Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 94 / III / 2020

ZUR „GÖTTIN MIT KYLIX“ IN DER ÄGÄISCHEN SPÄTBRONZEZEIT

In den 1980er Jahren hat Klaus Kilian eine SH III C-zeitliche Amphora aus Tiryns vorgelegt, die auf der fragmentierten Henkelzone Streitwägen mit galoppierenden Pferden zeigt. Den Ausgangspunkt dieser Darstellung bildet eine sitzende Figur, die mit ihrer rechten Hand eine hochfüßige Kylix mit Ringhenkeln in die Höhe hält (Abb. 1a). Seit ihrer Erstpublikation ist diese Figur aufgrund des abgebildeten Sitzmöbels mit hoher Rückenlehne (d.h. eines Thrones) zumeist als Gottheit angesprochen worden. Da sich in der spätbronzezeitlichen ägäischen Bilderwelt unter den auf Thronen Sitzenden keine Männer zu erkennen geben, wird man trotz fehlender Angabe geschlechtsspezifischer Merkmale an eine Göttin denken dürfen. Eine vergleichbare dreidimensionale Darstellung lässt sich in einem SH III B-zeitlichen Terrakottafragment aus dem Bereich des Amyklaions bei Sparta vermuten, das eine teilweise mit Firnis überzogene Hand zeigt, die den Fuß einer niedrigen Kylix umfasst. Dieses Fragment ist aufgrund seiner Größe und der Qualität seiner Anfertigung als Rest eines halblebensgroßen Kultbildes gedeutet worden (Abb. 1b). Trotz des fragmentarischen Erhaltungszustandes und der unterschiedlichen Art des Mediums sind die Parallelen zum Vasenbild offensichtlich.

Das Emporhalten einer Kylix findet sich auch auf Bildfeldern zweier Tonsarkophage (Larnakes) aus Tanagra in Böotien bzw. aus Episkopi auf Kreta. Da diese Geste in einen Zusammenhang mit einer Klagefrau bzw. mit einer Überfahrt in das Jenseits (?) eingebettet ist, hat sich Kilian vorsichtig dafür ausgesprochen, in der Sitzenden (Abb. 1a) eine Kylix-haltende Göttin aus dem Bereich des Totenkults zu erkennen.
Allerdings finden sich Kylikes auch in eindeutig nicht-sepulkralen Szenen wie ihr Auftreten neben auf Hinterbeinen stehenden Wildschweinen (bzw. als Wildschweine maskierten ‚Tänzern‘) auf einem SH III A2-zeitlichen Rhyton aus Rhodos beweist. Eine konkrete Deutung lässt ein Freskofragment aus Theben zu, das, sofern der erhaltene untere Gefäßteil tatsächlich zu einer Kylix zu ergänzen ist, diese Gefäße dem Kreis jener Kultgegenstände zuweist, die bei Prozessionen mitgeführt und Gottheiten dargebracht worden sind. Eine vergleichbare Deutung bietet sich für die Darstellung auf einem SH III C-zeitlichen Krater aus Lefkandi an, die eine zweihenkelige Kylix in einem Krater wiedergibt, der vor einer thronenden Figur abgestellt ist.
Die Kombination von Kylix und Krater – Trinkgefäß und Mischgefäß – lässt sich thematisch mit der bekanntesten Darstellung einer Kylix innerhalb der ägäischen Bilderwelt verbinden: auf dem Campstool-Fresko aus Knossos wird eine Kylix im Rahmen einer Trinkzeremonie zwischen zwei Männern gereicht. Diese Darstellung macht deutlich, dass sich die Kylix als prestigebeladenes Symbol für rituelle Trinkzeremonien eignet, deren wichtige Rolle für die Legitimation mykenischer Eliten durch die Deponierung von Trinkgefäßen aus Edelmetall in Gräbern seit der Schachtgräberzeit belegt ist. Für die mykenische Palastzeit stellt die Kylix das Trinkgefäß par excellence dar, die als tönerne Massenware weit verbreitet war, aber als Edelmetallgefäß ein Prestigeobjekt darstellte. Neben ihrer Funktion als Trinkgefäß hat die Kylix wohl auch für Libationen gedient, wie insbesondere Miniaturversionen nahelegen, für die eine praktische Funktion ausgeschlossen werden kann.
Somit bietet sich für die Figur der Abbildungen eine Deutung als Gottheit an, die im Zentrum einer Trinkzeremonie bzw. eines Libationsrituals zu denken ist. Als festes Attribut einer bestimmten Gottheit scheint die Kylix allerdings nicht gedient zu haben. Dies legt neben der Tatsache, dass in der Ägäis Gottheiten grundsätzlich ohne feste Attribute dargestellt worden sind, die Linear B-Tafel Tn 316 aus Pylos nahe, die Goldkylikes als Votivgaben für unterschiedliche Gottheiten verzeichnet.

© Jörg Weilhartner
e-mail: joerg.weilhartner@sbg.ac.at

This article should be cited like this: J. Weilhartner, Zur „Göttin mit Kylix“ in der ägäischen Spätbronzezeit, Forum Archaeologiae 94/III/2020 (http://farch.net).



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