Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 11 / VI / 1999

ZU IKONOGRAPHIE UND CHARAKTER DES FRÜHÄGÄISCHEN STUCKRELIEFS

Hauptsächlich infolge seines naturgemäß katastrophalen Erhaltungszustandes bildet das Stuckrelief eine bis heute in der Forschung stark vernachlässigte Gattung der minoisch-mykenischen Bildkunst. Seine Verbreitung konzentriert sich auf den jüngeren Palast von Knossos, doch begegnen uns Bildszenen in dieser 'palatialen' Kunstgattung vereinzelt auch in 'Villen' und Stadthäusern des minoischen Kreta sowie an Fundstätten der übrigen Ägäis. Die zahlreichen disiecta membra rechtfertigen vielfach eine thematische Zuordnung, in erster Linie an Darstellungen von Stiersprung und Stierjagd sowie Szenen des Kultes, etwa der 'sacra conversazione', oftmals in architektonischer Bildrahmung.

So sehr betont werden muß, daß das Wandbild in der Fläche und das Stuckrelief ein und demselben Kunstzweig der frühägäischen Innenraumausstattung angehörten, so sind doch deutliche Abweichungen in der prinzipiell gemeinsamen Ikonographie beider Gattungen erkennbar, die uns einen engeren Konnex zwischen den Szenen im Stuckrelief und den kompakten Bildmotiven der Siegelsteine, goldenen Siegelringe, Elfenbeine, Steinreliefgefäße sowie anderer Materialgenera der Kleinkunst erkennen lassen. Unbestritten ist etwa die Ableitung der Stierszenerien auf den Goldreliefbechern aus Vapheio (Abb. 1) von Relieffresken im Palast von Knossos. Wir haben es beim ägäischen Stuckrelief mit jener Bildgattung zu tun, in der zweifellos der Stier, aber auch der Mensch verstärkt im Zentrum des ikonographischen Geschehens stehen - eine Eigenschaft, die das vielseitige Flachbild mit seinem umfangreichen, detailfreudigen und improvisierteren Repertoire von Flora und Fauna oft vermissen läßt.


Abb. 1: Stierszenerien auf den Goldreliefbechern aus Vapheio
(nach A. Evans, The Palace of Minos at Knossos III [London 1930] 179 Abb. 123)

Die überdeutliche Dominanz des Stieres in den monumentalen Stuckreliefbildern des Palastes von Knossos könnte weiters in direktem Zusammenhang mit den thematisch vergleichbaren Bildtopoi der verschiedenen Verwaltungsstempel minoischer Archive stehen. Wie in Bildern der Siegelglyptik sowie anderer Gattungen der Kleinkunst 'palatialen' Charakters dürften auch die Stuckreliefs verstärkt abgekürzte Bildformeln wiedergegeben haben, deren exklusive Ikonographie ihnen eine Signalwirkung als Embleme der Palastmacht von Knossos zuwies. Sieht man von vereinzelten Beispielen großformatiger Steinreliefbilder in Mykene (Löwentor, Fassade des sog. 'Schatzhauses des Atreus') ab, so bildete das Stuckrelief in den Hochkulturen der ägäischen Bronzezeit wohl das einzige Medium einer 'hieratischen' Monumentalkunst, vergleichbar jener des Alten Ägypten und des Vorderen Orients. Ihre Ikonographie sowie ihre Bildinhalte verdeutlichen uns andererseits den eigenständigen und unverwechselbaren Charakter minoischer wie auch mykenischer Palastkultur.

Literaturempfehlung:
B. Kaiser, Untersuchungen zum minoischen Relief (Bonn 1976).
B. P. & E. Hallager, The Knossian Bull - Political Propaganda in Neo-palatial Crete?, in: R. Laffineur - W. D. Niemeier (Hrsg.), Politeia. Society and State in the Aegean Bronze Age. Proceedings of the 5th International Aegean Conference, University of Heidelberg, Archäologisches Institut, 10-13 April 1994, Aegaeum 12, Bd. II (Eupen 1995) 547-556.

© Fritz Blakolmer
e-mail: Fritz.Blakolmer@univie.ac.at



HOME