbeitsweise römischer Kopisten ermöglichen.


Das Fragment unbekannter Herkunft, welches aufgrund seiner Formensprache wohl in flavische Zeit datiert werden kann [4], besteht aus feinkristallinem Marmor, welcher von hellgrauer bis milchig-weißlicher Farbe ist. Bedauerlicherweise sind nur Teile des oberen Kopfbereiches erhalten, eine Bruchkante mit Spuren moderner Überarbeitung verläuft diagonal vom rechten Schläfenbereich ausgehend über die rechte Wange, weiters über die Mitte des Nasenrückens bis zu einem Punkt unterhalb der linken Wangenpartie. Von dort ausgehend erstreckt sich die Bruchlinie weiter bis zum linken Ohr und um dieses herum dem Volutenornament der Stirnschiene des Helmes folgend. Sie endet ungefähr 2cm oberhalb der Volute. Eine weitere Bruchfläche befindet sich im Bereich des Scheitelpunktes der Helmkalotte mit einem kleinen Loch in der Mitte. Leichte Bestossungen sind am Helmrand zu erkennen, welcher im Vergleich zu den anderen erhaltenen Kopfrepliken des Typus Ares Borghese leicht in die Stirn gezogen ist. Das Fragment weist eine scharf akzentuierte Augenbildung auf, wobei die Karunkel auffallend stark nach unten gezogen sind. Die Haargestaltung ist dem Zeitgeschmack angepaßt, der Kopist hat offenbar versucht, den einzelnen Haarsträhnen eine gewisse Ordnung und ein für das Auge des Betrachters gefälligeres Aussehen zu verleihen. Die Haare wirken nicht mehr feucht, wie besonders deutlich an den Repliken im Pariser Louvre (Abb. 3-4) und in der Münchner Glyptothek (Abb. 5-6) zu erkennen ist [5]. Außerdem sind die einzelnen Haarsträhnen an den Seiten leicht gekürzt, sie enden auf Höhe des Ohrläppchens [6].


Der Helm zeigt die für diesen Typus charakteristischen Zierelemente, die Halbpalmette im Volutenzwickel weicht insofern vom Grundschema ab, da sie aus sechs Blättern anstatt wie in München (Abb. 5-6) aus fünf Blättern geformt ist [7].


Das längste Blatt löst sich beinahe unmerklich von der Abgrenzung der Stirnschiene und weist eine relativ geringe Krümmung auf. Die beiden liegenden Halbpalmetten über der Stirnschiene sind miteinander durch ein Doppelvolutenornament verbunden, die Mittelpalmette fehlt jedoch gänzlich. Die beiden lakonischen Jagdhunde beiderseits der im Schienenfeld befindlichen Mittelpalmette sind gut erkennbar, allerdings wirken sie etwas verwaschen.
Vom rechten Adlergreifen sind noch Teile des linken Flügels erhalten, das Gefieder wird jedoch nur summarisch durch feine Linien angedeutet, wobei der Kopist nicht zwischen Arm- und Handschwingen unterscheidet [8]. Erhalten sind weiters Teile der Brustpartie, beide Vorderläufe, sowie eine hintere Pranke, mit der das Fabeltier auf dem oberen Volutenrand der Stirnschiene auftritt. Vom linken Tier sind ebenfalls Teile der Brust erhalten, sowie beide Vorderläufe, Teile des Kopfes mit einem halbgeöffneten Schnabel und herausgestreckter Zunge [9]. Unter jeweils einer Vorderpfote der Greifen sind nicht abgearbeitete Puntelli erhalten. Allgemein ist zu bemerken, daß die Ränder der Helmelemente keine scharfe Akzentuierung aufweisen, sondern einen leicht verschwommenen Eindruck machen, außerdem sind sie nicht exakt symmetrisch auf dem Helm positioniert [10]. Diese kleine Besonderheit ist freilich nicht ausschließlich an Repliken des Typus zu beobachten, sondern auch an einer ganzen Reihe von römischen Kopien nach anderen klassischen Vorbildern [11].
Allgemein ist bezüglich der Gruppe von Kopien nach dem Vorbild des Ares Borghese zu bemerken, daß die einzelnen Dekorationselemente nicht völlig symmetrisch auf dem Helm angebracht wurden, es scheint sogar bisweilen, als hätten die Kopisten für die Fülle von Einzelmotiven nicht genügend Platz gefunden [12].
Vermutlich hängen diese kleinen Abweichungen mit dem Material des Vorbildes zusammen, welches aller Wahrscheinlichkeit, ebenso wie zahlreiche weitere Skulpturen der phidiasischen Schule, aus Bronze gewesen sein dürfte [13]. Die Kunst der Toreutik eignet sich ungleich besser zur Darstellung überreicher Helmornamentik, eine Übertragung des Vorbildes in ein anderes Medium wie beispielsweise Marmor kann also nur ansatzweise die feine Zeichnung und Ziselierung des Originals wiedergeben [14]. Offenbar stellte die detailreiche Dekoration des Helmes die römischen Kopisten vor ein Problem, denn die variierende Anordnung der Einzelmotive läßt darauf schließen, daß diese freihändig gearbeitet waren, wie das bei Details von im sog. Punktierverfahren hergestellten Einzelmotiven sehr oft der Fall ist [15]. Außerdem führt die Übertragung der Figur in ein vom Vorbild abweichendes Material mit anderen spezifischen Eigenschaften zwangsläufig zu einigen Abweichungen [16].
Abschließend ist zu sagen, dass das Wiener Fragment trotz seines schlechten Erhaltungszustandes in vielen Punkten mit den in der Forschung als qualitativ hochwertig bewerteten Repliken übereinstimmt [17] und trotz seiner dem flavischen Zeitgeschmack angepassten Zügen unser Bild vom Archetypus des alkamenischen Ares ergänzt.

