Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 98 / III / 2021

VOM TYPUS ZUR BILDCHIFFRE
Das Beispiel des Meleager

Marmorbilder waren als monumentaler Bestandteil einer reichsumspannenden Bildsprache eines der wichtigsten, identitätsstiftenden Kommunikationsmedien im Imperium Romanum. Statuen von Göttern und Heroen gehörten ebenso zum Repertoire dieser Bildsprache wie Porträtstatuen, Staats- oder Schmuckreliefs. Die systematische Weiterentwicklung dieser allgegenwärtigen Bildsprache muss als eine wesentliche Leistung der römischen Kaiserzeit gelten.
Die angestrebte Allgemeinverständlichkeit der Aussagen wurde durch den Rückgriff auf ein bewährtes Repertoire von Bildern erreicht und – ähnlich wie bei sprachlichen Formeln und Begriffen – durch häufige Wiederholung immer gleicher Bildchiffren gesichert. Unter diesem Aspekt ist die Verwendung bekannter Statuentypen in der römischen Kunst nicht als Zeichen mangelnder Kreativität zu werten; vielmehr war sie die unverzichtbare Voraussetzung für die Verständlichkeit des Mediums. Genauen Kopien bekannter Vorlagen kommt dabei eine ebenso wichtige Funktion zu wie freien Zitaten, raffinierten Abwandlungen oder Neuschöpfungen unter Verwendung bekannter Bildformeln. Syntax und Semantik dieser Bildsprache sind im Bereich der sog. Idealplastik noch kaum erforscht, da die Werke meist unter einer anderen Perspektive betrachtet werden: Während etwa die weibliche Figur auf einer Münze stets auf ihre politisch-historische Aussage hin untersucht wird, erhält der entsprechende Typus in der Rundplastik meist nur das Etikett einer "Gewandstatue nach einem Vorbild des x-ten Jhs. v.Chr.". Es ist ein dringendes Desiderat, auch die rundplastischen Bilder der Kaiserzeit durch eine semiotische Analyse dem inhaltlichen Verständnis zu erschließen.
Eine solche Herangehensweise könnte den Schlüssel für bislang ungeklärte Phänomene der Überlieferung bieten, wie etwa dem, dass einige Meisterwerke berühmter Bildhauer vielfach exakt kopiert worden sind, andere, nicht weniger berühmte, dagegen zwar ebenso häufig, aber kaum je exakt. Einen eigenen Stellenwert erhält auch die freie Tradierung von Bildvorlagen (Bildschemata) – meist der hellenistischen Epoche – die, wie z. B. die Artemis Rospigliosi, bis zum Ende der römischen Kaiserzeit in unzähligen Ausfertigungen wiederholt worden sind, ohne dass auch nur zwei davon eine replikenmäßige Übereinstimmung im strengen Sinne aufweisen. Die konsequente Auswertung statuarischer Typen sowohl in Hinblick auf die formalen Eigenheiten ihrer Wiederholungen als auch auf deren Aufstellungskontext, Funktion und Kombination in verschiedenen Bildmedien könnte den Weg zu ihrem Verständnis als konstituierende Elemente einer umfassenden Bildsprache weisen. Typus und Stil dienen dabei nicht nur als vorbildorientierte, historische Ordnungskategorien, sondern werden als semantisch konnotierte Ausdrucksmittel verstanden.
Dies soll am Beispiel des Meleager exemplarisch vorgeführt werden. Anhand seiner stilistischen Eigenheiten lässt sich der gut überlieferte Typus auf ein Vorbild des 4.Jhs. v.Chr. zurückführen, wobei die Verbindung mit einem Bildhauernamen nicht zu sichern ist. Wiederholungen dieses offenbar berühmten Vorbildes sind vom späten Hellenismus bis in die Spätantike in unterschiedlichen Bild- und Aufstellungskontexten nachzuweisen. Bereits im Hellenismus fand der Kopf – mit nachzählbarem Lockensystem – als Herrscherporträt Verwendung. Vom 1.Jh. v.Chr. bis in hadrianische Zeit dienten großformatige Statuenkopien des jugendlichen Jägers der repräsentativen Ausstattung römischer Villen. Seit dem späteren 2.Jh. n.Chr. erscheint der Typus in mythologischen Bildzusammenhängen auf Sarkophagreliefs. Verkleinerte statuarische Wiederholungen wurden noch bis ins 4.Jh. n.Chr. angefertigt.
Die Art der Rezeption, vor allem die formale Bandbreite der Wiederholungen und deren Verwendungsmöglichkeiten, weist darauf hin, dass sich der Typus im Laufe der Jahrhunderte zu einer inhaltlich aufgeladenen und vielfältig einsetzbaren Bildchiffre entwickelt hatte. Eine Rezeption als Werk eines berühmten Meisters ist hingegen nicht zu erkennen.

© Christiane Vorster
e-mail: chr.vorster@uni-bonn.de

This article should be cited like this: Ch. Vorster, Vom Typus zur Bildchiffre. Das Beispiel des Meleager, Forum Archaeologiae 98/III/2021 (http://farch.net).



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