Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 10 / III / 1999

ATTISCHE GRÜNDUNGEN IN KLEINASIEN
AM BEISPIEL VON EPHESOS

Abstract
Whenever the Greeks departed to found a new colony, this colonization proceeded in a very special way. The emigration was neither spontaneous nor unorganized, but led by an oikistes respectively a ktistes, a person from a distinguished and noble family of the hometown (metropolis). The founder, supported by the Oracle of Delphi, which already determined the direction of the expedition, was at the same time leader, organizer and commander-in-chief. His leadership included all the political, military and cultic power.
The foundation was finally completed with the death of the founder. After his death he was worshiped and adored like a hero. As a remarkable privilege he was the only person, who was allowed to be burried within the city-walls. His cult was not a private but a public one of the polis. It was the colony's first cult, independent of the mothertown, and consequently a symbol of autonomy, identity and independence.
Each colony had its own foundation myth. We find the first of these in the 5th century BC. Especially the reduction of the Greek poleis' political freedom under the Hellenistic kings and the Roman emperors confirmed the remembrance of the glorious history and the beginnings of the town.
Particularly in the 2nd century AC the cities of Asia Minor had a great interest in their origin as a reason of the so-called Panhellenion of Hadrian, into which only those were included, whose forefathers were Greek. All these criteria can easily be proved by the example of Ephesos.

Wann immer Griechen aufbrachen, um neue Städte zu gründen, sei es aus Bedarf an neuem Ackerland, oder Handelsinteressen, Abenteuerlust und Fernweh, lief diese Kolonisation in der Regel nach einem festen Schema ab. So waren die Auswanderungszüge weder spontan noch unorganisiert, sondern von einem oikistes bzw. ktistes, einer aus vornehmen Haus der Mutterstadt (metropolis) stammenden Persönlichkeit, geleitet. Der oikistes oder ktistes galt dabei als das Glied zwischen der Mutterstadt, den Kolonisten, der neu zu gründenden Stadt und der Gottheit, unter deren Schutz er stand.
Vor dem Auszug der Kolonisten reiste der Gründer zum Orakel des Apoll und ließ sich dort sein Unternehmen und seine Person als Führer bestätigen. Durch diese Bestätigung des Orakels wurde er mit einer religiösen Autorität ausgestattet, mittels derer er alle anderen Kolonisten an Macht übertraf. Das Orakel bestimmte aber auch die Richtung des Auswanderungszuges im voraus, was daraus schließen läßt, daß man offensichtlich Ahnung von aufgelassenen oder zerstörten mykenischen Siedlungsplätzen hatte.
Der Oikist fungierte zugleich als Führer, Organisator und Heerführer. Durch seine machtvolle und unabhängige Stellung hatte er die Führung auf politischem, militärischem und kultischem Gebiet inne. Der eigentliche Gründungsakt vollendete sich schließlich im Tod des Oikisten. Nach seinem Tod wurde ihm heroische Verehrung zuteil, und zwar an seinem Grab, das - aufgrund seiner privilegierten Stellung - innerhalb der Stadtmauern gelegen war. Dieser Heroenkult, der kein privater, sondern ein öffentlicher der Polis war, galt als erster von der Mutterstadt unabhängiger Kult und somit als Zeichen für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der Mutterstadt. Sowohl der Oikist als auch sein Kult symbolisierten somit die Identität der neuen Stadt.
Jede neue Kolonie hatte auch ihre eigene Gründungslegende. Die Bildung von Gründungslegenden setzte schon im 5. Jh. v.Chr. ein. Besonders durch die Einschränkung der politischen Freiheit der griechischen Poleis unter hellenistischen Königen und unter römischen Kaisern trat die Erinnerung an die ruhmvolle Vergangenheit und an die Anfänge der eigenen Heimatstadt immer stärker in den Vordergrund; die kleinasiatischen Städte bekundeten aber vor allem im 2. Jh. n.Chr. großes Interesse für ihre Herkunft. Auslöser für die erneute Renaissance der Gründungsmythen dürfte dabei das Panhellenion von Kaiser Hadrian gewesen sein, in das nur aufgenommen wurde, wer imstande war, griechische Ahnen vorzuweisen. Man versuchte deshalb auch die Gründung der eigenen Stadt hochzudatieren, um einen Anspruch auf Stadtexistenz schon zur Heroenzeit erheben zu können, und verwendete gleichsam mythologische Inhalte als Argument für den Rang einer Stadt oder eines Kultes.

