Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 39 / VI / 2006

DER GREIF - SCHUTZMACHT UND GARANT PALATIALER HERRSCHAFT IN DER MINOISCHEN UND MYKENISCHEN WELT

In der offiziellen, zentralistisch gesteuerten und propagierten "Hochreligion" der Spätbronzezeit Griechenlands kam der Vorstellung vom Greifen bekanntlich eine besondere Bedeutung zu. Auch wenn uns aus diesem Kulturkreis religiöse Texte, wie wir sie aus den Schriftkulturen des Alten Orients und Ägyptens besitzen, fehlen, so dass wir nur auf die Auswertung bildlichen Quellenmaterials angewiesen sind, so lassen sich trotz der Problematik einer solchen Quellenlage auf dieser Basis einige grundlegende Erkenntnisse zur religiösen Vorstellungswelt und ihrer machtpolitischen Instrumentalisierung durch die damalige politische Elite gewinnen.
Denn der Greif tritt innerhalb der minoischen Welt bekanntlich einerseits als Begleittier auf. So erscheint er sowohl an der Seite eines Mannes aus der minoischen Elite, der sich durch seine Haartracht wie durch seine Kleidung in Form eines Wickelrockes von allen anderen Mitgliedern der Oberschicht unterschied und in dem eventuell ein Priester, ein politischer Machthaber oder sogar eine Gottheit gesehen werden darf. Andererseits flankiert er heraldisch angeordnet sowohl den Prunksessel in minoischen wie mykenischen Palästen, auf dem zweifelsohne ein Vertreter oder eine Vertreterin der herrschenden Klasse Platz nahm, als auch - vor allem auf Siegeldarstellungen - eine Göttin. Eine solche thronende weibliche Gottheit, der - wohl sichtlich im Rahmen eines Frühlingsfestes - Krokusblüten überreicht werden, begleitet besagtes Fabelwesen auf einem der theräischen Fresken.
Darüber hinaus tritt der Greif außer in seiner begleitenden bzw. beschützenden Funktion auf zahlreichen Siegelbildern aus den minoischen Palästen auf, die im Rahmen der königlichen Verwaltung die Besitzansprüche der kretischen Machthaber kennzeichneten.
Doch erst die Präsenz des Greifen auf rein minoischen Freskenzyklen in einer der Palastanlagen der politischen Zentren außerhalb der Ägäis hat es ermöglicht, die mit diesem Fabelwesen verbundenen Glaubensvorstellungen überprüfbar zu machen und damit noch konkreter als bisher zu erfassen. Denn sowohl in Ägypten wie in der Levante, wo Minoer durch enge wirtschaftliche wie diplomatische Kontakte offensichtlich festen Fuß gefasst hatten, wie z.B. in der nordsyrischen Residenzstadt Alalah, im Königspalast von Tell Kabri an der Küste und im Palastkomplex der frühen 18. Dynastie im ägyptischen Auaris, finden sich in minoischer Freskentechnik angefertigten Wandgemälde. Im pharaonischen Palast F von Auaris, wo eine große Anzahl an minoischen Bilderzyklen, darunter ein Stierspringerzyklus, Prozessionen, Jagdszenen, Darstellung einer oder mehrerer weiblicher Gottheiten, erweist sich der dort dargestellte liegende Greif ebenfalls als hochrangige göttliche Schutzmacht und Repräsentant der bestehenden politischen Machtstruktur einer palatialen Elite.
In dieses Bild vom Greifen, der die minoische Herrschaft legitimiert, passt auch die bezeugte Überlegenheit dieses Fabelwesens gegenüber anderen kraftvollen Tieren. So attackiert der Greif nicht nur Hirsche und Antilopen, sondern auch den mächtigen Wildstier und den Löwen. Folglich war er eindeutig als höherrangig und mächtiger als all die anderen von ihm bezwungenen Tiere gedacht.
Die Analyse führte somit zu der Erkenntnis, dass in der Gestalt des minoischen-mykenischen Greifen eine der physisch und magisch mächtigsten Wesen gesehen wurde, das einerseits einer der wichtigsten weiblichen Gottheiten im dortigen Pantheon zugeteilt und andererseits als Schutzmacht und Repräsentant der bestehenden - wohl gleichsam Gott gewollten - politischen Machtstruktur stets präsent und wirksam handelnd gedacht war. Folglich waren die Vertreter der minoischen bzw. mykenischen Elite, die an diversen ausländischen Residenzen Fuß gefasst hatten, bestrebt, auch dort ihren religiös legitimierten Status unter anderem auch in der bildlichen Wiedergabe ihrer göttlichen Schutzmacht zu dokumentieren.

© Peter W. Haider
e-mail: Peter.Haider@uibk.ac.at

This article should be cited like this: P. W. Haider, Der Greif - Schutzmacht und Garant palatialer Herrschaft in der minoischen und mykenischen Welt, Forum Archaeologiae 39/VI/2006 (http://farch.net).



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