[1] Inv.Nr. 183; Erhaltene Maße: h=25,3 cm, b= 23,3cm.
An dieser Stelle möchte ich A. Bernhard-Walcher von der Antikensammlung des KHM Wien danken, der mir die Möglichkeit gegeben hat, das Fragment zu untersuchen und zu photographieren und der mir freundlicherweise die Erlaubnis zur Publikation erteilt hat.
[2] Paus. I, 8, 6; Allgemeines zum alkamenischen Aresbild: B. Freyer, JdI 77, 1962, 221ff.; H.-W. Schuchhardt, 126. BWPr (1977) 33ff.; B. Vierneisel-Schlörb, Kat. München II (1979) 178ff.; K.J. Hartswick, RA 1990, 227ff.
[3] Erwähnt wird dieses Fragment nur bei K. Dilthey, BJb 53-54, 1873, 38, Nr. 8, bei T. Dohrn in: Festschrift A. Rumpf (1950) 61, Anm. 25, E. Paibeni, Museo Nazionale Romano - Sculture Greche del V Secolo (1953) 45, Nr. 74 und bei K.J. Hartswick, RA 1990, 277 Nr. 13.
[4] An dieser Stelle möchte ich mich bei M. Aurenhammer vom ÖAI bedanken, die mir bezüglich der Datierung des Fragments behilflich gewesen ist.
[5] Paris, Musée du Louvre, Inv.Nr. 866: J. Charbonneaux, La Sculpture Grecque au Musée du Louvre (1963) 163 Taf. 14; B. Freyer, JdI 77,1962, 211ff.; W.-H. Schuchhardt, 126. BWPr (1977) 33f.; K. Stemmer, Standorte, Kontext und Funktion antiker Skulptur (1995) 235 B74. Ich möchte an dieser Stelle H. Szemethy danken, da er mir freundlicherweise erlaubt hat, Photos von dem in der Gipsabgusssammlung des Instituts für klassische Archäologie der Universität Wien befindlichen Abgusses nach der namensgebenden Replik im Louvre zu machen.
München, Glyptothek, Inv.Nr. 212: A. Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek (1900) Nr.212; Freyer a.O. 214; B. Vierneisel-Schlörb, Kat. München II (1979) 178ff. [6] Die Haargestaltung ist ein für das 5. Jh. außergewöhnlicher Zug. Es wurde von B. Freyer als Hinweis auf die thrakische Heimat des Gottes gedeutet (Freyer a.O. 216), es scheint aber vom Künstler vielmehr eine Darstellung des vom Kampf schweißnassen Haares intendiert gewesen zu sein.
[7] Gerade bezüglich der Anzahl der Palmettenblätter ergeben sich an den einzelnen Repliken nach dem Typus Ares Borghese erhebliche Diskrepanzen, was vermutlich damit zu erklären ist, dass die Zierelemente nicht direkt kopiert wurden, sondern mit der freien Hand ausgeführt wurden. An dem Areskopf der St. Petersburger Ermitage (Inv.Nr. W 108; O. Waldhauer, Die antiken Skulpturen der Ermitage II [1930] 17, Nr. 108 Taf. 19) sind beispielsweise diese Halbpalmetten nur aus vier Blättern geformt; siehe Abb. 7. An dieser Stelle möchte ich G. Schwarz vom Institut für Klassische Archäologie der Universität Graz danken, denn sie hat zugestimmt, dass Photos des in der Abgusssammlung des Institutes vorhandenen Gipsabgusses nach dem St. Petersburger Areskopf in diesem Artikel verwendet werden dürfen. Besonderen Dank auch an meine Kollegin A. Schidlofski, welche den Kopf für mich photographiert hat.
[8] Auch das Greifengefieder der Pariser Replik (Hartswick a.O. 250 Abb. 6a) ist nur ganz oberflächlich gearbeitet, obwohl die übrigen Dekorationselemente relativ scharf akzentuiert wirken. Im Gegensatz dazu grenzt der Kopist des Münchner Kopfes (Vierneisel-Schlörb a.O. 187 Abb. 82) sehr genau die Arm- von den Handschwingen ab.
[9] Dieses Detail findet sich meines Wissens an keiner anderen Replik.
[10] Beispielsweise ist die Vorderpranke des rechten Greifen 1,4cm vom Ende der liegenden Palmette entfernt, die des linken hingegen nur 0,5cm.