Abb. 1: Hadrianstempel, Reliefplatte A. Androklos bei der Eberjagd (ca. 300 n.Chr.) (Museum Selçuk, Photo: ÖAI)

Legt man nun die oben genannten Kriterien einer Stadtgründung auf die Stadt Ephesos um, deren Gründung durch Androklos - es gab allerdings auch andere Gründungssagen (z.B. durch Amazonen) - in einer erstaunlichen Fülle überliefert ist (v.a. bei Strabo und Pausanias), erkennt man deutlich die Mechanismen:
Der Athener Androklos, Sohn des Kodros, war Anführer der Kolonisten, die sich vorwiegend aus Athenern, aber auch aus Angehörigen anderer Völkerschaften zusammensetzte. Eigentlich stammte er aus Messenien; die genealogische Verknüpfung des Androklos mit Athen stellt offenbar ein späteres Zurechtbiegen der Überlieferung zugunsten von Athen dar - eine Manipulation, durch die Athen Mutterstadt der "zwölf ionischen Städte" wurde. Man strebte also danach, die athenische Schutzmachtstellung über Ionien auch mythologisch zu untermauern.
Auch Androklos reiste zunächst zum Orakel von Delphi und ließ sich dort als Führer bestätigen. Ebenso bekam er die Richtung seines Zuges vorgegeben - wo Fisch und Eber aufeinandertreffen, sollte er die neue Stadt gründen.
Als Führer des Auswanderungszuges und zugleich Heerführer - er vertrieb Teile der autochthonen Bevölkerung - landete er schließlich mit seinen Kolonisten im Tal des Flusses Kaystros, wo sich das Orakel erfüllte und sie einen Platz, der den Namen Koressos tragen sollte, besiedelten. Nach seinem Tod wurde ihm kultische Verehrung zuteil, die ihm als Gründer zustand - er wurde als Heros verherrlicht, dem sogar ein eigener Tag im Festkalender vorgesehen war. Sein Kult geriet jedoch mit der Zeit in Vergessenheit.

Abb. 2: Darstellung des Androklos aus dem Nymphaeum Traiani (Anfang 2. Jh. n.Chr.) (Museum Selçuk, Photo: ÖAI)

Abb. 3: Darstellung des Androklos aus dem Vediusgymnasium (Mitte 2. Jh. n.Chr.) (Museum Izmir, Photo: ÖAI)

Am Ende des 2. Jhs. v.Chr. erinnerte man sich wahrscheinlich wieder seiner, indem man ihm ein Heroon am Embolos erbaute. Im 2. Jh. n.Chr. kam es schließlich zu einer neuen Blüte des Androkloskultes und zur Idealisierung der Gründungslegende. Die Gründe dafür scheinen zum einen das Panhellenion Hadrians gewesen zu sein, zum anderen der Besuch des Antinoos in Ephesos: Man wollte somit den eigenen Gründer mit dem reichsweit verehrten Gott identifizieren und zugleich aufwerten.
Die Manifestierung des Androkloskultes fand in zahlreichen Bildwerken seinen Niederschlag; so z.B. in den Reliefplatten des sog. Hadrianstempel (Abb. 1), in statuarischen Ausstattungsprogrammen (Abb. 2-3), im Relief des Heroon am Embolos (Abb. 4) bzw. im Fries des Parthermonumentes (Abb. 5).

Abb. 4: Heroon am Embolos, Androklos als Jäger (2. Hälfte 2. Jh. n.Chr.)
(Museum Selçuk, Photo: H. Thür)

Abb. 5: Parthermonument, Panzertorso (2. Hälfte 2. Jh. n.Chr.)
(KHM Wien, Photo: KHM)

Bibliographie (Auswahl):
E. BLUMENTHAL, Die altgriechische Siedlungskolonisation im Mittelmeerraum unter besonderer Berücksichtigung der Südküste Kleinasiens (1963); ST. KARWIESE, Groß ist die Artemis von Ephesos (1995); W. LESCHHORN, "Gründer der Stadt". Studien zu einem politisch-religiösen Phänomen der griechischen Geschichte (1984); R. LINDNER, Mythos und Identität. Studien zur Selbstdarstellung kleinasiatischer Städte in der römischen Kaiserzeit (1994); I. MALKIN, Religion and Colonization in Ancient Greece (1987); F. PRINZ, Gründungsmythen und Sagenchronologie, Zetemata 23 (1979); G.M. ROGERS, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City (1991); T.S. SCHEER, Mythische Vorväter. Zur Bedeutung griechischer Heroenmythen im Selbstverständnis kleinasiatischer Städte (1993); P. SCHERRER (Hrsg.), Ephesos. Der neue Führer (1995); M. STESKAL, Städtegründungsmythen von Kleinasien und ihre Ikonographie am Beispiel von Ephesos (ungedr. Dipl. Arbeit Wien 1997); J.H.M. STRUBBE, Gründer kleinasiatischer Städte. Fiktion und Realität, AncSoc 15-17, 1984-86, 253-304; H. THÜR, Der ephesische Ktistes Androklos und (s)ein Heroon am Embolos, ÖJh 64, 1995, 64-103; P. WEIß, Lebendiger Mythos. Gründerheroen und städtische Gründungstraditionen im griechisch-römischen Osten, WürzbJb 10, 1984, 75-126.

© M. Steskal
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