Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 99 / VI / 2021

WORKSHOP „CHANGE AND CONSISTENCY: MALE VIRTUES AND ANCIENT RITUALS / WANDEL UND KONSTANZ MÄNNLICHER TUGENDEN AM BEISPIEL ANTIKER RITUALE” [1]

Der internationale Workshop „Change and Consistency: Male Virtues and Ancient Rituals / Wandel und Konstanz männlicher Tugenden am Beispiel antiker Rituale” fand am 10. März 2021, pandemiebedingt online statt. Es handelte sich um eine interdisziplinäre Veranstaltung, die im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs „Resonante Weltbeziehungen in sozio-religiösen Praktiken in Antike und Gegenwart” (Universität Erfurt – Graz) und des Doktoratsprogramms „Antike Kulturen des Mittelmeerraums (AKMe)” (Universität Graz – Innsbruck – Salzburg) organisiert wurde.
Der Workshop basierte auf der Überlegung, dass Rituale sehr stabile Strukturen sind, welche selbst angesichts dramatischer sozialer Veränderungen eine bemerkenswerte Langlebigkeit aufweisen. Ziel war es, anhand von Fallbeispielen und Schlaglichtern von der homerischen Zeit über die griechische Klassik und die römische Republik bis in die Spätantike zu untersuchen, wie sich diese dem Ritual innewohnende Dynamik von Beständigkeit und Wandel auf die Auffassung von Männlichkeit und Tugenden auswirkt. Dabei können Rituale in einem performativen Rahmen gesellschaftliche Ideale, Werte und Normen kontinuierlich verhandeln, formen und kommunizieren.
Die Archäologin Elli Papazoi (Graz) sowie die Althistoriker Winfried Kumpitsch, Armin Unfricht (Graz) und Daniel Albrecht (Erfurt) luden Doktorand*innen und altertumswissenschaftliche Interessierte zu einer Teilnahme an der Veranstaltung ein. Den vier Kurzvorträgen folgte ein interaktiver Teil, in dem die Teilnehmer*innen in Kleingruppen die Möglichkeit hatten, sich anhand historischer und archäologischer Quellen mit dem Thema vertiefend auseinanderzusetzen und Aspekte wie Männlichkeit und Tod, Macht sowie Soldaten- und Märtyrerideale zu diskutieren.

The Good, the Better and the Virtuous. The Negotiation and Transmission of Male Virtues through Greek Rituals
Armin Unfricht (Alte Geschichte / Graz)

Der einführende Beitrag behandelte einerseits grundlegende terminologische und konzeptuelle Fragen, wie etwa moderne Auffassungen und Definitionen des Tugendbegriffes und deren Anwendbarkeit speziell auf die griechische Antike. Der zentrale altgriechische Terminus, welcher moderne Auffassungen, was man unter Tugend versteht, widerspiegelt und gewöhnlich auch als „Tugend“ bzw. im englischen Sprachraum als „virtue“ übersetzt wird, ist jener der arete. Folglich wurde die historische Entwicklung der Bedeutungsinhalte des arete-Begriffes in gegebener Kürze skizziert. Speziell stand hierbei die ab dem späten 5.Jh. v.Chr. in verschiedenen philosophischen Strömungen und Schulen zu findende Auffassung der Tugend als einer technê, also einer auf qualifiziertem Wissen und praktischen Fähigkeiten basierenden Kompetenz, welche erlernbar und lehrbar ist – weshalb der arete wiederum auch innerhalb der griechischen paideia eine ganz zentrale Rolle zukam – im Zentrum der Betrachtung.
Der zweite Teil des Vortrages bestand aus einem Fallbeispiel, nämlich dem attischen Fest der Oschophoria, anhand dessen Aspekte der Vermittlung und Verhandlung männlicher Tugenden, speziell die über spezielle (Ver)Kleidung, Bewaffnung, Tänze, athletische Agone, Gestik und Mimik wie auch Nacktheit ausgedrückte „Semantik des Körpers“, angesprochen wurden.
In der Gruppenarbeit wurden die im Beitrag angesprochenen Ausdrucksformen und Idealbilder körperlich-männlicher Tugend vertieft und mit Beispielen der Darstellung physischer Abnormalität kontrastiert. Vorgestellt wurden Abbildungen kleinwüchsiger männlicher Personen auf Vasen, welche im Kontext griechischer Symposien Verwendung fanden (Abb. 1). Es wurde diskutiert, inwiefern die groteske Darstellung von Menschen, deren Erscheinungsbild verschiedenartig von der Norm abweicht, Rückschlüsse auf geltende Vorstellungen körperlicher Tugend erlaubt.


