Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 63 / VI / 2012

ARCHAISCHE KULTPLÄTZE REGIONALER UND ÜBERREGIONALER REICHWEITE IM BINNENLAND SIZILIENS AUS RELIGIONSSOZIOLOGISCHER SICHT (8.-6.JH. V.CHR.)

In der Sizilien-Forschung werden sogenannte „capanne sacelli“, „hut shrines“ oder Kulthütten mit rundem Grundriss als Objektivationen der Religion der Indigenen angesehen, die als freistehende siedlungsgemeinschaftliche Kultbauten und damit als Heiligtümer interpretiert werden [1].
Versucht man diese Hütten im Kontext zur sozialen Organisation im Spiegel der Siedlungs- und Bestattungsweisen zu betrachten und vergleicht diese mit aktuellen Forschungen in der Ethnologie und Religionssoziologie ergibt sich eine neue komplementäre Sicht der Dinge: Dann erscheinen die Kulthütten nicht als freistehende Bauten in heiligen Bezirken, sondern als innerfamiliäre Kultzentren in großfamilialen Gehöften (compounds). Diese bestehen seit der Bronzezeit aus einem Verbund von Bauten mit ovalen, runden oder rechteckigem Grundriss, die meist um einen Hof gruppiert und teils durch eine Einfriedungsmauer von den anderen compounds abgetrennt sind.
Besonders die archäologischen Untersuchungen der Siedlungen auf der nördlichen iberischen Halbinsel der Eisenzeit von Alfredo Gonzáles-Ruiblal liefern die archäologische Matrix, nach der auch die sizilischen binnenländischen Höhensiedlungen als solche compounds interpretiert und neu gedeutet werden können [2]. Dabei können einzelne repräsentativ ausgestattete Bauten innerhalb der gehöftartigen Hüttenverbände als Residenz des Familienoberhauptes interpretiert werden. In dieser wurden auch die Kulte und Riten zu Ehren der Ahnen im Kreis der Großfamilie und deren Gäste durchgeführt. Votivdepots und Überreste ritueller Mähler machen diese Multifunktionalität zusammen mit materiellen Spuren von Haushalts- und Handwerksaktivitäten archäologisch sichtbar.

Neben diesen Kulthütten finden sich in einigen binnenländischen Siedlungen im Zuge einer beginnenden Urbanisierung ab der Mitte des 6.Jh. v.Chr. sog. Sacelli, kleine Oikos-Tempel mit rechteckigem Grundriss und Ziegeldach, die aus einem bis drei Räumen bestehen können [3]. Nur einzelne monumental ausgestaltete Kultbauten besitzen auch einen vorgelagerten Altar und/ oder eine temenosartige Abgrenzung. Diese baulichen Merkmale deuten auf eine Adaption der architektonischen Konzeption griechischer Heiligtümer, weshalb diese speziellen Kultbauten als materielle Zeugen eines intensiven Kontaktes mit den griechischen Bevölkerungsgruppen gelten können. Dies hatte gastfreundschaftliche Beziehungen oder gar Heiratspolitik zwischen den führenden „Eliten“ des Binnenlandes mit den führenden Familien der griechischen Küstenstätte zur Voraussetzung, wodurch es jedoch nicht automatisch zur Übernahme griechischer Religionskonzepte und Glaubensvorstellungen kam.

[1] Vgl. I. Morris – T. Jackman – B. Garnand, Standford University excavations on the acropolis of Monte Polizzo, Sicily. 4. Preliminary report on the 2003 season, Memoirs of the American Academy in Rome 49, 2004, 197–279; T. Hodos, Local responses to colonization in the Iron Age Mediterranean (London 2006).
[2] A. González-Ruibal, House societies vs. kinship-based societies: An archaeological case from Iron Age Europe, Journal of Anthropological Archaeology 25, 2006, 144–173; E. Kistler, Wohnen in Compounds: Haus-Gesellschaften und soziale Gruppenbildung im Frühen West- und Mittelsizilien (12.-6. Jh. v. Chr.), in: M. Gleba – H. W. Horsnaes (Hrsg.), Communicating Identity in Italic Iron Age communities (Oxford 2011) 130–154.
[3] Zusammenstellung bei I. Romeo, Sacelli arcaici senza peristasi nella Sicilia greca, Xenia 17, 1989, 5–54.

© Birgit Öhlinger
e-mail: Birgit.Oehlinger@uibk.ac.at

This article should be cited like this: B. Öhlinger, Archaische Kultplätze lokaler bis überregionaler Reichweite im Binnenland Siziliens aus religionssoziologischer Sicht (8.-6. Jh. v.Chr.), Forum Archaeologiae 63/VI/2012 (http://farch.net).



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