Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 39 / VI / 2006

ISOLIERT STEHENDE TÜRME AUF KRETA IN KLASSISCHER UND HELLENISTISCHER ZEIT

Neben anderen, größeren Befestigungsanlagen wie Stadtmauern, ummauerten Akropolen und Kastellen sind isolierte, freistehende klassische und hellenistische Türme, deren Höhe, Grundriss und Mauerwerk auf fortifikatorischen Charakter schließen lassen, auf dem griechischen Festland, den griechischen Inseln, in Kleinasien und auf der Krim weit verbreitet. Trotz militärtechnischer Merkmale stellt die Mehrzahl der antiken Türme in diesen Gegenden monumentale Hauptgebäude landwirtschaftlicher Gehöfte dar, während eine wesentlich geringere Anzahl als Wehr- und Signaltürme angesprochen wird.
Vergleichbare Bauwerke auf Kreta haben bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden und sind auch meistens unzureichend publiziert. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand scheint der von höheren Gebirgen durchzogene Westen Kretas die meisten Türme aufzuweisen, nämlich neun (Abb.). Ein weiterer Turm befindet sich auf der Insel Gavdos vor der Südküste Westkretas und vier sind aus der Osthälfte Kretas bekannt. Die Grundflächen dieser Bauten weisen sowohl runde als auch rechteckige Form in unterschiedlicher Größe auf. Da keines dieser Bauwerke über mehr als einige Steinlagen hoch ansteht, kann ihre ursprüngliche Höhe und Gestalt nur aus Vergleichen mit beinahe zur Gänze erhaltenen Beispielen erschlossen werden.


Obwohl für die Datierung der kretischen Turmbauten nur wenige Anhaltspunkte zur Verfügung stehen, lassen Grundriss und Mauerwerk diesbezügliche Rückschlüsse zu. So stellen vor allem das Vorkommen runder Türme auf Kreta ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. ebenso wie das vor dieser Zeit auf der Insel nicht belegte polygonale und pseudoisodome Mauerwerk einen Terminus post quem dar und liefern daher einen chronologischer Ansatz, der durch die spärlich aufgefundene Keramik bestätigt wird.
Zur Feststellung der Funktion der jeweiligen Türme bildet ihr Standort das Hauptkriterium. Bei der Mehrzahl der in Frage kommenden Bauten im ägäischen Raum handelt es sich um zivile Anlagen, und zwar im Bereich landwirtschaftlich nutzbarer Flächen um so genannte Turmgehöfte, d.h. Gehöfte mit einem Zentralbau in Form eines Turms, in Bergbaugebieten vielleicht auch um private Wachttürme. Auf ihren Zweck verweisen die häufig mit ihnen vergesellschafteten Nebengebäude und landwirtschaftlichen Einrichtungen wie Pressen und Mahlsteine oder diverse Werkstätten. Eine strategisch günstige Position war für solche Bauwerke von untergeordneter Bedeutung. Die bekannten kretischen Türme dagegen liegen im Allgemeinen an Orten, die die Überwachung einer Straßen- oder Wegroute bzw. eines Küstenabschnitts ermöglichen. Ihre strategisch günstige Lage mit ausreichender Fernsicht lässt daher primär auf militärische Nutzung schließen. Anders als bei Turmgehöften wurde auf eine gegen die Hauptrichtungen schlechten Wetters von Norden und Westen schützende Hanglage kein Wert gelegt. Außerdem fehlen Türme auf Kreta gerade dort fast völlig, wo man sie am ehesten erwarten würde, nämlich in der für landwirtschaftliche Zwecke hervorragend geeigneten, ausgedehnten Mesara und anderen größeren Ebenen. Ergiebige Bergbaugebiete wie in Attika, wo Türme der sicheren Lagerung wertvoller Rohstoffe gedient haben mögen, sind auf Kreta gleichfalls nicht zu finden.
Aus architektonischer Sicht ist das Fehlen von Nebengebäuden sowie einer festen Innentreppe als bequemer Zugang zu den Obergeschoßen ein mögliches Indiz für andere als zivile Funktionen, ebenso wie das Fehlen landwirtschaftlicher Geräte oder Werkstatteinrichtungen.
Vergleichbar der Situation auf Kreta kommen in anderen griechischen Landschaften, in Chios, Thessalien und der südlichen Peloponnes ebenfalls keine Türme mit privater Nutzung vor, Wachttürme an Grenzen oder Straßen dagegen sehr wohl. Der Grund dafür könnte in der sozialen und ökonomischen Struktur der jeweiligen Gesellschaften zu finden sein. Jedoch war die Sicherung von Grenzen und Straßenverbindungen in der gesamten antiken Welt von Bedeutung, was zweifellos für das von zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Poleis geprägte klassische und hellenistische Kreta ganz besonders gelten kann.

© Elisabeth Mlinar
e-mail: elisabeth@mlinar.at

This article should be cited like this: E. Mlinar, Isoliert stehende Türme auf Kreta in klassischer und hellenistischer Zeit, Forum Archaeologiae 39/VI/2006 (http://farch.net).



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