Arete und thanatos – Ritualpraktiken im Grabkontext im antiken Griechenland
Elli Papazoi (Klassische Archäologie / Graz)

Die Betrachtung des archäologischen Fundmaterials und der literarischen Quellen erlauben eine Übersicht zu dem Wandel der Ritual- und Bestattungspraktiken in der antiken griechischen Welt. Die männlichen Tugenden, konzentriert in dem griechischen Ausdruck Arete, wurden anhand ausgewählter Beispiele von Grabritualen ab der homerischen bis zur klassischen Zeit in Attika vorgestellt. Der Begriff Arete ist zum ersten Mal in der Ilias überliefert und wird mit dem Heldenideal verbunden, das die geistigen und die charakterlichen Qualitäten der Aristoi (Besten) unterstreicht. Ihre Aufopferung wird von Erfolg gekrönt, sie kann aber auch zum Tod führen. Die üblichen Rituale nach dem Tod wurden von Homer beschrieben: Aufbahrung des Leichnams (Prothesis) im Oikos, seine Begleitung in einer Prozession (Ekphora) auf einem Wagen hinaus zum Begräbnisplatz, die Totenklage (Threnos) und schließlich das Begräbnis selbst.
Ähnliche Bestattungspraktiken für bedeutende Gesellschaftsmitglieder (z.B. Krieger), werden auf Grabvasen der spätgeometrischen Zeit aus der Dipylon-Nekropole (Abb. 2a) abgebildet, die oberirdisch als Semata (Grabmarkierungen) dienten. In der Archaik fungierten die Kouroi, Statuen junger nackter Männer, als Semata, die das Grab kennzeichneten. Ein besonderes Paradigma stellt dabei der Kouros des Kroisos aus Anavyssos (Abb. 2b) dar, der bis heute sein Grabepigramm (IG I³ 1240) erhalten hat. Das Grabepigramm, eine besondere Schöpfung des griechischen Totenverständnisses, forderte zum Verweilen auf und ruft zur Klage über das Schicksal von Kroisos auf, der sein Leben durch Aufopferung für die Polis verlor, um das Vergessen für die nachfolgenden Generationen zu verhindern. Die kriegerische Tapferkeit ist in dem kraftvoll dargestellten Körper des Kouros erkennbar.
Das Konzept der Kalokagathia (Schönheit und Tüchtigkeit) als die höchste Arete eines Menschen verknüpfte äußere körperliche Schönheit mit positiven inneren moralischen Werten, welches sich besonders in der Klassik entwickelt hat. Im klassischen Athen gewinnen die öffentlichen Begräbnisse mit kultischer Verehrung für die Kriegstoten eine besondere Rolle. Charakteristische Beispiele bilden der Grabhügel von Marathon für die athenischen Gefallenen der siegreichen Schlacht gegen die Perser 490 v.Chr. oder das sog. demosion sema im Kerameikos, in dessen unmittelbarer Nähe Perikles seine Gefallenenrede auf die ersten Toten des Peloponnesischen Kriegs hielt. Annähernd gleichzeitig erscheinen die ersten Reliefs als Grabmarkierungen, wie etwa das mit dem jungen Reiter Dexileos. Seine Darstellung eifert der Arete des mythologisch-homerischen Heldenideals nach.
In der Gruppenarbeit wurden Texte von Homer und Abbildungen mit Grabritualen vertiefend analysiert. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arete und das männliche Ideal verbindet, liefert Hinweise auf das sozio-gemeinschaftliche Gefüge. Hierbei wird beispielsweise die enge Beziehung zwischen Kollektiv und den Kriegsgefallenen für die Polis deutlicher thematisiert. Die Grabmonumente und die Bestattungsrituale dienten in diesem Zusammenhang als wichtige Elemente der Erinnerungskultur. Nicht zuletzt sollte für die Bürger dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Arete und die damit verbundenen Tugenden – im Leben wie im Tod – von größter gemeinschaftlicher Bedeutung sind. Sie sind so wichtig, dass dem tugendhaften Arete-Prinzip selbst durch die eigene Aufopferung (kalos thanatos) gehuldigt wird.


