Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 39 / VI / 2006

GAB ES EINE MITTELHELLADISCHE BILDKUNST?

Die Mittelbronzezeit auf dem griechischen Festland zeichnet sich zweifellos nicht durch spezielle Höhenflüge auf dem Sektor der figürlichen Bildkunst aus, begegnen uns in der festländischen Keramikmalerei der ersten Jahrhunderte des 2. Jahrtausends v.u.Z. bislang doch nur einige wenige figurale Motive. Wir können diese bescheidenen Zeugnisse mittelhelladischer Figuralkunst jedoch dadurch erweitern, daß wir aus Bilddenkmälern der nachfolgenden Schachtgräberzeit autochthone Stilzüge extrapolieren, und zwar aus jenen helladischen Reliefwerken in Gold, Silber, Elfenbein und Stein, die kretisch-minoische Ikonographie lediglich mehr schlecht als recht imitieren. Aus diesen individuell adaptierten schachtgräberzeitlichen Beispielen aus Mykene wie auch aus Peristeria und Thorikos lassen sich in Summe nicht weniger als 28 nicht-minoische künstlerische Gestaltungsspezifika erarbeiten.

So erlauben zum Beispiel die Goldplaketten der Wandverkleidung einer Holzschatulle aus Schachtgrab V in Mykene (Abb.), autochthon-helladische Züge nachzuvollziehen. Besitzen die Tierüberfallmotive dieser Reliefplaketten auch klare Entsprechungen im zeitgleichen kretischen Motivspektrum, so ist die vorliegende Gestaltung charakterisiert durch verblüffende Ungeschicktheit bei der Konzeption der Bildflächen, durch das von einem 'horror vacui' geleitete Harmonieverständnis in der Komposition, einen flächenorientierten Reliefstil mit einer Aufteilung der Motive in Einzelsegmente, durch Mängel in der Maßstäblichkeit und Inkonsistenzen in der Figurenproportionierung sowie eine additive Kombination unterschiedlicher Bildthemen, wie dies durch den eingefügten Stierschädel auf einer Plakette zum Ausdruck kommt. Die Felder mit Spiralmuster lassen nicht nur "un-minoische" Regelwidrigkeiten im Rapportaufbau erkennen, sondern die Kombination von Ornament- und Bildfeld erinnert uns auch an manche Grabstelen über den Schachtgräbern von Mykene.

Diese und eine Reihe weiterer Gestaltungsvorlieben der helladischen Künstler in Stil, Motivik, Komposition und Inhalt sowie so manche Entsprechungen in der einfachen Formensprache der altpalatialen Siegelbilder Kretas begegnen verhältnismäßig homogen, treten materialübergreifend auf und waren regional keineswegs auf Mykene beschränkt. Sie lassen allem Anschein nach eine weitgehend gefestigte, zeitlich weiter zurückreichende, mittelhelladische Tradition einfacher figuraler Bildkunst erkennen, welche die Basis für die festländischen Künstler bei ihrem improvisierten 'Minoisieren' ab der Schachtgräberzeit bildete. Die Anfänge einer eigenständigen 'mykenischen Bildkunst' sollten wir darin nicht erkennen, doch beherrscht der mühsame Lernprozeß noch sehr lange das Kunstschaffen auf dem mykenischen Festland.

© Fritz Blakolmer
e-mail: Fritz.Blakolmer@univie.ac.at

This article should be cited like this: F. Blakolmer, Gab es eine mittelhelladische Bildkunst?, Forum Archaeologiae 39/VI/2006 (http://farch.net).



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