[11] Als ein besonders markantes Beispiel sei an dieser Stelle die sog. Athena Stroganoff in Basel (Antikenmuseum, Inv.Nr. 232) genannt. Die Helmkalotte zeigt je einen Adlergreifen an jeder Seite. In der Rückansicht wird jedoch deutlich, daß sich beide Tiere nicht auf gleicher Höhe befinden, die unterschiedliche Positionierung der Schwanzenden zeigt eine deutliche Verschiebung der beiden Figuren gegeneinander. Siehe dazu: E. Berger, Antike Kunstwerke der Sammlung Ludwig III (1990) 177ff. Abb. 232. - Vgl. ebenfalls die Schlangen auf der Ägis der Athena-Velletri-Repliken der Münchner Glyptothek, des Museo Nuovo in Rom und des Pariser Louvre. (Chr. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse von Baiae [1985] Taf. 15).
[12] Am Helm der Dresdner Büste (Antikensammlung, Inv.Nr. 91; Freyer a.O. 216 Abb. 4) verdecken die Vorderpranken der auf dem Scheitelpunkt der Kalotte thronenden Sphinx teilweise die Greifenköpfe; Hartswick a.O. 279 Nr. 18 Abb. 7). Am Münchner Areskopf berührt der linke Greif mit der Bauchpartie die im Volutenzwickel befindliche Halbpalmette, der rechte hingegen nicht. (Vierneisel-Schlörb a.O. 187 Abb. 81-82). Der linke Greif der namensgebenden Replik im Louvre berührt mit dem linken Hinterlauf die Volute der Stirnschiene, sein Gegenstück steht mit seinem Hinterbein etwas tiefer, nämlich auf der Halbpalmette im Volutenzwickel. (Hartswick a.O. Abb. 6a-b).
[13] Bereits D. Mustili, Il Museo Mussolini (1928) 128, Nr.6 und W.-H. Schuchhardt, 126. BWPr (1977) 34, vermuteten, daß der Ares des Alkamenes aus Bronze gearbeitet war, zustimmend äußerte sich Vierneisel-Schlörb a.O. 180. Im Gegensatz dazu vermutete A. Delivorrias (in: Kernos [1972] 33 und Attische Giebelkonstruktionen und Akrotere des 5. Jhdt. v. Chr. [1975] 95ff.) ausgehend von einem originalen Torsofragment einer Athena mit Schrägägis (Athen, Agora Museum, Inv.Nr. S654) ähnlicher Zeitstellung, in welcher er das Pendant zu der Figur des Ares vermutete, Marmor als Material des Urbildes.
[14] Phidias wurde wegen seinem meisterlichen Umgang mit Bronze von den antiken Schriftstellern unter den anderen Bildhauern seiner Zeit hervorgehoben und seiner Sorgfalt in der Ausführung von Details wurde große Bewunderung entgegengebracht. Plin., nat. hist. XXXIV, 54; Dion Chrys., Or. XII, p.210; Demetrios, de eloc. 14. Es ist anzunehmen, daß Alkamenes, einer seiner bedeutendsten Schüler, die hohe Kunst der Toreutik von Phidias gelernt und wie sein Mentor größten Wert auf die Ausarbeitung von Details gelegt hat. Der überreiche Helmschmuck ist zweifelsohne typisch für ein Werk der phidiasischen Schule. M. Gawlikowski, Archeologia 47, 1966, 30, war sogar der Ansicht, die erhaltenen Aresrepliken würden lediglich eine vereinfachte Version des Helmes wiedergeben.
[15] G.M.A. Richter, RM 69, 1962, 53ff.; P. Rockwell, The Art of Stoneworking (1993) 118ff.
[16] G. Lippold, Kopien und Umbildungen griechischer Statuen (1923) 123; J. Boardman, Griechische Plastik - die klassische Zeit (1987) 24.
[17] Wobei zu bemerken ist, dass die feinere Ausführung einer Replik nicht zwangsläufig das Vorbild getreuer wiedergeben muß; Richter a.O. 53.

© Tamara Friedl
e-mail: alkamenes@hotmail.com

This article should be cited like this: T. Friedl, Ein außergewöhnliches Kopffragment des Typus Ares Borghese im Depot der Antikenabteilung des Wiener Kunsthistorischen Museums, Forum Archaeologiae 32/IX/2004 (http://farch.net).



HOME