Ritual und hegemoniale Männlichkeit bei Titus Livius
Daniel Albrecht (Alte Geschichte / Erfurt)

In dem Beitrag ging es um analytische Möglichkeiten, die in der römischen Geschichte des T. Livius handelnden männlichen Akteure auf ihnen eingeschriebene Vorstellungen von Männlichkeit zu untersuchen. Albrecht schlägt hierfür das Konzept der hegemonialen Männlichkeit vor, da dieses der Vielfältigkeit an Männerbildern gerecht wird und zugleich das Binnenverhältnis des männlichen Geschlechts in den Blick nimmt: Die verschieden ausgeprägten Männerbilder stehen in Konkurrenz zueinander und machen im Wettbewerb um Ämter und die Akkumulierung symbolischen wie sozialen Kapitals Hierarchien untereinander aus. Hegemonial ist ein Männerbild, wenn es in diesem hochkompetitiven Feld die Verfügungsgewalt über gesellschaftliche, politische, ökonomische, kulturelle Ressourcen verspricht und eine dominierende Position einnimmt, an der sich wiederum andere Männerbilder orientieren müssen.
In der Gruppenarbeit wurden als Beispiele für die Verknüpfung von Ritual und hegemonialer Männlichkeit der Auszug des Konsuls P. Licinius Crassus aus der Stadt (Liv. 42,49,2–6) und kontrastierend dazu die Verweigerung der Performance auf dem Capitol durch C. Flaminius (Liv. 21,63,6–9; 22,1,5–7) besprochen. Es zeigte sich, dass die Gelübde auf dem Capitol als Ritual eine Doppelfunktion besitzen: Zum einen wird in dem öffentlichen Schauspiel der Zusammenhalt der imagined community befördert und ihre Hierarchien manifestiert. Zum anderen wird das imperium, die Befehlsgewalt des Konsuls, durch das auspicium eingehegt. Dass Flaminius dieses Ritual verweigert, wird ihm als fehlendes Bekenntnis zur res publica ausgelegt. Das Beispiel des Licinius Crassus hingegen verweist in seiner ausführlichen Beschreibung und in den Fragen der Menschen, die den Auszug begleiten, darauf, dass solche Rituale als performative Akte trotz festgelegter Handlungsabfolgen immer auch eine Eigendynamik entwickeln, immer einem Wunsch nach besonderem Gelingen unterliegen und der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt sind – und damit ebenso prekär und wandelbar sind wie hegemoniale Männerbilder.

Die Vermittlung spätantiker Kriegerideale durch den Märtyrerkult
Winfried Kumpitsch (Alte Geschichte / Graz)

