Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 63 / VI / 2012

GOTTHEITEN AUF TIEREN
Zur Transformation orientalischer Ikonographie im minoischen Kreta

Die dominante, überhöhende Position von Gottheiten auf dem Rücken eines vierbeinigen Tieres oder Mischwesens stehend oder sitzend bildet eine im Vorderen Orient und in nahezu der gesamten Alten Welt weit verbreitete, langlebige und facettenreiche Darstellungskonvention. In der bronzezeitlichen Ägäis mit ihrer problembehafteten Ikonographie von Göttern und Göttinnen blieb der Motivtypus der Gottheit auf einem Tier hingegen stets ein Fremdkörper, wurde nur äußerst selten aufgegriffen und setzte sich im minoisch-mykenischen Bildrepertoire offensichtlich niemals durch. Umso bemerkenswerter präsentieren sich die meist isolierten, ikonographisch eigentümlich gestalteten Beispiele, die mehr oder weniger klar ihre Vorbilder im Nahen Osten erkennen lassen. Insbesondere Siegelbilder aus der kretischen Neupalastzeit (1750–1500 v.u.Z.) lassen Imitationen, Adaptionen, individuelle Versionen und mögliche Mißverständnisse bei der Wiedergabe dieses fallweise entlehnten, jedoch grundsätzlich fremd gebliebenen Motivtopos entdecken, deren nähere Betrachtung uns einiges über die Mechanismen der ikonographischen Transformation lehrt.

So zeigen etwa Abdrücke auf neopalatialen Tonplomben aus Kato Zakros eine ungewöhnlich kleinformatige Frauenfigur auf dem hinteren Rücken eines Stieres mit gesenktem Kopf (Abb. a). In altpalastzeitlichen Siegelbildern wurden vergleichbare Stiermotive meist als grasende Rinder verstanden, doch zog L.V. Watrous unlängst überzeugend den Vergleich mit dem Motiv des städtezerstörenden Bullen mit aggressiv gesenktem Kopf auf der ägyptischen Narmer-Palette. Somit werden wir hierin in orientalisierender Bildvorstellung eine Göttin als Beherrscherin von und unterstützt durch den wilden, städtezerstörenden Bullen, den sie als Podesttier benutzt, verstehen dürfen. Dieses formal geradezu naiv kompilierte Bildmotiv verbindet mehrere Orientalismen miteinander, erweist sich letztendlich weder als minoisch noch als orientalisch und bleibt ein Einzelfall, der keinerlei Fortsetzung oder weitere Verbreitung in der minoischen Bildkunst fand.
Als zweites Beispiel präsentieren Siegelabdrücke aus Knossos eine Gottheit vor einem sitzenden Affen mit Papyrus (Abb. b), ein kretisches Siegelbild, dessen orientalisierender Charakter trotz stark divergierender Einordnungen in der Forschung außer Streit steht. Für unsere Fragestellung nach der Gottheit auf einem Tier ist der noch in Resten erhaltene gelagerte Felide im unteren Bereich des Siegelrundes von Interesse, welcher eine Ergänzung der Gottheit im Zentrum als auf seinem Rücken stehend oder sitzend nahelegt. Bemerkenswert an diesem singulären minoischen Siegel ist nicht nur die Komplexität seiner orientalisierenden Motivik sondern auch die Imitation des Darstellungsstils der tektonischen Schraffur, die auf Rollsiegeln des syro-palästinischen Raumes zahlreiche Parallelen besitzt.
Diese und eine Reihe weiterer Beispiele von Gottheiten auf Podesttieren in der Bildkunst des minoischen Kreta lassen Anregungen durch außerägäische Göttermotive aus dem ostmediterranen Raum als eine von mehreren Strategien zur erstmaligen ikonographischen Definition von Gottheiten erkennen. Imitation durch Improvisation anhand importierter Bildvorlagen stellt dabei die Regel dar, und nur selten entstand daraus ein konsistentes, verselbständigtes Figurenmotiv von längerem Bestand. Die nahöstliche Motivik wurde hierbei keineswegs in die minoischen Bildvorstellungen integriert, sondern der distanzierte Fremdcharakter wurde meist beibehalten. Im Falle der Gottheiten auf Tieren blieb es beim individuellen Rezipieren des Exotischen, des Fremden, des nur bedingt Verstandenen.

Literatur zum Thema:
L. V. Watrous, Egypt and Crete in the Early Middle Bronze Age: a case of trade and cultural diffusion, in: E. H. Cline – D. Harris-Cline (Hrsg.), The Aegean and the Orient in the Second Millennium, Aegaeum 18 (Liège – Austin 1998) 19–28.
V. Dubcová, Götter ohne Grenzen? Transfer der religiösen Ikonographie in der Bronzezeit – Alter Orient und die frühe Ägäis, Anodos 10 (Trnava 2010) 103–116.
N. Marinatos, Minoan Kingship and the Solar Goddess. A Near Eastern Koine (Urbana 2010).
F. Blakolmer, Gottheiten auf Tieren. Zur Transformation orientalischer Bildmotive in der minoisch-mykenischen Ikonographie, Ägypten & Levante 22, 2012 (in Druckvorbereitung).

© Fritz Blakolmer
e-mail: Fritz.Blakolmer@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Blakolmer, Gottheiten auf Tieren. Zur Transformation orientalischer Ikonographie im minoischen Kreta, Forum Archaeologiae 63/VI/2012 (http://farch.net).



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