Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 39 / VI / 2006

PRÄHISTORISCHE DEFENSIVARCHITEKTUR AUF KRETA

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse meiner Dissertation "Fortifikationen auf dem prähistorischen Kreta und ihre ägäischen Parallelen", die ich im September 2005 an der Karlsuniversität in Prag beschloss.
Sie minoische Zivilisation wurde lange Zeit für eine friedliebende gehalten und auch so bezeichnet. Insbesondere für die Epoche der neuen Paläste wurde - aufgrund der bei Thukydides erhaltenen klassischen griechischen Tradition - die Konzeption der sog. minoischen Thalassokratie und der "Pax Minoica" geschaffen. Dieser - bis in die späten 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erhaltenen - Tradition zufolge hatten die kretischen Städte und Paläste keine Mauern, weil die eventuellen Angriffe von Aussen die starke minoische Flottille in sicherer Entfernung von der kretischen Küste zurückgewiesen hätten. Auf der Insel selbst sollte Frieden herrschen, weil die minoischen Kreter für ein friedliches Volk mit Vorliebe für Kunst und Blumen gehalten wurden. Bis in die 80er Jahre wurden alle Funde der Defensivarchitektur für Ausnahmen, isolierte Beispiele oder Belege von gefährlichen Zwischenzeiten gehalten. Erst aufgrund der Oberflächengrabungen werden hauptsächlich ab den achtziger Jahren (in einigen Fällen erneut) einige befestigte Siedlungen und Bauten entdeckt. Deshalb wird in der letzten Zeit die Konzeption des "minoischen Friedens" umgewertet oder umgedeutet.
Unter dem Begriff "Defensivarchitektur" wird sämtliche architektonische Lösung verstanden, die schützt oder zumindest zu einer grösseren Verteidigungsfähigkeit und "militärischen Fähigkeit" jeglicher Siedlungs- oder Hausart beiträgt. Der Autor unterscheidet aufgrund seines Studiums der publizierten Aufsätze und/oder auf der Grundlage seiner Besuche einiger Hunderter kretischer prähistorischen Lokalitäten insgesamt fünf Typen der diskutierten Architekturart: 1) Umfassungs- oder Schanzmauern (Abb.); 2) Turmbauten - Türme oder Bastionen als Mauer-, event. Gebäudebestandteile; 3) Sog. guard houses - verschiedene Wachbauten (grössere Bauten des Festungscharakters, weiter kleine Beobachtungsposten und Wachposten in Form von einfachen Türmen) in der Landschaft, die v.a. im Zusammenhang mit dem Strassensystem entdeckt wurden; 4) Sog. guardrooms - Räumlichkeiten in den Eingangskorridor der minoischen Paläste oder Villen, die als eine Art Wachzimmer oder Torwartstube bezeichnet wurden; 5) Sog. Adaptierung der Eingangssysteme - der Eingang in den Palast oder die Villa wird durch architektonische Mittel (Mauern, event. sog. "guardrooms" oder einen Turm) abgeschlossen.


Die Defensivarchitektur kommt auf Kreta vom späten Neolithikum kontinuierlich während der ganzen Bronzezeit - in allen ihren Perioden und chronologischen Horizonten - und selbstverständlich auch später in der Eisenzeit vor. Paradoxerweise wird die Mehrzahl der Defensivarchitektur in die Phase der neuen Paläste datiert (!).
Die Typen, Anzahl und Verteilung der einzelnen Beispiele der Defensivarchitektur erlauben es, drei Grundarten der Verteidigungslinie zu rekonstruieren. Die erste - "demonstrative" - Linie bildet das "guard houses"-System, das mit seiner Verteilung in der Landschaft Wachfunktion hatte. Die zweite Linie bilden die Umfassungsmauern der Siedlungen. Diese - "präventive" - Verteidigungsart besteht in der Aufhaltung der Gefahr am Rande der Lokalität und ihre Haltung und Abwehr ausserhalb des bedrohten Territoriums. Die letzte architektonische - "unmittelbare" - Verteidigungslinie liegt im Eingangsbereich in die wichtigen Zentralgebäude - es handelt sich insbesondere um Adaptierungen der Eingangssysteme und die sog. guardrooms und/oder um Torbauten als Bestandteile dieser Gebäude. Alle hier beschriebenen Verteidigungslinien konnten also gleichzeitig nur in der Zeit der alten und neuen Paläste beim Schutz der grösseren Siedlungen und dortigen wichtigen Administrationsgebäude benutzt werden.
Die wirkliche Militär- oder (Kampf-)bedeutung vieler Beispiele der Defensivarchitektur war jedoch klein oder zumindest beschränkt; oft eher nur psychologisch. Die oben genannten Verteidigungslinien und ihre verschiedenen Kombinationen wurden am besten gegen einen nicht besonders zahlreichen "inneren" Feind benutzt, wobei es sich um eine andere Staatbildung auf der Insel oder aber wahrscheinlicher um die unterworfenen Bevölkerungsschichten handelte.
Dieser Beitrag zeigt klar, dass während der prähistorischen Zeit auf Kreta die Verteidigung auch architektonisch mittels der Defensivarchitektur zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Tatsache widerspricht zwar den ursprünglichen und traditionellen Vorstellungen über Kretas Vorgeschichte, man sollte sie jedoch bei der Interpretation des Gesamtcharakters der minoischen Zivilisation in Betracht nehmen. Die Zeugenaussage der Fortifikationen hilft nicht nur, die kretische Geschichte zu rekonstruieren und sie zu erhellen; die Existenz der Fortifikationen geben auch Aussage über die kretische Gesellschaft und ihren Wandel.

© Tomáš Alušík
e-mail: ala@c-mail.cz

This article should be cited like this: T. Alušík, Prähistorische Defensivarchitektur auf Kreta, Forum Archaeologiae 39/VI/2006 (http://farch.net).



HOME