Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 63 / VI / 2012

ZUR DARSTELLUNG VON MENSCH UND TIER IN DER ÄGÄISCHEN FRÜHZEIT

Die Dokumentation des palatialen Personal- und Viehbestandes stellte eine zentrale Aufgabe der Verwaltungsbeamten in den spätbronzezeitlichen Palaststaaten der Insel Kreta und des griechischen Festlandes dar. In ihren Aufzeichnungen machten die mykenischen Schreiber von entsprechenden logographischen Zeichen Gebrauch, mit denen die Registratur von Personen oder Tieren unmissverständlich bewerkstelligt werden konnte. Wie ein Vergleich zwischen Logogrammen und Darstellungen der ägäischen Bildkunst zeigt, hat man bei der Gestaltung dieser Zeichen bisweilen auf die Bildsprache der Späten Bronzezeit zurückgegriffen.
Im Gegensatz zur stets eindeutigen Gestaltungsweise der Logogramme ist in der Ikonographie ein differenzierterer Sachverhalt zu beobachten. So lassen sich auf der einen Seite einzelne Tiergattungen sowohl aufgrund ihres Gesamterscheinungsbildes als auch anhand anatomischer Details klar voneinander unterscheiden. Eine eminente Rolle spielt in vielen Fällen die konventionelle Gestaltung des Gehörns, das als charakteristisches, einfach wiederzugebendes Unterscheidungskriterium in Erscheinung tritt. Auf der anderen Seite weisen die Gestaltung der Hornform wie auch das Gesamterscheinungsbild der Tiere eine starke Variabilität auf, wodurch sich die Zuordnung zu einer bestimmten Gattung häufig nicht vornehmen lässt. Unter der Voraussetzung, dass die Schwierigkeiten einer exakten Bestimmung bereits für den Betrachter in ägäischer Zeit bestanden haben, könnte diese Unschärfe in der Darstellung als ein bewusst gesetzter Akt eines fehlenden konkreten Gestaltungswillens verstanden werden.
Ein vergleichbares Phänomen einer nicht eindeutigen Zuordenbarkeit lässt sich auch bei der Darstellung von Personen beobachten. Zumeist wird mithilfe des Inkarnats, sekundärer Geschlechtsmerkmale oder der Gewandtracht eine eindeutige Geschlechtercharakterisierung gegeben. Demgegenüber bereitet es bei nicht wenigen Bilddokumenten beträchtliche Schwierigkeiten, die betreffende Person eindeutig als Frau oder Mann zu identifizieren. Exemplarisch sei auf einen Bildtypus in der Glyptik verwiesen, der eine Figur in langem, mit Borten verziertem Gewand zeigt (Abb. 1a-b). Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Figuren dieses Motivs, in denen man häufig ‚Priester‘ vermutet, als Männer aufzufassen sind. Allerdings gibt zumindest ein Beleg dieses Bildmotivs offensichtlich eine Frau wieder, wie das figurbetonte Tragen des Gewandes und die bei eindeutigen Frauendarstellungen belegte Gestik der Hände nahelegen (Abb. 1c). Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann wäre das Geschlecht bei jeder einzelnen Darstellung dieses Motivs neu zu beurteilen.

Die Frage, welches Geschlecht die Figuren dieses Bildtypus aufweisen, ist aber möglicherweise eine, die sich dem Gemmenschneider so gar nicht gestellt hat. Da die ägäische Bildkunst im Allgemeinen dem konkreten Individuum wenig Interesse entgegenbringt, könnte sich das Desinteresse in der Angabe prägnanter Differenzierungsmerkmale mitunter auch in einer fehlenden, weil im betreffenden Zusammenhang nicht relevanten, geschlechtlichen Differenzierung niedergeschlagen haben. Im Falle unseres Bildmotivs würde dies bedeuten, dass das zentrale Anliegen in der Angabe einer bestimmten (priesterlichen?) Funktion liegt, während die geschlechtliche Klassifikation ohne Belang bleibt.
Ein vergleichbarer Sachverhalt ist möglicherweise bei den logographischen Zeichen der Linear A-Schrift festzustellen. Während bei den Linear B-Logogrammen für Frau und Mann eine graphisch klar ersichtliche Unterscheidung auszumachen ist, existiert in der Linear A-Schrift offensichtlich nur ein entsprechendes Zeichen. In diesem hat man dementsprechend das generelle Logogramm für Mensch erkannt. Falls es den Schreibern der Linear A-Schrift tatsächlich unmöglich war, graphisch mittels eines Logogramms zwischen Frau und Mann zu unterscheiden, dann könnte auch dies auf eine allgemeinere Konzeption des menschlichen Körpers hinweisen, bei der das Geschlecht keine vorrangige Rolle spielt.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@oeaw.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, Zur Darstellung von Mensch und Tier in der ägäischen Frühzeit, Forum Archaeologiae 63/VI/2012 (http://farch.net).



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