Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 98 / III / 2021

TYPOLOGIE: DIE BESTIMMUNG DES BESONDEREN

Typus ist ein Schlüsselbegriff der Geisteswissenschaften, doch wird der Terminus in den verschiedenen Disziplinen und selbst innerhalb der Archäologie unterschiedlich verwendet. In der Forschung zur römischen Keramik ist mit „Typus“ in der Regel eine distinkte Gefäßform bezeichnet; bei Fibeln erfolgt die Zuordnung aufgrund konstruktiver Merkmale. Oscar Montelius hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine „Typologische Methode“ vorgestellt, mit der sich die Entwicklung und Ausdifferenzierung großer Gattungen archäologischer Funde wie etwa der Fibeln oder Beile untersuchen lassen. Der Begriff „Typus“ wird in dem Buch zwar an keiner Stelle definiert; gemeint ist aber, dass Objekte gleicher Funktion von einer gemeinsamen Grundform ausgehend Elemente ausbilden können, durch die sie unterscheidbar werden. Der Typus wäre demnach die Grundform mehrerer oder vieler Objekte, die einer gesetzmäßig fortschreitenden und unumkehrbaren Ausdifferenzierung unterliegt. Er beschreibt sowohl die Gemeinsamkeiten der vielen Exemplare wie auch ihre schrittweise Aufteilung in kleinere Einheiten mit jeweils spezifischen Merkmalen und endlich in Einzelstücke.
Den Antiquaren des 16. Jahrhunderts war aufgefallen, das mehrere Skulpturen, etwa Bildnisse des „Seneca“, auf einen archetypus zurückgingen, also auf eine gemeinsame Vorlage. Diese Beobachtung wiederholte sich im Folgenden immer wieder, so dass Statuentypus und Porträttypus zu zentralen Begriffen der Skulpturenforschung geworden sind. Auf diesem Gebiet bezeichnen sie, dem griechischen Wort ὁ τύπος folgend, die durch eine bestimmbare Vorlage geprägte Form, die sich in der Gesamtheit der Wiederholungen nach einem gemeinsamen Entwurf finden lässt.
Grundlage jeder typologischen Untersuchung ist der systematische Vergleich als Verfahren zur Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, durch die sich die einzelnen Artefakte einerseits in Gruppen zusammenschließen und andererseits aufteilen lassen. Dabei werden offensichtliche Differenzen benannt, nach denen eine systematische Gliederung des Materials vorgenommen und verfeinert werden kann. So lassen sich zum einen die Formen der Grundform bzw. der gemeinsamen Vorlage, auf der anderen Seite, die durch Zeitstil und handwerkliche Fertigkeit der Kopisten bewirkten Eigenheiten der einzelnen Exemplare fassen. Die Gewichtung der Merkmale liegt im Ermessen dessen, der die Untersuchung vornimmt: Gemeinsamkeiten mögen als so bedeutend eingeschätzt werden, dass sie einen Typus konstituieren; Unterschiede können für belanglos gehalten werden oder für so gewichtig, dass sie eine typologische Abtrennung oder Unterteilung erfordern. Das Verfahren folgt einer ähnlichen Logik wie der Wissensbaum des spätantiken Philosophen Porphyrios (arbor Porphyriana; Abb.), bei dem durch eine Abfolge grundsätzlicher Unterscheidungen das Besondere und das Individuelle ermittelt wird.
Die typologische Betrachtung des antiken Porträts strebt, anders als die von Montelius postulierte „Typologische Methode“, nicht die umfassende und systematische Gliederung des gesamten Materials als Ausdruck einer gesetzmäßigen Entwicklung an. So kann nicht von einer konsequenten, gleichsam gesetzmäßigen Entwicklung ausgegangen werden, denn es zeigt sich, dass es immer wieder bewusste Neukonzeptionen gab, die ihrerseits wieder stilbildend wurden. Sie waren nicht absehbar, sondern willkürlich, auch wenn die Prozesse, die sie auslösten, manchmal ähnlich verliefen. Aber der Begriff des Typus bietet die Möglichkeit, das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen zu untersuchen, also die einzelnen erhaltenen Skulpturen in ihrer Abhängigkeit von der formalen Vorlage, aber auch in ihren Übereinstimmungen und Differenzen untereinander darzustellen.

© Dietrich Boschung
e-mail: dietrich.boschung@uni-koeln.de

This article should be cited like this: D. Boschung, Typologie: Die Bestimmung des Besonderen, Forum Archaeologiae 98/III/2021 (http://farch.net).



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