Im abschließenden Beitrag wurde thematisiert, welche Einblicke der Kult der Soldatenmärtyrer in die Vermittlung spätantiker christlicher Kriegerideale gewährt. Denn ab dem 4.Jh. n.Chr. entstand die Frage, in welchem Verhältnis die traditionellen Ideale zur Führung eines guten christlichen Lebens standen und was dieses überhaupt ausmachte. In Bezug auf die Soldaten und deren Ideal der disciplina militaris beutete dies, ob es ihnen möglich sei moralisch gut zu leben. Der christliche Heiligenkult ist ein gutes Beispiel für eine sprachbasierte Form des Rituals, denn im Zuge der Feierlichkeiten am Gedenktag des jeweiligen Heiligen wurden und werden die Passio bzw. Acta, oder Teile daraus vorgetragen, und es ist dieses Vorgetragene, das dem Kultakt seine spezifische Bedeutung gibt.
Fasst man nun die Darstellungen in den Passiones bzw. Actae zusammen, so findet man drei grundlegende Haltungen: I. Die Erbringung militärischer Taten erscheint als eine vom eigenen Glauben unabhängige Leistung, problematisch sind die Opferforderungen. II. Es kommt zu einer gänzlichen Ablehnung oder zumindest Problematisierung, des Kriegsdienstes an sich. III. Indem die militärischen Leistungen gerühmt werden und betont wird, dass die Leistungen des Dienstes aus dem starken Glauben an Gott resultieren, wird ein positives Bild geschaffen.
In der Gruppenarbeit wurden Abschnitte aus der Passio sancti Mercurii (BHG 1274, 4–5) und der Passio sanctorum Martyrum Sergii et Bacchi (BHL 7599, 1–2; 17) auf ihre Darstellung der Heiligen als Krieger und Christen untersucht. Bei Mercurius wurde die Ansicht vertreten, dass hier die prinzipielle Möglichkeit thematisiert wurde, dass ein Mann, der auf seine physischen Fähigkeiten vertraut, zum Christentum findet. Bei Sergius und Bacchus wurde die Interpretation als subtiler Vergleich zwischen christlichen und weltlichen Kriegertum bzw. als Verbindung von weltlichem Kriegertum mit dem milites christi Gedanken vorgeschlagen.

Schlussbemerkung
Summa summarum lässt sich festhalten, dass es durch das interdisziplinäre und internationale Format sowie die Teilnehmer*innenschaft zu einem regen Austausch der verschiedenen Zugänge zu spezifischen Aspekten der Thematik kam. Sowohl bei der Bearbeitung der konkreten Quellen, als auch in der Diskussion im Plenum, ergab sich ein angeregtes und informatives Gespräch, auch zwischen den Teilnehmer*innen untereinander. Wie von den Veranstalter*innen erhofft, erwies sich die Gruppenarbeit als eine geeignete Methode, um die Interaktivität und Partizipation innerhalb des Workshops zu erhöhen und einen offeneren Quellenzugang zu ermöglichen, wodurch neue Perspektiven eröffnet wurden.
Bedauerlicherweise waren durch das pandemiebedingte Onlineformat die Möglichkeiten zum individuellen Austausch, Kennenlernen und Vertiefen diskutierter Themenbereiche dennoch etwas eingeschränkt. Sowohl aus der internen Nachbesprechung des Organisationsteams, als auch aus dem Feedback einzelner Teilnehmer*innen, ließ sich aber ein erfreulich positives Gesamtergebnis des Workshops ziehen.

[1] An dieser Stelle möchten sich die Autor*innen bei Anna-Katharina Rieger (Graz) für ihre Unterstützung bei der Organisation des Workshops und Elisabeth Trinkl (Graz) für die Publikationsmöglichkeit ganz herzlich bedanken.

© Elli Papazoi, Winfried Kumpitsch, Armin Unfricht, Daniel Albrecht
e-mail: elli.papazoi@uni-graz.at, winfried.kumpitsch@uni-graz.at, armin.unfricht@uni-graz.at, daniel.albrecht@uni-erfurt.de

This article should be cited like this: E. Papazoi – W. Kumpitsch – A. Unfricht – D. Albrecht, Workshop „Change and Consistency: Male Virtues and Ancient Rituals / Wandel und Konstanz männlicher Tugenden am Beispiel antiker Rituale”, Forum Archaeologiae 99/VI/2021 (http://farch.net).



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