Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 98 / III / 2021

EINFACH, ZWEIFACH, VIELFACH – ANTIKE SERIALITÄT UND MODERNE KOPIENKRITIK IM MUSEUM

Der Statuentypus des sich anlehnenden Satyrn des Praxiteles ist unter anderem in der Münchner Glyptothek in zweifacher Ausführung vorhanden. Die beiden römischen Repliken Inv. Gl 228 und Inv. Gl 229 wurden seit 1830 bis heute zusammen ausgestellt und im räumlichen Nebeneinander dem Publikum quasi als Einheit präsentiert. Anhand der beiden Exemplare in der Glyptothek sowie deren Sammlungs-, Forschungs- und Präsentationsgeschichte kann exemplarisch nachvollzogen werden, wie sich dieser Statuentypus besonders gut dazu eignet(e), das Phänomen der Serialität und Repetition in der Antike sowie das wissenschaftliche Instrumentarium der Kopienkritik und des vergleichenden Sehens im Museum zu visualisieren und Besuchern näherzubringen. Ein Augenmerk wird dabei auf die vom 19. Jahrhundert bis heute weitgehend nonverbale Kommunikation in der Glyptothek – aber auch in anderen Museen – gelegt und kritisch hinterfragt.
Vom Statuentypus des sich anlehnenden Satyrn, auch genannt der ruhende Satyr oder der angelehnte Satyr, sind rund 115 Wiederholungen aus der römischen Zeit bekannt. Das um 330 v.Chr. gefertigte bronzene Originalbildnis kann aufgrund einer Textstelle bei Plinius dem Älteren in der Naturalis Historia (XXXIV, 69) sowie stilistischen Phänomenen wohl dem berühmten griechischen Bildhauer Praxiteles, Sohn des Kephisodot, zugeschrieben werden.
Der Aufstellungsort des Originalbildnisses im antiken Griechenland ist unbekannt. Es könnte als Weihegeschenk in einem Dionysosheiligtum gestanden haben. Die Art und Weise wie Praxiteles seinen sich anlehnenden Satyr als geschmeidige Jünglingsfigur ausbildete, lässt die ursprünglich wilden Züge des Mischwesens nur noch erahnen. Diese Sublimierung des tierischen Charakters trug sicherlich auch zur außergewöhnlichen Beliebtheit des Statuentypus in römischer Zeit bei. Villenbesitzer im gesamten Römischen Reich stellten die Figur in Form von Kopien aus Marmor in ihren Häusern und Gärten auf. Auch in den öffentlichen Thermenanlagen war der Typus präsent.


Als berühmteste Replik des sich anlehnenden Satyrn gilt diejenige in den Kapitolinischen Museen in Rom (Inv. 739). Sie gelangte 1753 als Geschenk von Papst Benedikt XIV in die Sammlung und diente mehrfach als Vorlage für die Ergänzung unvollständig erhaltener Repliken. Bereits J.J. Winckelmann und E.Q. Visconti erkannten das Prinzip der Repetition dieses Statuentypus. Als im frühen 19. Jahrhundert dessen Zuschreibung an Praxiteles immer größeren Zuspruch erhielt, schenkte man ihm vermehrte Aufmerksamkeit. Prominente Kunstsammler wie der preußische König Friedrich Wilhelm III. oder der bayerische Kronprinz Ludwig kauften die Figur als Ergänzung einer bereits vorhandenen für das Alte Museum in Berlin (Inv. Sk 258 und Sk 259) oder auf einen Schlag in zweifacher Ausführung für die Glyptothek. Die beiden Münchner Exemplare des sich anlehnenden Satyrn erwarb der bayerische Unterhändler Martin von Wagner 1811–1812 in Rom. Zunächst kaufte der die mit einem nicht zugehörigen Kopf versehene Figur Inv. Gl 229 aus dem Palazzo Ruspoli. Im Jahr darauf erwarb er aus derselben Sammlung die besser erhaltene Figur Gl 228. In München ebenso wie in Berlin werden die beiden Paare des sich anlehnenden Satyrn von 1830 bis heute unter inhaltlichen ebenso wie architektonischen Gesichtspunkten bewusst als Pendants präsentiert.
In meinem Beitrag gehe ich der Motivation der einstigen Sammler und ihren wissenschaftlichen Beratern sowie ihren Architekten nach. Was veranlasste sie, eine antike Statue in zweifacher Ausführung anzukaufen und auszustellen? Welche Strategien lagen der jeweiligen Erstpräsentation in München, in Berlin und an anderen Orten zugrunde? Welche Akzente legten die nachfolgenden Museumsdirektoren? Welche inhaltlichen Aspekte sollten über die Aufstellung hervorgehoben und dem Publikum gegenüber transportiert werden? Wie erfolgte die Besucherkommunikation hinsichtlich der komplexen Themenstellungen der römischen Serialität und Repetition sowie des wissenschaftlichen Instrumentariums der Kopienkritik und des vergleichenden Sehens? Welche Leerstellen hinterließ bzw. hinterlässt die jeweilige Präsentation; sprich welche besonders für Laien interessanten Themenkomplexe (Provenienz, ursprünglicher Aufstellungskontext, Restaurierungsgeschichte, etc.) werden bewusst auch ausgeklammert und weshalb?

© Astrid Fendt
e-mail: fendt@antike-am-koenigsplatz.mwn.de

This article should be cited like this: A. Fendt, Einfach, zweifach, vielfach – antike Serialität und moderne Kopienkritik im Museum, Forum Archaeologiae 98/III/2021 (http://farch.net).



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